Essay, Sachbuch

Das Funkeln der Schatten

Teju Cole führt in seinen Essays von Caravaggios Kunst zum Black Empowerment und beleuchtet das Dunkel der Welt. Für die Schattenwelten des Daseins findet er Worte, die diese in ihren Kontexten verständlich machen.

Selbst Statistiker arbeiten mit dem Gegensatz von Hell und Dunkel. Während im Hellfeld das liegt, was mit Zahlen, Daten und Fakten bis ins Letzte belegt werden kann, verbirgt sich hinter der Dunkelziffer oder dem Dunkelfeld der Graubereich, zu dem keine oder nur zu wenige Informationen vorliegen. Es ist nicht so, als könnte man diesen Schattenbereich des Daseins nicht beleuchten, ihm wird schlicht zu wenig Beachtung geschenkt.

Michelangelo Merisi di Caravaggio war ein unangefochtener Meister des Chiaroscuro. Sein ins Auge springendes Spiel mit Licht und Schatten ist seit Jahrzehnten Gegenstand von Coles Interesse. Erstmals stieß er in der elterlichen Bibliothek auf dessen Gemälde. Jahrzehnte später reiste er durch Südeuropa, um Caravaggios Meisterwerke endlich im Original zu bestaunen. In seinem Essay »Wie Caravaggio« erzählt Cole von dieser Reise, aber auch vom Leben des Malers selbst, der aufgrund seines feurigen Charakters Zeit seines Lebens auf der Flucht war.

Teju Cole: Black Paper. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Jäger und Uda Strätling. Claassen Verlag 2023. 320 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.

Caravaggios Kunst und das Motiv der Flucht laufen in Coles Reflexion lange Zeit parallel, bis sie sich in Sizilien kreuzen. In Syrakus stößt der weltgewandte Kunsthistoriker auf einige Migrant:innen, die nach der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer in der Stadt gestrandet sind. Ein junger Mann aus Gambia begleitet Cole schließlich in die Kirche, in der Caravaggios Gemälde »Begräbnis der Heiligen Lucia« hängt. »Wir sahen uns das Bild eine Weile gemeinsam an, dann verließen wir die Kirche. Draußen schienen D.s Augen von Verwunderung erfüllt zu sein, sowohl von Caravaggio, wie ich annahm, als auch von mir, diesem seltsamen westafrikanischen Nachbarn, der aus dem Nichts auftauchte und merkwürdige Fragen stellte.«

Die Verwunderung, die hier unterstellt wird, stellt sich auch bei der Lektüre der Essays des amerikanischen Schriftstellers, Kulturwissenschaftlers und Fotografen Teju Cole ein. Sie erzählen von der Hilfe, »die ich bei denen gesucht und gefunden habe, die fotografieren, dichten, malen, komponieren, übersetzen, reisen, trauern und um die Weisheit wissen, die im Dunkeln liegt«, schreibt Cole im Vorwort zu »Black Paper«.

Sie handeln von James Joyce, Aretha Franklin, Tomas Tranströmer, Toni Morrison, W.G. Sebald, Okwui Enwezor, Bisi Silva oder Kerry James Marshall und dem, wie ihr Schaffen Coles Blick auf die Welt prägt. Das Spiel mit Hell und Dunkel zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Texte. Angewandt auf Kunst, Literatur und Fotografie fragt er, welche verborgenen Existenzen unter den Farbschichten, hinter den Texten und im Schatten der Fotografien liegen, die unsere Kultur prägen. Vom Hellfeld dieser Zeugnisse, ihrer Objektivität, geht sein Blick in die Tiefe, um die Geschichten zu erzählen, die hinter dem Offensichtlichen liegen. Der Weg vom Glanz der europäischen Hochkultur zur dunklen Realität von Europas Flüchtlingspolitik ist da ein kurzer.

Bisheriges Werk von Teju Cole in deutscher Übersetzung

1975 in Michigan geboren ist der in Lagos aufgewachsene Sohn nigerianischer Eltern aber längst einer von Amerikas wichtigsten Intellektuellen. Seine Romane »Open City« und »Jeder Tag gehört dem Dieb« haben ihn in den Olymp der amerikanischen Literatur befördert. Seine Fotografien werden weltweit in Galerien gezeigt, die kulturkritischen Wortmeldungen des promovierten Kunsthistorikers erscheinen in der New York Times, im New Yorker oder der New York Review of Books.

»Blinder Fleck« lautet der Titel eines vor Jahren erschienenen Text-Bild-Essays, in dem Cole ausgehend von einer vorübergehenden Erblindung das Verhältnis zwischen körperlichem Bewusstsein und der sichtbaren Welt erkundete. Sein neues Buch ist gewissermaßen eine Fortschreibung dessen. Eine Schule des Sehens und Hinsehens, des Hörens und Einhörens in eine Weltgeschichte, die uns so beständig um die Ohren pfeift, das wir sie schon nicht mehr wahrnehmen. »Black Paper« ist eine emotionale Archäologie der Welt, die Orientierung im Dunkeln bieten soll.

Ein Dunkel, das auch Schutzraum sein kann, wie er anhand der kolonialen Fotografie zeigt, die Menschen wie Trophäen aus- und zur Schau stellt. Hier wird die Fotografie nicht zum Zeugen von Machtmissbrauch, sondern zum Instrument der Mächtigen. Aber nicht alles will gesehen werden, schreibt Cole. »Zu den Menschenrechten gehört auch das Recht, undeutlich, ungesehen und im Dunkeln zu bleiben.«

Fotografien von Teju Cole aus »Jeder Tag gehört dem Dieb«

Das schmerzhafte Verhältnis von Macht und Unterdrückung klagt er auch an anderer Stele an. Mit Bezug auf seine Verehrung für Edward Said, dem er sich auch in einer autobiografischen Vignette zuwendet, empört sich Cole über die Asymmetrie der Gewalt im Nahen Osten und das Schweigen, das darüber herrscht. »Es ist möglich und notwendig und unerlässlich, sich entschieden gegen Antisemitismus zu stellen und gleichzeitig das Leid der palästinensischen Bevölkerung anzuerkennen und alles dafür zu tun, um diesem Leid ein Ende zu bereiten.« Auf die Art führt er immer mal wieder Zeug:innen- und (Mit)Täter:innenschaft zueinander.

»Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, bist du nicht nach genug dran«, soll Magnum-Mitbegründer Robert Capa mal gesagt haben. Und so geht Cole immer wieder nah dran an seine Objekte, um hinter die Oberfläche zu schauen. Das funktioniert auf den längeren Strecken besser als in den kurzen, meist bereits in Form von Zeitungsartikeln bereits veröffentlichten Texten, auch weil er da immer wieder Bezüge zum eigenen Leben und Erleben einflicht.

»Wie schwarz ist der Panther?« ist so ein Beispiel grandioser Kulturkritik, in der er ausgehend von seiner eigenen Faszination für die geschmeidige Raubkatze über ihre kulturelle Bedeutung nachdenkt. Wie er dabei in Rilkes Gedicht »Der Panther« das nicht intendierte, aber anwesende Bild der auf einer Auktion ausgestellten Sklaven aufscheinen lässt und von dort über die revolutionäre politische Bewegung bis hin zu Ryan Cooglers »Black Panther«-Verfilmung die Geschichte einer unvollständigen, aber hoffnungsvollen Emanzipation schreibt, ist einfach grandios. »Alle schwarzen Panther und Black Panther sind schwarz, schwarz wie die Nacht und Schwarz wie ich.«

Das Reich der Panther liegt im Dunkeln. Teju Cole führt nah an dieses Reich heran, lässt uns dessen Schatten wahrnehmen und verstehen.

Dieser Text ist in ähnlicher Form bereits im Freitag erschienen.