Im Jahr der 60. Präsidentschaftswahlen in den USA taucht in der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur vor allem ein Thema immer wieder auf: die Sklaverei. Erzählerisch facettenreich und stilistisch vielfältig gehen einige aktuelle Romane dem langen Schatten der dunklen Geschichte des Landes auf den Grund.
Heute wird in den USA gewählt und alle schauen gespannt, ob es zu einer zweiten Amtszeit von Donald Trump kommt oder diese verhindert werden kann. Aus europäischer Perspektive fragt man sich, wie es sein kann, dass es sich beim Duell zwischen Kamala Harris und Donald Trump immer noch um ein »tight race« handelt. Eindeutige Erklärungen dafür liefert auch die Gegenwartsliteratur (siehe Titelbild) nicht. Während bei der letzten Wahl Texte wie »Homeland Elegie« von Ayad Akhtar, »Die Stille« von Don DeLillo oder »Die Topeka-Schule« von Ben Lerner als Schlüsselromane gelesen werden konnten, sucht man vergeblich den einen Roman, der einem die enorme Spaltung der amerikanischen Gesellschaft nachvollziehbar macht.
Es findet sich aber ein Thema in der aktuellen amerikanischen Literatur, das in seiner beständigen Wiederkehr aufmerken lässt. Die Geschichte der Sklaverei und ihr langer, bis in die Gegenwart reichender Schatten bewegt auch zehn Jahre nach Entstehen der Bewegung #BlackLivesMatter die Gemüter. Das beweisen zahlreiche Romane. Allen voran der aktuelle Roman von Percival Everett, mit dem er sowohl beim Booker Prize als auch beim National Book Award auf der Shortlist steht. In »James«, mitreißend von Nikolaus Stingl übersetzt, erzählt er die Geschichte von Huckleberry Finn neu. Nicht der weiße Lausbube Tom Sawyer steht hier im Mittelpunkt, sondern der Schwarze Sklave Jim, der sich gegen sein Schicksal stemmt und mit Huck in den freien Norden flieht. Sie begeben sich auf eine gefährliche Floßfahrt den Mississippi entlang, auf der hinter jeder Biegung Gefahr und Versprechen lauern.
Wie schon in seiner für den Pulitzerpreis nominierten Satire »Die Bäume«, die ihren Ausgang in der Ermordung von Emmett Till nimmt, räumt Everett in spektakulärer und grandios unverfrorener Weise mit einem amerikanischen Mythos auf. »James«, schwärmt die Booker Prize Jury, sei ein »meisterhaftes, revisionistisches Werk, das den Leser in die Brutalität der Sklaverei eintauchen lässt, der eine ergreifend beharrliche Menschlichkeit gegenübergestellt wird. Mit lyrischer, reich strukturierter Prosa schafft Everett eine fesselnde Antwort auf Mark Twains Klassiker Huckleberry Finn, die sowohl eine kühne Erforschung eines dunklen Kapitels der Geschichte als auch ein Zeugnis für die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes ist.«
Jesmyn Ward, die für »Vor dem Sturm« und »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« jeweils mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, legt mit »So gehen wir denn hinab« einen überaus lesenswerten Südstaatenroman vor. Im Mittelpunkt ihres mit Motiven des Magischen Realismus spielenden Sklaverei-Romans steht Annis, die auf einer Zuckerrohrfarm zur Welt kommt. Ihre Mutter ist Sklavin, ihr Vater der Besitzer der Plantage.
Um die Schade loszuwerden, sendet er Annis und ihre Mutter zur nächstbesten Sklavenauktion, die nur der Ausgang einer Odyssee durch das menschenverachtende Südstaaten-System ist. Der von Ulrike Becker übertragene Roman führt tief in die Dunkelheit der amerikanischen Sklaverei, aus der hinaus nur die Geschichten von Annis Mutter führen, die in die faszinierenden Mythen und Geisterwelten ihrer Ursprünge eintauchen. In denen taucht Annis Großmutter als legendäre afrikanische Kriegerin auf, was in dem Sklavenmädchen den Glauben an ein Leben in Freiheit nährt.
Ebenfalls mit magisch-realistischen Motive spielt der utopische Debütroman »Ours. Die Stadt« von Phillip B. Williams. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist die titelgebende Siedlung, die ein Zufluchtsort für ehemalige Sklaven ist. Gegründet wurde der in den Wäldern von St. Louis versteckte Ort von einer Zauberin namens Saint. Die Gründerin trägt ihren Heiligenstatus zurecht im Namen, denn die Stadt ist von magischen Steinen umgeben, die sie unsichtbar für all jene machen, die etwas gegen ihre Existenz haben könnten. Auf keiner Karte verzeichnet spricht sich die Existenz dieser geheimnisvollen Siedlung herum, wo sich immer mehr Menschen niederlassen. Doch mit der Stadt wächst auch das Misstrauen ihrer Gründerin, die von den Neuankömmlingen immer seltsamere Rituale einfordert.
Der von Milena Adam souverän übersetzte Roman knüpft an die Geschichte der Underground Railroad an, dem geheimen Netzwerk aus Fluchtwegen und Fluchthäusern, über das zahlreiche Sklaven den Weg aus der Gefangenschaft gefunden haben. Die Erzählung mäandert geheimnisvoll durch die aufgerissene Landschaft, als würde das klandestine Widerstandsnetzwerk die strukturelle Vorlage für den Roman liefern. Dabei ist nicht jedes Bild stimmig, aber ein kühner Wurf ist dieses Debüt allemal, das sich mehr dem Zauber der Fiktion, als der ernüchternden Wirklichkeit verschreibt.
An Colson Whiteheads Roman »Underground Railroad« reicht »Ours« nicht heran, aber das wäre auch zuviel verlangt, schließlich erhielt Whitehead für dieses Buch nicht nur den National Book Award, sondern auch den ersten von zwei Pulitzer-Preisen. Sein neuer, von Nikolaus Stingl übersetzter Roman »Die Regeln des Spiels« entführt ins Harlem der 70er Jahre und knüpft damit unmittelbar an seine Heist-Novel »Harlem Shuffle« an.
Nachdem sich der Möbelhändler Ray Carney viele Jahre mit zwielichtigen Geschäften über Wasser hielt, will er nun von diesen krummen Dingern nichts mehr wissen. Angesichts der alles andere als zimperlichen Black Liberation Army ist es ihm im organisierten Verbrechen zu heiß geworden. Um für seine Tochter May Konzertkarten für die Jackson Five zu besorgen, wärmt er alte Kontakte wieder auf und ist wieder mittendrin im Game der Loyalitäten und Gefälligkeiten. Diese rasante Blaxploitation-Novel wird wohl nicht allzu lange auf ihre Verfilmung warten müssen und Barry Jenkins, der schon die »Underground Railroad« verfilmte, ist sicherlich eine gute Adresse, um die als Trilogie angelegte Harlem-Reihe auf die Leinwand zu bringen. Ob vorher noch der dritte Band dieser mitreißenden Milieu- und Sozialstudien um Ray Carney erscheint? Man darf gespannt sein.
Ebenfalls in Harlem angesiedelt sind Sidik Fofanas sehr gegenwärtige Erzählungen, die im Sommer in der rhythmischen Übersetzung von Jens Friebe unter dem Titel »Dünne Wände« erschienen sind. Den darf man durchaus wörtlich nehmen, denn die miteinander verbundenen Geschichten spielen sich alle in der Wohnsiedlung Banneker Terrace ab, deren Bewohner keine Geheimnisse voreinander haben. In diesem Wohnblock bekommt man mit, was im Appartement nebenan, obendrüber oder untendrunter passiert. Es ist ein schwungvolles Debüt des New Yorkers, in dem die Marginalisierten und Abgehängten, die Gescheiterten und Scheiternden eine Stimme bekommen.
Fofanas Ich-Erzähler sind alle Schwarz, tragen aber alle unterschiedliche Traumata und Hoffnungen mit sich herum, das Erbe der Sklaverei zieht sich hier bis in die Gegenwart. Da ist die Fast-Profisportlerin Quanneisha, eine Simon Biles der Sozialhilfe, oder die Alleinerziehende Mimi, die nicht weiß, wie sie die drohende Mieterhöhung stemmen soll, nachdem der Sozialbau an eine Immobilienfirma verkauft wurde. Da wird ihr auch nicht der Vater ihres Kindes helfen, denn Swan hat ganz andere Probleme. Fofana fährt in seinem Debüt ein Kaleidoskop an Stimmen und Erfahrungen auf, die alle eint, sich ungesehen und übersehen zu fühlen. Diese Perspektiven sichtbar zu machen, ist eine der Leistungen dieser facettenreichen Erzählungen, die jede für sich einen anderen Verlauf und Ausgang finden.
Zu den erfolgreichsten Romanen der vor fünf Jahren verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison gehört ohne Zweifel der Roman »Menschenkind«, der nun unter dem Originaltitel »Beloved« in einer neuen Übersetzung von Tanja Handels vorliegt. Darin erzählt Morrison die Geschichte von Sethe, die zwar der Sklaverei entkommen konnte, dafür aber einen hohen Preis zahlen musste. Sie hat ihren Mann verloren und ihre Tochter begraben, im Roman muss sie sich den Wunden stellen, die die Jahre auf der Farm mit dem zynischen Namen Sweet Home in ihrem Körper und ihrer Seele hinterlassen haben. Für den Roman erhielt Morrison 1988 den Pulitzerpreis, fünf Jahre später sollte der Literaturnobelpreis folgen.
Liest man nun die überaus gelungene Neuübertragung vor dem Hintergrund der anderen Neuerscheinungen, wird einem klar, wo der Magische Realismus als literarisches Mittel zur imaginären Flucht aus der Sklaverei seinen Ursprung hat. Denn Morrison greift für diese Erzählung, die unter den etablierten Verhältnissen der Zeit »keine Geschichte zum Weitererzählen« sei, wie es am Ende heißt, auf außeramerikanische Erzähltraditionen zurück. So werden realistische Elemente der Handlung mit fantastischen verknüpft, um die psychologisch bedingten Gedächtnislücken zu füllen und Brücken aus dem Unerträglichen ins Erträgliche zu schlagen.
Keines dieser Bücher erklärt für sich die enorme Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft, aber alle blicken auf andere Art und Weise entschlossen in den historischen Abgrund, der die Gegenwart in all seiner Brutalität prägt. Um aus diesem Abgrund herauszutreten, muss ein Berg erklommen werden. »The Hill We Climb« rief Amanda Gorman zu Joe Bidens Amtseinführung. Es kann gut sein, dass der viel höher ist beziehungsweise sein Fuß viel tiefer in der Vergangenheit liegt, als man bisher annahm.