James Baldwin wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Der Kulturjournalist René Aguigah erschließt sein Werk so greifbar und lebendig wie niemand zuvor. Sein Porträt ist neben der wachsenden Gesamtausgabe die perfekte Einladung, sich in ein Werk zu vertiefen, dass einem immer wieder den Atem nimmt.
»James Baldwin ist einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Verena Lueken in »Von dieser Welt«) und »eine der größten Stimmen der amerikanischen Literatur« (Daniel Schreiber in »Beale Street Blues«). Eine Ikone, die »fast wie ein Popstar – als großes Vorbild und Leitfigur verehrt wird von einer jungen Generation queerer Menschen jeglicher Hautfarbe und jeglichen Geschlechts« (Elmar Kraushaar in »Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort«). Er hat Werke geschaffen, die »an den Grundfesten amerikanischer Selbstwahrnehmung rütteln« (Jana Pareigis zu »Nach der Flut das Feuer«), indem er als »son of a preacher man … die babylonische Welt mit den rhetorischen Mitteln der Bibel erobert« hat (Ijoma Mangold in »Kein Name bleibt ihm weit und breit«). Seine Texte sind ein »Ganzkörpererlebnis«, kriechen »einem nicht nur ins Gehirn, sondern unter die Haut« (Mithu Sanyal in »Von einem Sohn dieses Landes« und sein »Blick auf das Verhältnis von Schwarzen und Weißen beschränkt sich nicht darauf, weiße Fragilität auszustellen« (René Aguigah zu »Ein anderes Land«).
Die Werkausgabe in neuem Design
Man muss nur die Vorworte der Baldwin-Gesamtausgabe lesen, die im dtv-Verlag seit ein paar Jahren entsteht, und schon ist man von all den Superlativen umgeben, die James Baldwin in den vergangenen Jahren zu einer Ikone haben werden lassen, die er zu Lebzeiten kaum je war. Als lebenslanger Kritiker von Polizeigewalt ist er zur Galionsfigur der Black-Lives-Matter-Bewegung geworden. Baldwin war neben Malcolm X, Martin Luther King jr. und Medgar Evers eine der herausragenden Figuren der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Raoul Pecks Oscar-nominierte Dokumentation »I’m not your negro« (kostenfrei bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen) sowie Dick Fontaines restaurierter Interviewfilm »I Heard It Through The Grapevine« von 1980 führen sein politisches Wirken eindrucksvoll vor Augen. Baldwin ist aber längst auch Pop-Ikone, wird von Black Artists wie Jay Z, Janelle Monáe oder Beyonce ebenso zitiert wie von weißen Musiker:innen wie Morrissey oder Madonna.
»Es ist schwer, an einem Ort geboren zu sein, an dem man verachtet wird, der aber zugleich das Versprechen bereithält, dass man das Unmögliche erreichen kann, wenn man sich nur ordentlich genug anstrengt«, sagte James Baldwin 1984 in einem Gespräch mit Audre Lorde. Das war drei Jahre vor seinem Tod und kurz vor Veröffentlichung seines letzten Essays »The Evidence of Things Not Seen«, der die letzte wesentliche Publikation des großen Humanisten darstellen wird. Am 2. August 1924 in Harlem geboren, wächst er dort in extremer Armut auf. Verwahrlosung, Kriminalität, Prostitution, Jazz, Blues und religiöse Erweckung prägen seine Kindheit.
Eine Lehrerin bringt ihm die Romane von Charles Dickens, Honoré de Balzac und Henry James nahe – ihre Prosa wird ihn ein Leben lang begleiten, wie man in den gerade erschienen autobiografischen Essays in »Kein Name bleibt ihm weit und breit« nachlesen kann. Da erfährt man nicht nur, wie aus dem ältesten von neun Kindern ein Schriftsteller wurde, sondern taucht noch einmal in die prägenden Jahre der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ein, in der Baldwin die Schlüsselrolle des lebensnahen Hofintellektuellen einnehmen sollte. Die mit den Aufnahmen von Magnum-Fotograf Steve Shapiro illustrierte Taschen-Ausgabe von »The Fire Next Time« führt das noch einmal vor Augen.
Viele der Bilder sind in den Südstaaten entstanden, Aufnahmen aus Harlem, wo Baldwin aufgewachsen ist, sind eher rar gesät. Das verstellt ein wenig denn Blick auf Baldwin, denn fast all seine Romane kreisen um den New Yorker Bezirk, der als Hort der afroamerikanischen Kultur gilt. Vom wortgewaltigen Debüt »Von dieser Welt« über die aus einer starken weiblichen Perspektive erzählte und von Oscar-Regisseur Barry Jenkins verfilmte Geschichte »Beale Street Blues« bis hin zu Baldwins Variante der Great American Novel »Just Above My Head«, die im Französischen gar den Titel »Harlem Quartet« trägt und noch auf eine deutsche Übersetzung wartet – überall in seinen Texten stößt man auf Harlems Straßen und Verhältnisse als Fix- und Bezugspunkt.
Betrachtet man sein gesamtes literarisches Werk, dann stellt man fest, dass nur sein berühmtester Roman »Giovannis Zimmer« – diese atemberaubend tragische Liebesgeschichte zwischen zwei jungen weißen Männern, die zu Herzen geht wie kaum ein andere Text der Weltliteratur – nicht in der Welt angesiedelt, aus der Baldwin selbst kommt. Das findet man heute viel leichter heraus als noch vor zehn, zwanzig Jahren, weil Baldwins Werk knapp vier Jahrzehnte nach seinem Tod ein außergewöhnliches Revival erlebt.
Die Werkausgabe: Außen alt, innen neu
Die phänomenale Wiederentdeckung dieses durch und durch literarischen Werks ist hierzulande nicht zuletzt auf die von Miriam Mandelkow großartig übersetzte Werkausgabe zurückzuführen, die seit 2018 im dtv-Verlag entsteht und in diesem Jahr um zwei weitere Titel von sechs auf acht Titel anwächst. So sehr man sich über diesen Zuwachs freut, so verärgert ist man über die Entscheidung des Verlags, die bisherige Aufmachung zu verwerfen und die Werkausgabe im neuen Design, bei dem Baldwin nun auch als Coverboy wiederentdeckt wird, neu anzusetzen. Bibliophile Sammler müssen nun von vorn beginnen, zumindest können sie jetzt auf ein in sich konsistentes Erscheinungsbild hoffen.
Wie auch immer, die beiden neuen Werke umfassen die Essays in »Kein Name bleibt ihm weit und breit« und den voluminösen Roman »Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort«. Dieses Familiendrama bildet eine Art Gegenstück zu Baldwins frühem Roman »Von dieser Welt«. Beide nutzt er in unterschiedlichem Maß, um über seine Erfahrungen als Mensch, seine Perspektiven auf die amerikanische Gesellschaft und den Kampf für die Rechte der Schwarzen nachzudenken. Die Texte in »Kein Name bleibt ihm weit und breit« unterscheiden sich von seinen durchkomponierten Essays in »Nach der Flut das Feuer« und »Von einem Sohn dieses Landes« in ihrer greifbaren Unmittelbarkeit und Rohheit. Helle Geistesblitze stehen hier neben noch unsortierten Analysen, um die wesentlichen Momente der 60er und 70er Jahre aus ganz subjektiver Perspektive einzufangen.
Der essayistische Teil von James Baldwins Werk
Und zugleich lohnt es sich, Baldwins Essays miteinander in den Dialog zu bringen, weil sie in Gänze die bedrückende Atmosphäre der Zeit greifbar machen. Baldwins Texte über die »Slavenaufstand«, wie er die Bürgerrechtsbewegung lieber bezeichnete, sind (ein-)dringlich, präzise und scharf, sie sind ebenso bebend wie hoffnungsvoll – und angesichts der vielen Verluste auch immer wieder voller Trauer. »Nach der Flut das Feuer« etwa ist eine Anklageschrift gegen die Ansprüche des Weißseins darauf, die Conditio humana zu repräsentieren, und zudem an einigen Schlüsselstellen auch eine Ermahnung zur Liebe. »Die Verantwortung freier Menschen liegt darin, den Konstanten des Lebens zu trauen und sie zu feiern«, hielt Baldwin dort fest. »Geburt, Kampf und Tod sind Konstanten genau wie die Liebe, auch wenn uns das nicht immer so scheinen mag – und das Wesen von Veränderung zu erfassen, zur Veränderung fähig und bereit zu sein.«
Brandherde oder Variationen von »The Fire Next Time«
»We shall overcome« meinte eben nicht nur den weißen Rassismus, sondern auch den Schmerz, die Trauer und die Wut der Schwarzen loszulassen und eine Veränderung zuzulassen. Die Essays des radikalen Humanisten James Baldwin dienten vielen als Vorbild, Ta-Nehisi Coates’ Brief an seinen Sohn »Zwischen mir und der Welt« ist an Baldwins Brief an seinen Neffen »Nach der Flut das Feuer« angelehnt, gleiches gilt für die von Randall Kenan und Jesmyn Ward herausgegebenen Sammelbände »The Fire This Time« über Rassismus und Klimawandel. Baldwins Heureka-Moment in Leukerbad – enthalten im Essayband »Von einem Sohn dieses Landes« – wurde wiederum von Teju Cole und Garnette Cadogan aufgegriffen. Die Essays von Baldwin und Cole sind im Baldwin-Jahr in einem kleinen Band erschienen.
Leukerbad oder Variationen von »Fremder im Dorf«
Im Jubiläumsjahr erscheint mit René Aguigahs fulminantem Porträt »James Baldwin. Der Zeuge« auch die erste zeitgenössische deutschsprachige Einordnung dieses intellektuellen Lebens überhaupt und man kann nur dankbar sein für dieses einladende Werk. Der Kulturjournalist erschließt darin Baldwins durch sämtliche Genres fließendes Werk und zeigt, wie es in seiner Klarheit bis heute als »Differenzierungsmaschine« in den aktuellen Debatten wirke.
Dabei richtet er grundlegende Fragen an Baldwins Werk, um dessen alles andere als erwartbare Renaissance zu erklären. Er sei dem weißen Amerika zu Schwarz und dem Schwarzen Amerika zu weiß, den Aktivist:innen zu intellektuell und den Intellektuellen zu aktivistisch gewesen, so Aguigah. Baldwin stand (und lebte) immer etwas abseits, um von dort die Dinge umso klarer in den Blick zu nehmen, wie Aguigah facettenreich aufzeigt. Dabei habe er, so schreibt es Baldwin selbst in »Kein Name bleibt ihm weit und breit«, stets zwei Rollen ausfüllen müssen: die als Schriftsteller und die als »öffentlicher Zeuge der Situation der Schwarzen in Amerika.«
So erklärt sich auch der Titel dieses ebenso respektvollen wie klugen Porträts, in dem sich Aguigah, der sich als Journalist und jahrelanges Mitglied der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse intensiv mit verschiedenen Textsorten auseinandergesetzt hat, in das literarische und essayistische Werk Baldwins wirft. Wer mit trockenen literaturwissenschaftlichen Analysen wenig anfangen kann, kann unbesorgt zu »James Baldwin. Der Zeuge« greifen, denn statt akademischer Textexegese wartet dieser Essay mit aufregenden Beobachtungen, spannenden Querverbindungen und erkenntnisreichen Gegenwartsbezügen auf.
Ausgangspunkt sind dabei natürlich Baldwins Texte. Aguigahs gewinnenden Nacherzählungen und Deutungen dieser Werke lässt auf eine sehr genaue und aufmerksame Lektüre schließen. Er legt die großen Themen frei, die Baldwin in seinen Texten immer wieder reflektiert hat, Scham und Schuld, Liebe und Verletzlichkeit, Befreiung und Erlösung, Körper, Seele, Identität und Geist.
Der fiktionale Teil von James Baldwins Werk
Dabei rückt der Journalist Aguigah auch immer wieder die »kunstvoll geformte Sprache« in den Mittelpunkt, in der sich all die Ursprünge und Motive kreuzen, die Baldwin ausmachen. Schon in seinem Debüt sei sie »inspiriert von der King-James-Bibel ebenso wie vom Gospel und dem Englisch der Schwarzen in der Großstadt«, schreibt Aguigah. Und man meint, in Baldwins Schriften etwas wiederzuerkennen, das schon Kafkas Schreiben prägte – die Fähigkeit, die eigene Erfahrung zum Ausgangspunkt einer universellen Erfahrung zu machen, ohne in Narzissmus abzugleiten. Vor dem Hintergrund ist es vielleicht kein Zufall, dass Baldwin nur wenige Wochen nach Kakas Tod das Licht der Welt erblickt hat.
»Seine Aufrichtigkeit, sein Mut ließen ihn immer die Wahrheit sehen, die Wahrheit schreiben. Er war ein Gigant.«
Maya Angelou
Die in diesem Band versammelten Gespräche machen auf schmerzliche Weise deutlich, wie wichtig Baldwins Stimme noch heute im politischen Diskurs ist, aber es geht auch um seine Kindheit, seine »Selbstexilierung«, um Sexualität und Literatur, um seinen nie nachlassenden Optimismus, trotz allem – und um eine Episode im Schweizer Wallis.
In Baldwins Texten treffen sich das Erhabene und das Profane, der Gospel und der Jazz, Schuld und Sühne, Frömmigkeit und Lust. Es sind die Gegensätze, die Pole, die diese Texte so universell schimmern lassen. Seine kristallklaren Analysen kommen in den wärmsten Worten herbei, die man sich vorstellen kann. In seinem Schreiben spiegelt sich all der Ernst des Lebens und zugleich alle Empathie und Leichtigkeit, die ein Mensch verspüren kann. Der Dichter Langston Hughes schrieb über Baldwin einmal in der New York Times, dass er mit Worten mache, »was das Meer mit Wellen macht, lässt sie fließen und schlagen, rollen und weichen, sich auftürmen und mit einer Verneigung entschwinden.«
Buchpremiere im Ocelot in Berlin
Aber hat Baldwin Schwachstellen? Die Co-Chefredakteurin des Missy Magazins Dominique Haensell warf bei der Berliner Buchpremiere im Ocelot etwa ein, dass die Frauen Baldwins weak spot wären. Schon in einem älteren Text schrieb sie in Bezug auf das anfangs erwähnte Gespräch mit Audre Lorde – dass sich in dem lesenswerten Gesprächsband »Ich weiß, wovon ich spreche« wiederfindet –, dass Baldwin erstaunlich wenig Sinn für die komplexen Verschränkungen von race und gender beweise.
Aguigah blieb hier wie in seinem Buch offen für andere Perspektiven, verwies aber auch auf die starken Frauenfiguren in Baldwins Romanen – angefangen bei Florence in »Von dieser Welt« über Aida in »Ein anderes Land« und nicht zuletzt Tish, die selbstbewusste Ich-Erzählerin in »Beale Street Blues«. Und zugleich machte er deutlich, dass es die Texte der tollen Autor:innen der Harlem Renaissance brauche (Ann Petry, Gayl Jones, Fran Ross, Nella Larsen, Wallace Thurman, Louise Meriwether, Zora Neale Hurston u.v.m.), deren ungewöhnliche Geschichten in den letzten Jahren entdeckt wurden, um die Vielfalt weiblicher Perspektiven abzubilden.
Die weibliche Seite der Harlem Renaissance
Baldwin hat Wege bereitet, dies hat keine geringere als Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison deutlich gemacht. In ihrer Trauerrede (enthalten in der Textsammlung »Selbstachtung«) rief sie ihm hinterher: »Du hast mir eine Sprache geschenkt, in der ich Wohnstatt nehmen kann… Aus deinem Mund klang das amerikanische Englisch ehrlich – wahrhaftig international. Du hast seine Geheimnisse entlarvt und es umgemodelt, bis es wahrhaftig modern war, dialogisch, repräsentativ, menschlich. Du hast es seiner Selbstverständlichkeit und falschen Bequemlichkeit beraubt, jeglicher geheuchelten Unschuld, jeglicher Ausflüchte und Scheinheiligkeit. Und anstelle von Verdruckstheit war da plötzlich Klarheit, anstelle von schalen, plumpen Lügen eine zugespitzte, zielgerichtete Kraft.«
Aguigah setzt Baldwins Schriften ins Verhältnis zu seinem öffentlichen Leben als bezeugender Intellektueller und Aktivist. Dabei stößt man auf so präzise und anregende Analysen, dass man umgehend zu Baldwins Texten greifen will. Wenn dieser Band eine Gefahr birgt, dann die, dass man ihn ständig zur Seite legen und in die nächste Buchhandlung stürzen will, um noch ein und noch ein und noch ein Baldwin-Buch zu kaufen. Zugleich erschließt er Baldwins Leben im Schatten der Sklaverei, das grundlegend für dessen Fähigkeit war, davon erzählen zu können, »wie es sich anfühlt, am Leben zu sein.« Baldwin theoretisiert nicht, er zeigt auf – und Aguigah ahmt dies in seinem eleganten Porträt nach.
Aktuelle Sekundärliteratur mit Baldwin-Bezügen
Es gäbe viele Ausgangspunkte, sich Baldwin und seinem Werk zu nähern, schreibt er zu Beginn. Auf gerade einmal 200 Seiten führt er diese Punkte nicht nur zusammen, sondern macht wiederkehrende Figuren, Motive und Denkbewegungen sowie dessen unverwechselbaren Sound sichtbar. Sein Porträt ist selbst einer der besten Ausgangspunkte, um sich der (Re-)Lektüre von Baldwins Texten hinzugeben.
[…] präsenter in meiner Wahrnehmung – sehr lesenswert ist zum Beispiel der Beitrag im Blog intellectures über sein Leben, seine Bücher und deren Rezeption bis heute. Ein Text, der deutlich macht wie […]