Film

Brutale Wahrheit

Die nigerianisch-amerikanische Regisseurin Chinonye Chukwu setzt in ihrem ebenso bedrückenden wie bewegenden Drama »Till – Kampf um die Wahrheit« der vergessenen Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Mamie Till Mobley ein Denkmal. Parallel zu ihrem Film ist ein mehrfach ausgezeichneter Bildband erschienen, der dem langen Schatten des Lynchmords an Emmett Till nachgeht. Auch Percival Everett greift in seinem aktuellen Roman »Die Bäume« die Ereignisse um die Ermordnung von Till Emmett auf.

Es braucht nicht viele Worte und Bilder, um zu begreifen, in was für einem Amerika Emmett Till einen brutalen Tod sterben musste. Da ist der Verkäufer, der Emmetts Mutter mit dem Satz »Wir haben auch Schuhe im Erdgeschoss« ihren Platz unten in der Gesellschaft zuweisen will. Oder Mamie Till Mobley, die Emmett mehrmals eindringlich darum bittet, im Süden besonders vorsichtig und achtsam zu sein. Und eine Zugfahrt, während der die gemischten Abteile aufgelöst und rassengetrennte Abteile geschaffen werden. Gerade einmal 15 Minuten braucht Chinonye Chukwu, um mit diesen Eindrücken ein beklemmendes Porträt der USA in den 50er Jahren zu zeichnen.

Chinonye Chukwu: Till – Kampf um die Wahrheit. Mit Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, Whoopi Goldberg, Frankie Faison. 130 Minuten. Universal Pictures.

1955 wollte der 14-jährige Emmett Till aus Chicago die Sommerferien bei seinen Cousins in Money, Mississippi verbringen. Der Junge ist aufgeweckt, neugierig und lebensfroh, seine Unbeschwertheit lässt er sich auch im Süden nicht nehmen. Damals galten in den Südstaaten andere Regeln als im Norden, die Rassentrennung und die gewaltvolle Unterdrückung der Schwarzen durch die Weißen gehörten zur Tagesordnung. Emmett weiß das, und dennoch unterläuft ihm ein fataler Fehler. Als er einer weißen Verkäuferin Komplimente macht und ihr hinterherpfeift, übertritt er eine unsichtbare Grenze. In der Nacht des 28. August zerren zwei weiße Brüder den Jungen aus der Hütte seines Onkels und bringen ihn in eine abgelegene Scheune. Drei Tage später wird die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche von Emmett Till am Ufer des Tallahatchie Rivers gefunden.

Nach dem gewaltvollen Tod von Emmett Till folgt die Handlung der trauernden Mamie Till Mobley, die nicht nur beschließt, dass die ganze Welt die Wahrheit dieses brutalen Mordes an ihrem Sohn sehen soll, sondern – mit Unterstützung der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) – gegen die Täter im Süden der USA vor Gericht zu ziehen. Ihr Mut wird neben dem von Rosa Park zum Zündfunken der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Percival Everett hat den Fall Till Emmett literarisch verarbeitet

Die Ereignisse um den Mord um Emmett Till werden bis heute kulturell verarbeitet. Der Amerikaner Percival Everett hat sie der Handlung seines für den Booker-Preis nominierten Romans »Die Bäume« zugrundegeegt. Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money.

Das amerikanische Kino hat für den Rassismus in den USA und den Kampf der Bürgerrechtsbewegung schon viele Bilder gefunden. Filmemacher:innen wie Spike Lee (»Malcom X«, »Blackkklansman«), Shaka King (»Judas and the Black Messiah«), Ava DuVernay (»Selma«) oder Barry Jenkins (»Beale Street«) setzten dabei auf visuelle Überwältigung, Jeff Nichols (»Loving«), Thomas Allen Harris (»Through the Lens Darkly«) oder Raoul Peck (»I’m not your Negro«) auf leise und eindringliche Töne.

Das packende Drama der 37-jährigen Chinonye Chukwu bewegt sich zwischen diesen Polen. Es überzeugt in seiner klugen Inszenierung, die die weiße Gewalt abbildet, ohne sich sensationslüstern darüber zu beugen. So sieht man in der Szene, in der Emmett Till ermordet wird, nur die im Dunkeln beleuchtete Scheune, aus der Geräusche von Misshandlungen, Beschimpfungen und Schmerzensschreien dringen. Hier bedient sich die Regisseurin nicht umsonst an einem zentralen Element des Horror-Genres, denn die Grausamkeit der Tat ist nichts anderes als Wirklichkeit gewordener Horror.

Deren brutale Konsequenzen verschweigt der Film nämlich keineswegs, ganz im Gegenteil. Sie werden sichtbar, wenn Mamie die amorphe Leiche ihres Sohnes in Augenschein nimmt. Nahezu dokumentarisch folgt die Kamera dem entsetzten Blick der Mutter – das ist nur schwer auszuhalten. »Das waren nicht nur zwei weiße Männer, das waren alle weißen Männer«, sagt sie und beschließt, ihren Sohn unter den Augen der Welt beizusetzen. »Ich möchte, dass Amerika Zeugnis ablegt«, kommentiert sie mit tränenerstickter Stimme ihre Entscheidung.

Bob Newman: Shadows of Emmett Till. Kehrer Verlag 2022. 268 Seiten. 68 Euro. Hier bestellen.

Zeugnis legt auch der Bildband »Shadows of Emmett Till« von Bob Newman ab. Dafür hat der amerikanische Fotograf das Mississippi-Delta im Süden der USA bereist, um dort einzufangen, wie die Ermordung des Schwarzen Teenagers auch noch fast 70 Jahre nach seinem grausamen Tod die Region prägt. Der Band besteht aus zwei ineinander fallenden Büchern, wobei das eine auch physisch den Schatten des anderen bildet.

In dem einen Buch sind historische Schwarz-Weiß-Fotografien der rassengetrennten Wirklichkeit im Süden der USA sowie Aufnahmen rund um die Ermordung von Emmett Till zusammengetragen. Sie belegen nicht nur eindrucksvoll, wie genau Chukwu in ihrem Film gearbeitet und diese Bilder zur Grundlage ihrer Inszenierung gemacht hat, sondern schreiben die Geschichte der rassistischen Gewalt und des Schwarzen Engagements dagegen bis zu George Floyd nach.

Das zweite Buch im Buch widmet sich dem Schatten, der heute über dem Landstrich liegt. Das darf man wörtlich nehmen, denn das Licht spielt auf diesen Fotografien eine besondere Rolle. In leuchtenden Farben zeigen die Aufnahmen die einfachen Verhältnisse, in denen die Menschen bis heute gefangen sind. Sie zeigen Kirchen, Billardsalons und Musikbars, wo Gospel, Jazz und Blues ihren Ursprung haben, und Ruinen der alten Baumwollfarmen, in denen bis heute der Geist der weißen Gewalt spukt. Sie veranschaulichen die anhaltende Trennung der Black Folks und der Rednecks und zeichnen die rassistische Gewalt, der Emmett Till zum Opfer gefallen ist, bis in die Gegenwart nach. Newman zeigt dabei aber auch, wo die Ursachen liegen könnten, nämlich in der bitteren Armut und Rückständigkeit der Region und den sozialen Lagen, in denen die Menschen leben.

Als Ausrede soll das aber nicht herhalten, das verdeutlichen die dokumentarischen Aufnahmen des Prozesses gegen die Mörder von Emmett Till. Auf denen inszenieren sich die beiden Farmer J.L. Milam und Roy Bryant stolz als selbstsichere Vertreter einer höheren Moral, die die weiße Gerichtsbarkeit auf ihrer Seite weiß. Das veranschaulicht Chukwu auch in ihrem Film. Sie zeigt, wie Mamie Till Mobley bei ihrer Aussage vor Gericht die hämischen Kommentare des weißen Publikums ungeschützt ertragen musste und dem Desinteresse der ausschließlich weißen Jury ausgesetzt war.

Danielle Deadwyler als Bürgerrechtlerin Mamie Till Mobley

Noch bevor das Urteil (das die beiden Angeklagten freispricht) verkündet wird, wird Mamie nach Chicago zurückkehren. Eine Jury, die aus zwölf Männern bestehe, die genauso aussehen wie die Mörder von Emmett, werde keine Gerechtigkeit schaffen, kommentiert sie im Film. Einfach hinnehmen wird sie das aber nicht, sondern in der Bürgerrechtsbewegung engagiert für die Rechte der Schwarzen Menschen in den USA kämpfen.

Die 40-jährige Danielle Deadwyler in der Rolle dieser kämpferischen Frau ist eine Offenbarung. Mit bewundernswerter Energie und unwiderstehlicher Aufrichtigkeit spielt sie an der Seite von Oscar-Preisträgerin Whoopi Goldberg (»Sister Act«) und Filmikone Frankie Faison (»Do the Right Thing«) die Rolle der Mamie Till Mobley. Warum ihr das nicht zumindest eine Nominierung bei den Golden Globes oder den Oscars eingebracht hat, ist rätselhaft.

Die Kamera bleibt oft gefühlte Ewigkeiten ganz nah bei ihrer Figur, untersucht in den Gesichtszügen, wie sie mit ihren Gefühlen kämpft, und versucht, in ihre verletzte Seele zu schauen. Dabei gelingt es Deadwyler mit nur wenigen Zügen die Zerrissenheit ihrer Figur – ihren Schmerz einerseits und ihren Kampf um Fassung, um für ihren Sohn zu kämpfen, andererseits – ins Bild zu setzen. Der Blick, in dem Trauer, Wut und Entschlossenheit dieser Figur liegt, verfolgt einen noch lange.

Chinonye Chukwu hat mit »Till – Der Kampf um die Wahrheit« als erste Afroamerikanerin den Grand Jury Prize beim Sundance Film Festival gewonnen. Der Film zeigt eindrucksvoll den Kampf einer Mutter um die Würde ihres Sohnes. Er ist das Vermächtnis der Mamie Till Mobley und setzt dieser Frau ein bleibendes Denkmal.

Eine kürzere Fassung des Textes ist im Rolling Stone 2/2023 erschienen.