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Im Hier und Jetzt

Jordan Kristine Seamón und Jack Dylan Grazer in »We are who we are« von Luca Guadagnino | © HBO

Luca Guadagninos Miniserie »We Are Who We Are« ist zweifellos eines der Frühjahrshighlights der Streamingsaison 2021. Die Miniserie erzählt davon, wie zwei Teenager auf einer US-Militärbasis das Leben entdecken. Wer noch nicht genug Lockdown hat, findet unter anderem in der Neuverfilmung von Stephen Kings »The Stand« unbehagliche Vertiefung.

Man kann sich für Fraser kaum einen Ort unpassender vorstellen als ein Militärcamp. Der blond gelockte Teenager trägt flauschige Leopardenshorts und weite Shirts, lackiert sich die Nägel und liest Gedichte von Ocean Vuong, im Ohr die neueste, politisch bewegte Musik. Weil aber seine Mutter Sarah im Sommer 2016 (mitten in der ersten Trump-Kampagne) die Führung des US-Militärcamps südlich von Venedig übernimmt, findet sich der in New York mit zwei Müttern aufgewachsene Teenager zwischen Drill-Instrukteuren unter der italienischen Sonne wieder. Dort angekommen irrlichtert der verträumte Lockenkopf durch das Camp, schleicht sich in die Highschool der Militärbasis und beobachtet seine künftigen Mitschüler. Dabei entdeckt er das erste Mal Caitlin, deren geheimnisvoller Blick ihn magisch anzieht und nicht mehr loslässt. Heimlich macht er ein Foto von ihr.

Zunächst ist es aber Caitlins Freundin Britney, mit der er es zu tun bekommt. Sie führt ihn über den Stützpunkt, zeigt ihm die Schule, Supermarkt und Sportplatz. Ihre Eltern haben sie bislang von Deutschland nach Südkorea und Italien geschleppt, in den USA war sie noch nie. Caitlin ist ein Camp-Kind, blind kennt sie sich in den stets gleich gestalteten Militärlagern aus. Im Supermarkt erklärt sie knapp: »Supermärkte auf Militärbasen sind überall gleich. Die Gänge, das Angebot, all das ist genau am selben Fleck. Damit wir uns nicht verloren fühlen.«

Verloren fühlen ist das, was das Teenagersein wohl auf den Punkt bringt. Wenn es dann nicht einmal so etwas wie ein Zuhause gibt oder Heimat nur ein hybrider, austauschbarer Ort ist, dann kippt dieses Dasein in die Extreme. Das ist im Fall von Luca Guadagninos Miniserie, die im Amazon-Prime-Kanal Starzplay läuft, umso mehr der Fall. Das Leben der Teenager verläuft hier in vielfacher Hinsicht »on the edge«. Einerseits ist da die allgegenwärtige Gehorsamskultur, die nicht nur das Militär, sondern auch die Familien durchzieht, andererseits die völlige Vogelfreiheit, die sich aus der Immunität und der Rundumversorgung der Familien ergibt. Zwischen diesen beiden Extremen pendeln die Heranwachsenden in dieser Welt, aus der sie immer wieder ausbrechen und exzessiv ihre Freiheit suchen. Wenn man das beobachtet, bekommt man eine Ahnung davon, was es aktuell für die Heranwachsenden heißt, aller Freiheiten beraubt zu sein.

Wie schon in seiner oscarnominierten Literaturverfilmung »Call My By Your Name« und seiner Neuverfilmung des Horrorklassikers »Suspiria« geht der italienische Regisseur nah an seine Figuren heran. Im Laufe der vierteiligen Serie rücken Fraser und Caitlin immer mehr in den Mittelpunkt der Erzählung. Beide wirken fremd an diesem Ort und entziehen sich in jeglichen Belangen der militärischen Ordnung. Fraser scheint eine Art Türöffner für Caitlin zu sein, die, je mehr Zeit sie mit dem queeren Traumtänzer verbringt, den Mut findet, die Welt wie er mit eigenen Augen zu sehen.

Auf dem Weg zu sich selbst müssen sich beide gegen Eltern behaupten, die, wenngleich völlig unterschiedlich, klare Vorstellungen vom Leben haben. Während Caitlins Eltern Halt im Altbewährten finden, leben Frasers Mütter eine Art darwinistisches Prinzip vor.
Jack Dylan Grazer spielt Fraser in einer flirrenden Non-Chalance, die der Schwere- aber auch der Haltlosigkeit seiner Figur Gestalt gibt. An seiner Seite beeindruckt Jordan Kristine Seamón, die ihre Figur in tastender Ungewissheit auf die Suche nach ihrer Identität gehen lässt. Scorcese-Tochter Francesca (als Britney), Scott Mescudi alias Rapper Kid Xudi (als Caitlins Bruder Richard), »Synonym«-Hauptdarsteller Tom Mercier (als queerer Soldat Jonathan Kritchevsky) und Oscar-Kandidatin Chloë Sevigny (als Colonel Sarah Wilson) gehören zu den weiteren Höhepunkten in diesem gelungenen Cast. Diese ganz der Gegenwart einiger Heranwachsender gewidmete Miniserie zeigt, dass Teenager in einer ganz eigenen Welt leben. Sie gehört zweifellos zu den Frühjahrshighlights der Streamingsaison 2021.


Wem das nicht gegenwärtig genug ist, der kann die persönliche Klaustrophobie mit den Miniserien »The Stand« und »The Head« befördern. Letztere spiegelt voll und ganz das Gefühl persönlicher Isolation, indem sie davon erzählt, wie ein kleines Team nach der Winterpause eine wissenschaftliche Station am Südpol wieder übernehmen soll. Als sie dort ankommen, ist die Winterbesatzung aber spurlos verschwunden. Nach und nach taucht eine Leiche nach der anderen auf, zwei Überlebende versuchen, sich an das Geschehen zu erinnern. Was ist hier passiert und wer kann wem noch trauen? Und was hat Maggie, die Frau von Missionschef Johan, mit all dem zu tun? In Rückblicken rekonstruiert David Pastors sechsteilige Serie »The Head« die Geschehnisse und fördert ein dunkles Geheimnis zutage.

Um dunkle Geheimnisse geht es auch in der Verfilmung von Stephen Kings frühem Meisterwerk »Das letzte Gefecht«, die man als Serie zur Pandemie bezeichnen könnte. In »The Stand« bricht ein in einem geheimen Militärlabor entwickeltes Grippevirus aus und rafft fast die gesamte Menschheit dahin. Nur wenige entwickeln eine Resistenz gegen den höchst aggressiven Keim und schlagen sich durch eine postapokalyptische Welt. Wenn auch so gut wie nichts aus der alten Welt überlebt hat, die Dichotomie von Gut und Böse bleibt in den Köpfen der Überlebenden bestehen. Die einen zieht es in ihren Träumen zu Abigail Freemantle, einer Art Harriet Jacobs der neuen Zeit, die ihre Gemeinde im ländlichen Nebraska versammelt hat, die anderen zu Randall Flagg, einem machthungrigen Spieler, der sich mit seinen Gewalt und Hedonismus vereinenden Jüngern in Las Vegas niedergelassen hat.

Texter Roberto Aguirre-Sacasa und Zeichner Mike Perkins haben unter der künstlerischen Leitung von Stephen King persönlich dessen frühes Meisterwerk »Das letzte Gefecht« in eine düstere, schnell geschnittene, visuell spektakuläre Comic-Erzählung verwandelt, der vom Untergang der alten Zivilisation und der Chance auf eine bessere Welt erzählt. In sechs Bögen folgt die ursprünglich in 31 Einzelheften zwischen 2009 und 2013 erschienene Serie dem ungekürzten Roman. Das Comicwerk liegt nun erstmals gesammelt in drei Hardcover-Sammelalben vor. Die Abbildung zeigt Band 1 (Panini Verlag 2020. 300 Seiten. 39,00 Euro), der die Teile »Captain Trips« und »Ein amerikanischer Albtraum« versammelt.

Benjamin Cavells neunteilige Verfilmung kann weder mit der literarischen Vorlage, noch mit der Filmadaption von Mick Garris aus dem Jahr 1994 und auch nicht mit dem Comic vom Roberto Aguirre-Sacasa und Mike Perkins (siehe Box) mithalten, auch weil er sich nicht zwischen Sozialdrama, Dystopie und Horrorfilm entscheiden kann. Seine Miniserie pendelt zwischen den Genres und ist in keinem so richtig zuhause. Dennoch unterhält »The Stand« in diesen Tagen, weil Stephen Kings Szenario in Corona-Zeiten einfach unter die Haut geht und die Umsetzung einiger Figuren, allen voran Alexander Skarsgård als Bösewicht Randall Flag, Owen Teague als Kippfigur Harold Lauder, Brad William Henke als minderbemittelter Tom Cullen, John Adepo als Fels in der Brandung Larry Underwood und Whoopi Goldberg als Mutter Abigail, durchaus gelungen ist.

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