Literatur, Roman

Lieder voller Liebe und Schmerz

Honorée Fanonne Jeffers erzählt die amerikanische (Gründungs)Geschichte aus der Perspektive afro-indigener Menschen. In ihrem fulminanten Debüt erfindet die amerikanische Lyrikerin die Great American Novel neu.

Es sind die Sieger, die Geschichte schreiben, nicht die Opfer, heißt es oft. Die 55-jährige amerikanische Lyrikerin Honorée Fanonne Jeffers interessiert das entweder nicht, oder sie erzählt gerade deshalb die Geschichte der USA aus der Perspektive von afro-indigenen Menschen. Ihr fast 1.000 Seiten umfassender Roman hat daher in jeglichem Sinne eine große Tragweite. Seine Erzählung trägt durch Jahrhunderte, führt vom Süden in den Norden und wieder zurück, lässt Amerikas unterdrückte, versklavte und ermordete Völker, Gemeinschaften und Communities sprechen und gibt ihren Geschichten einen Raum.

Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist der fiktive Ort Chicasetta im Süden der USA. Gegründet auf dem Boden einer Baumwoll-Plantage, die weiße Einwanderer mit dem vergossenen Blut afrikanischer Sklaven auf dem geraubten Land amerikanischer Ureinwohner errichtet haben. Der Ort ist der Kleinstadt Eatonton in Georgia nachempfunden, wo die Großeltern der Autorin gelebt haben.

»Wenn wir über Geschichte sprechen, sprechen wir über das Leben von Menschen«, erklärt Dr. Jason Hargrace seiner Nichte Ailey Garfield, die Geschichte studiert und in der dunklen Vergangenheit der Vereinigten Staaten stochert. Die Aussage bringt so einfach wie möglich auf den Punkt, was Honorée Fanonne Jeffers in ihrem literarischen Solitär eigentlich so vorzüglich macht: sie erzählt nicht einfach Geschichte und Geschichten, sondern spricht über das Leben von Menschen.

Honorée Fanonne Jeffers: Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder. Piper 2022, 992 Seiten. 28,00 Euro. Hier bestellen.

Es sind mehrere Dutzend Menschenleben, in die man dafür eintaucht – mal nur für einige Absätze, dann wieder über hunderte Seiten hinweg. Erzählt wird einerseits die Geschichte der Garfields, einer recht hellhäutigen Schwarzen amerikanischen Familie, die im Norden der USA lebt, ihre amerikanischen Wurzeln aber in Chicasetta hat. Im Zentrum steht die jüngste Tochter Ailey Pearl, in deren Haut »Rot unter dem Braun« schimmert und die sich selbst als »Gefäß voller Geheimnisse« beschreibt und auf der die Erwartungen ihrer Familie ruhen. Als Ich-Erzählerin lässt sie uns teilhaben an ihrem Werdegang und den Intimitäten, die sie für sich behalten soll.

Die Erzählung um Ailey Garfield liest sich wie ein klassischer Bildungs- und Emanzipationsroman. Wir erfahren von Aileys dunkelsten Kindheitserinnerungen, erleben ihr Aufwachsen in der Black Community – Ausrufe im Black Vernacular wie »Hey brethren! Hey sistren!« schallen immer wieder durch den Roman –, werden Zeuge der Selbstermächtigung der Frauen in Aileys Ahnenlinie und verfolgen deren generationsübergreifenden Kampf gegen Rassismus und Klassizismus. Dabei gibt es immer wieder Rückschläge, nicht alle stehen wieder auf. Ailey aber wird an einem Schwarzen College in die Fußstapfen ihres geliebten Urgroßonkels Root alias Dr. Hargrace treten, der dort als Lehrer über W.E.B. Du Bois und dessen Engagement für die Schwarzen in den USA doziert. Die junge Frau wird kritischer nachfragen als ihr Vorfahre und tiefer in die Geschichte eintauchen, um Licht in die finstren Höhlen von Vergessen und Verdrängung zu tragen.

Diese Rahmenerzählung einer Familie im 20. Jahrhundert (die in Teilen an Regina Porters Roman »Die Reisenden« erinnert) wird immer wieder von den »Songs« unterbrochen, die von einem – nur zeitlich fernen – Ort handeln, der einst »Der-Ort-zwischen-den-hohen-Bäumen« oder »Wood Place« hieß, in der Gegenwart den Namen Chicasetta trägt. Hier taucht der Roman in die Gründungszeit der USA ab und erzählt davon, wie afro-indigene Frauen unter Männern wie Samuel Pinchard und dessen Nachkommen gelitten haben. Pinchard war einer der skrupellosen Europäer, der sich gewaltsam nahm, was er wollte: den Cherokee und Creek das Land, den Wolof und Yoruba die Freiheit und allen gemeinsam die Menschlichkeit. Vor allem auf junge Mädchen hatte er es abgesehen – das »linke Haus« neben dem Wohnsitz des Sklaventreibers wird zum Herz der Finsternis in dieser dunklen Welt.

»Sie, die im Finstern wandelten, sangen Lieder in den alten Zeiten – Klagelieder –, denn sie waren müde im Herzen«, schrieb Du Bois in seiner Studie »Die Seele der Schwarzen«. Mit den Songs legt man das Ohr auf die Schiene der Geschichte und lauscht den Ahnen, die die Wunden der Vergangenheit besingen. Diese Songs ziehen sich durch die Geschichte der Familie Garfield und werden am Ende viel enger mit ihr verwoben sein, als man es anfangs ahnt.

Klassiker der Black American Literature

Mit »Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois« legte Jeffers im vergangenen Jahr mal eben mit Mitte Fünfzig ihr Romandebüt vor. Dabei ist sie keine Newcomerin, erst im Jahr zuvor war sie mit ihrer lyrisch-biografischen Nachzeichnung »The Age of Phillis« für den National Book Award in der Kategorie Poesie nominiert. In Gesprächen räumte die mehrfach ausgezeichnete Lyrikerin ein, dass sie einen langen Anlauf genommen habe. Über fünfundzwanzig Jahre lang habe sie Geschichten von Menschen aus Chicasetta in Notizbüchern festgehalten. Als eine dieser Erzählungen bei einem nationalen Kurzgeschichten-Wettbewerb in die Top-10-Auswahl kam, beschloss sie, daraus einen Roman zu machen.

Elf Jahre hat sie an dem Text gearbeitet, bis er in den Buchläden lag. Die Entscheidung, welche Figuren und Geschichten es letztlich in den Roman schaffen, sei nicht leicht gewesen. Aber offensichtlich hat sie die richtigen getroffen, denn kaum erschienen, ging der Roman durch die Decke. Er war für die bedeutendsten US-amerikanischen Literaturpreise nominiert und erhielt Lobeshymnen von Alice Walker, Oprah Winfrey und Barack Obama.

Den Kapiteln sind Zitate aus den soziologischen Texten von W.E.B. du Bois vorangestellt, die diese fiktive Geschichte in der Wirklichkeit verankern. Ein Geniestreich, der den Roman auf die wichtigsten Bestenlisten des Landes katapultiert. Wer einmal in den Sog dieses Buchs geraten ist, kann das verstehen, denn Honorée Fanonne Jeffers gelingt etwas Einmaliges: sie erzählt die Geschichte der USA aus weiblicher und dezidiert afro-indigener Perspektive. Sie gibt damit den Opfern der weißen und überwiegend männlichen Gewalt die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Mit den »Liebesliedern« hat man einen »Schwarzen feministischen Roman« in der Hand, wie man ihn so noch nicht gelesen hat.

Das allein spricht angesichts der kanonisierten Emanzipationsgeschichten von Autorinnen wie Harriet Jacobs, Zora Neale Hurston, Alice Walker oder Toni Morrison schon für sich. Jeffers geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie in der Architektur der Geschichte deren Erfahrungen aufgreift. So erinnert die afro-indigene Erzählung stark an Zora Neale Hurstons Identität, die in ihrem Essay »How It Feels To Be Colored Me« 1928 schrieb: »I am colored but I offer nothing in the way of extenuating circumstances except the fact that I am the only Negro in the United States whose grandfather on the mother’s side was not an Indian chief.«

Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Aidichie hatte 2009 in einem TED-Talk vor der »Gefahr der einzig wahren Geschichte« gewarnt und Jeffers nimmt diese Warnung ernst. In ihrem knapp 1.000 Seiten zählenden Pageturner erzählt sie viel mehr als nur die Geschichte der Ailey Pearl. Die »Gegenwartserzählung« rund um die Garfields verbindet die Erfahrungen mehrerer Generationen und fliegt dabei anspielungsreich durch die amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei bleibt der Roman nah bei seinen überwiegend weiblichen Figuren, die kollektiven Erinnerungs- und Erfahrungswelten der Schwarzen Community bilden den Hintergrund, vor dem die menschlichen Schicksale der Garfield-Linie entfaltet werden.

Da ist Onkel Root, der zu dem »talentierten Zehntel« gehört, das der Schwarze Historiker und Soziologe W.E.B. Du Bois – der auch in Saidiya Hartmans Studie zu queerem Schwarzen Leben Anfang des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt – Anfang des 20. Jahrhunderts gefördert wissen wollte, um »die Massen vor den tödlichen Einflüssen der Schlechtesten zu bewahren«. Tödlich waren vor allem die alltäglichen Lynchmorde der Weißen, die Root und seine Schwester Pearl noch erlebt haben.

Rose Collins, Aileys Großmutter, gehört zur Generation von Rose Parks und Linda Brown. Sie ist ein Kind der Rassentrennung und zahlt den blutigen Preis ihrer Abschaffung. Sie wird ihren aufsässigen Sohn Roscoe verlieren, der von einem rassistischen Wärter im Knast umgebracht wird. Roscoes Schwester Belle wird einen Schwarzen Bildungsgewinnler ehelichen, aber auch da wird lange nicht alles gut, wie die Geschichten von Ailey und ihren Schwestern zeigen. So ziehen sich auf dem jahrhundertelangen Weg aus der Sklaverei in politische Spitzenämter Dramen und Traumata durch die Generationen der afro-indigenen Amerikaner, die bis heute wirken.

Auch wenn die kollektive Erfahrung des Rassismus dabei permanent anwesend ist, macht Jeffers doch deutlich, dass das nicht alles ist. Als Schwarzer Mensch in den USA zu leben ist eine kulturelle Erfahrung, die mit Erinnerung, Tradition, Kochkunst, Kultur und Gemeinschaft zu tun hat. Einer Gemeinschaft, die oft auch durch den Magen geht, so dass Jeffers selbst mit Bezug auf Romare Beardens Gemälde »Mecklenburg Morning« von einem »Küchentisch-Epos« spricht, in dem, und hier spricht wieder der Kritiker, alles mit allem verwoben ist. All diese Aspekte fließen elegant in die Biografien und Lebenswirklichkeiten der Figuren ein und bilden – ohne vorhandene Differenzen sentimental wegzuwischen – einen gemeinsamen vitalen Erfahrungsraum.

Romare Bearden: Mecklenburg Morning, 1993

So ist der Roman politisch, ohne das vor sich herzutragen. Identitätspolitik, Intersektionalität und Postkolonialismus sind literarisch eingearbeitet. Zur Blackness der Figuren treten permanent kulturelle, geschlechtliche, klassenspezifische, politische oder historische Benachteiligungen. Die Hauttöne der Figuren reichen zudem von »schokoladenbraun« bis »pfirsichfarben« und spiegeln dabei nicht nur die Folgen der brutalen Kolonisierung Amerikas, sondern auch die lebensbejahende Vielfalt Schwarzen Lebens aus Langston Hughes Gedicht »Harlem Sweeties«.

»Have you dug the spill | Of Sugar Hill? | Cast your gims | On this sepia thrill: | Brown sugar lassie, | Caramel treat, | Honey-gold baby | Sweet enough to eat. | Peach-skinned girlie, | Coffee and cream, | Chocolate darling | Out of a dream. | Walnut tinted | Or cocoa brown, | Pomegranate-lipped | Pride of the town. | Rich cream-colored | To plum-tinted black, | Feminine sweetness | In Harlem’s no lack.«

Langston Hughes, Harlem Sweeties

Das Gedicht ist eines der Motive Schwarzer Kultur, auf die Jeffers im Roman immer wieder anspielt. Innerhalb der Schwarzen Community spiele die nuancenreiche Palette zwischen »Schwarz« und »weiß« eine ambivalente Rolle, schreiben die beiden Übersetzerinnen in ihrem erhellenden Nachwort zum Roman. »Der colorism, die Bevorzugung hellerer Haut auch durch Teile dieser Community, wird von Jeffers ebenso dargestellt wie gegenläufige Tendenzen – und wie Hughes’ Begeisterung für jede einzigartige Schönheit. Bei der Übersetzung haben wir auch für deutsche Ohren ungewohnte oder anstößige Bezeichnungen wie blassgelb (für high yellow) oder schokoladenbraun, wie hell- und dunkelhäutig möglichst wörtlich übertragen, um den Nuancen- und Erfindungsreichtum dieses Vokabelfelds abzubilden.«

Gerade weil der Roman immer wieder die Brücke zur schmerzhaften Vergangenheit der indigenen und afrikanischen Amerikaner schlägt, kann man dem Werden einer Nation in einer vollkommen neuen Konsequenz aus der Perspektive der Unterdrückten zusehen. »Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois« ist eine Offenbarung, ein gigantischer Stand-Alone im Kanon der Great American Novel, da hier erstmals die Schicksale und Traumata der indigenen, afrikanischen und europäischen Amerikaner in einen gemeinsamen Kontext gerückt und die Traumalinie von den Opfern der Gründerväter konsequent bis in die Gegenwart von #BlackLivesMatter nachgezeichnet wird.

Der Text greift dabei immer wieder den speziellen Sound des Black Vernacular mit seinen grammatikalischen und phonetischen Eigenschaften auf. Diese eigene Sprache prägt auch die zahlreichen Neu- und Wiederentdeckungen Schwarzer literarischer Klassiker von Ann Petry bis zu Gayl Jones. In der bemerkenswerten Übersetzung von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder sind Versatzstücke davon erhalten, die entlang der Vertrauenslinie den Übergang von formalen zu gemeinschaftlichen zu familiären Kontexten markieren. Die Bandbreite dieser eigenen Sprache, ihr musikalischer Sound, ihre Anlehnung an Mundarten und geflügelte Worte, lässt die Übersetzung dabei immer wieder anklingen.

Getragen wird all das vom unerschütterlichen Sprachgefühl der Lyrikerin Honorée Fanonne Jeffers und ihrer beiden Übersetzerinnen. Die Prosa hat in der deutschen Übersetzung die Leichtigkeit des Swing, die Tiefe des Blues, den Rhythmus des Jazz und den Punch des Rap. Der bestechende Rhythmus und die sprachliche Wucht dieses Textes entwickeln eine fast berauschende Wirkung. Wobei unheimlich viele Dinge ineinander greifen: Oral History und Geschichtsschreibung, kollektive Erfahrungen und das Wissen der Archive, Gefühle und Verstand, Wut, Trauer und die unbändige Kraft zu (über)leben.

Sie habe schwierige Entscheidungen treffen müssen, welchen Figuren und Geschichten sie Raum gibt und worauf sie verzichten kann. In einem Interview mit dem New Yorker Center for Fiction sagte sie, dass es zum Glück Kurzgeschichten gebe, für die sie immer wieder nach Chicasetta zurückkehren werde. Auf diese Geschichten kann man sich schon jetzt freuen. Bis dahin bietet Honorée Fanonne Jeffers fulminantes Romandebüt ausreichend Stoff zum Lesen, Denken und Neu-Justieren der Sicht auf die amerikanische Geschichte.

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