Literatur, Roman

Radikale Liebe

© Thomas Hummitzsch

Wie dem gesellschaftlichen Rechtsruck begegnen? Isabel Waidner und Pol Guasch finden in ihren hochpoetischen und queeren Romanen Antworten abseits des Mainstreams.

Sterling Beckenbauer steht in der familiären Linie des berühmten Fussballers Franz Beckenbauer und lebt als queere Person in einem an Rechtspopulisten verlorenen London. Dort wird er auf offener Straße überfallen, setzt sich zur Wehr und landet schließlich im Gefängnis. Gemeinsam mit Verbündeten macht er von dort mobil gegen das staatliche Regime und verteidigt mit Haut und Haaren queere Existenzen.

Isabel Waidners Roman »Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken« ist ein revolutionärer Akt des Widerstands, der sich mit UFOs, Einhörnern und GoogleEarth-Zeitreisen sowohl einer linearen Erzählung als auch einer sprachlichen Eindeutigkeit entzieht. Die Auseinandersetzung mit den autoritären Kräften in dieser seltsamen Parallelwelt wird in die Metapher des Stierkampfs übertragen, weil es auch dort um Leben und Tod geht.

Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken. Aus dem Englischen übersetzt von Ann Cotten. Dumont Verlag 2024. 192 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen https://www.dumont-buchverlag.de/buch/isabel-waidner-vielleicht-ging-es-immer-darum-dass-wir-feuer-spucken-9783755810070-t-5921
Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken. Aus dem Englischen übersetzt von Ann Cotten. Dumont Verlag 2024. 192 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Isabel Waidner wurde 2021 für ihren ungewöhnlichen Roman 2021 mit dem Goldsmiths Prize ausgezeichnet. Der mit 10.000 Pfund dotierte Preis würdigt kreativen Wagemut und zeichnet Bücher aus, in denen Autor:innen neue Wege gehen. »Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken« stand 2022 außerdem auf der Shortlist für den Orwell Prize for Political Fiction 2022 und den Republic of Consciousness Prize. Bereits ihr Romandebüt »Geile Deko« war in Großbritannien für mehrere Preise nominiert, die deutsche Übersetzung von Ann Cotten wurde 2020 mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Es sei, »eine blitzende und flirrende Attacke auf alle Synapsen«, hieß es damals in der Begründung, und zeige, »wie politisch der Genuss am Sprachspiel ist«. Ann Cottens Übersetzung wurde für die »wagemutigen Wortfindungen« gelobt.

Ann Cotten hat nun auch Waidners erfolgreichsten Roman übersetzt und zwar spektakulär gut. Angesichts der Verwendung des genderneutralen Pronomens »they« im englischen Original für einen Großteil der Figuren ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Denn während diese syntaktische Eigenheit im Original keine Folgen für vor- und nachgeordnete Strukturen hat, ist dies im Deutschen anders. Cotten hat sich für die unkonventionelle Verwendung des »polnischen Genderings« entschieden, bei der alle für Gender benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende gesetzt werden. Die genderneutrale Form von »Seiner/Ihrer« wird zu »seihrner«, »er/sie« wird zu »sier«, Reporter/-in zu »Reporterni«.

Isabel Waidner: Geile Deko. Aus dem Englischen von Ann Cotten. Merve Verlag 2019. 136 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen https://www.merve.de/index.php/book/show/527
Isabel Waidner: Geile Deko. Aus dem Englischen von Ann Cotten. Merve Verlag 2019. 136 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen.

So kompliziert das im ersten Moment klingt, so leichtfüßig lies sich das nach ein paar Seiten im Roman, wenn dier Ich-Erzählnier über die berittenen Sicherheitskräfte der konservativen Regierung spricht: »Unbeirrt überquert sier die Straße in Richtung des Horizonts von Delancey. Seihrne Augen fallen auf den Matador, sier hebt leicht die Lanze. Nimmt sier es mit ihm auf? Im Ernst? Ich sehe seihrn Milliarden-Watt-Lächeln nicht, aber ich weiß, dass es dort ist.«

Diese spielerische Verwendung des Genderns erschüttert mitreißend sicher geglaubte Gewissheiten, gibt der Erzählung einen ganz eigenen Sound und passt kongenial zu diesem eigenwillig-dystopischen Roman.

Ähnliches gilt für Pol Guaschs surreal anmutenden Debütroman »Napalm im Herzen«. Der queere Ich-Erzähler lebt mit seiner Mutter in einem dystopischen Niemandsland und zählt die Tage nach einer nicht näher beschriebenen verheerenden Katastrophe. Ihre Heimat wird zu einer militarisierten Zone und der Ich-Erzähler zählt die Tage, die seit dem Vorfall ins Land gegangen sind. Vor die Tür kann er nicht, denn dort stellen nicht nur die kontaminierte Umfeld eine Gefahr dar, sondern auch die Schergen der totalitären Machthaber.

In kurzen Kapiteln beschreibt Guaschs Hauptfigur die Situation, in der er sich befindet. Parallel schreibt er Briefe an seine große Liebe Boris, in denen er erklärt, was in ihm und um ihn herum vor sich geht. Heimlich treffen sie sich an einem Ort, den sie »Rattenzimmer« nennen, der irgendwo auf der Schwelle zwischen Wirklichkeit und Fantasie verortet ist. Nur an diesem Sehnsuchtsort verfügen sowohl ihre Liebe als auch ihre Sprache über eine Existenzberechtigung.

Pol Guasch: Napalm im Herzen. Aus dem Katalanischen übersetzt von Kirsten Brandt. Wallstein Verlag 2024. 270 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen https://www.wallstein-verlag.de/9783835356955-napalm-im-herzen.html
Pol Guasch: Napalm im Herzen. Aus dem Katalanischen übersetzt von Kirsten Brandt. Wallstein Verlag 2024. 270 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Bald beschließen sie, die von Angst und Gewalt kontaminierte Region in einer Nacht-und-Nebel-Aktion heimlich zu verlassen. Im Kofferraum haben sie eine Leiche, von der sich der Ich-Erzähler nicht trennen kann. »Napalm im Herzen« ist ein sprach- und bildgewaltiger Mix aus Dystopie und Abenteuerroman, queerer Lovestory und flirrender Roadnovel.

Guaschs poetischer Roman hat in der deutschen Version einen ganz eigenen, betörenden Sound, der sowohl den prosaischen als auch den lyrischen Passagen gerecht wird. Die ebenso schnörkellose wie poetische Übersetzung von Kirsten Brandt nimmt die bedrohliche Atmosphäre des Originals auf und hält sie zugleich in der Schwebe. Souverän wechselt Brandt die Register zwischen der surrealen Erzählung und dem zärtlichen Briefwechsel der beiden Liebenden. Das Magazin für übersetzte Literatur Tralalit wies zudem auf intertextuelle Verweise und Zitate aus anderen Werken hin, die in die meisterhafte Übersetzung eingeflossen sind.

Isabel Waidner und Pol Guasch haben zwei höchst unterschiedliche Dystopien vorgelegt. Wo Waidners radikale Sprache am ehesten an Senthuran Varatharajah erinnert, klingt in Guaschs Prosa die Zärtlichkeit von Ocean Vuong an. Was beide Romane leisten: sie greifen hochaktuelle Fragen auf. Totalitarismus, Faschismus, Militarisierung, Verfolgung und Vertreibung sowie der Widerstand gegen diese stehen im Mittelpunkt dieser beiden ungewöhnliche Romane, die eine aufregende Lektüre abseits queerer Klischees versprechen.