Ulrich Blumenbach liebt die Langstrecke. Sechs Jahre saß er an David Foster Wallaces »Unendlicher Spaß«, fünf Jahre hat er mit Joshua Cohens »Witz« gerungen. Ein Gespräch über komplexe Literatur, Endlossätze und die Verzweiflung beim Übersetzen.
Ulrich, man kennt Dich als Übersetzer so genannt »unübersetzbarer« Werke, Deine Übersetzung von David Foster Wallaces »Unendlicher Spaß« ist legendär. Auch Cohens Roman galt als unübersetzbar. Worin bestand die besondere Herausforderung bei »Witz«?
Die vielleicht größte Schwierigkeit bei »Witz« ist, dass man sich die beschriebene Welt oft nicht mehr vorstellen kann. Wallace schreibt im »Unendlichen Spaß« komplex, aber immer präzis. Cohen hingegen lässt die Sprache bewusst immer wieder an der herkömmlichen Aufgabe des Erzählens scheitern, die darzustellende Welt anschaulich vor Augen zu führen. Die Unbegreifbarkeit des Holocaust wird als Unlesbarkeit der Welt literarisches Programm.
Die Unlesbarkeit der Welt führt zur Unsagbarkeit. Denn was ich nicht lesen kann, kann ich auch nicht beschreiben. Cohens »Witz« zählt aber knapp 900 eng beschriebene Seiten, in denen unheimlich viel gesagt, in Kontexte und Nontexte gesetzt wird. Ist sein Roman gerade aufgrund der Unbegreifbarkeit des Holocausts auch eine Antithese zur Unsagbarkeit der Dinge? Eine Art mutiger Appell, lieber mehr als weniger zu sagen?
Mehr, vor allem aber Vielfältigeres. Cohen erweitert die Grenzen des Sagbaren, weil er auf Sinn- und Klangebene mit Anspielungen, Mehrsprachigkeit und Wortspielen aus allen Rohren feuert. Seine Schreibpraxis eröffnet Perspektiven auf eine Welt, in der nicht alles eindeutig, sondern vieles mehrdeutig ist. Komplexe Literatur will dem Chaos der Welt mit dem Chaos der Kunst Kontra geben. Sie ist Kontingenzzumutung und damit das kognitive Gegenangebot zu den gegenwärtig grassierenden Verschwörungstheorien, die eine unüberschaubar gewordene Wirklichkeit durch einfache Erklärungen versimpeln. Es mag ein abstrakter Gedanke sein, aber Texte wie »Witz« sind in der Politik ihrer Form emanzipative Texte.
Cohens Roman spielt mit dem Jiddischen und Hebräischen. Hast Du beim Übersetzen noch eine Sprache gelernt?
Schön wär’s. Aber immerhin sind traditionelle Formeln wie jüdische Segen und Gebete hängen geblieben. Ich war ganz verdattert, als ich bei der Netflix-Serie »The Man in the High Castle« in der Folge, in der Frank Frink eine private Trauerzeremonie für seine ermordete Schwester abhält, das Kaddischgebet plötzlich fast mitsprechen konnte.
Das Jiddische enthält auch Versatzstücke des Deutschen. So werden die Männer in Cohens Roman etwas als »Menschen« bezeichnet, was im Deutschen zu Irrtümern führen würde. Wie bist Du mit dieser und ähnlichen Herausforderungen für Deinen deutschen Text umgegangen?
Jiddisch ist zum Glück schreibungstolerant, das heißt, verschiedene Wörterbücher präsentieren verschiedene Graphien, und ich konnte Schreibungen variieren, um solche Bedeutungsunterschiede zu markieren. Ein »Kitel« ist beispielsweise kein Kittel, sondern das Totengewand eines Verstorbenen oder ein talarähnliches Leinengewand, das an bestimmten Feiertagen getragen wird. Und »Mensch« wird in manchen Wörterbüchern als »Mentsch« buchstabiert. Das habe ich übernommen.
Beeindruckt hat mich die lexikalische Palette, die Du bedienst. Wie viele Wörterbücher lagen bei der Übersetzung parat, um darin nach Lösungen zu suchen?
Das lässt sich nicht beziffern. Die berauschende Schönheit von Cohens riesigem Wortschatz geht ja oft auf Fachausdrücke zurück, die dem Edelsteinschleifen, dem Aufbau von Wiederkäuermägen, der Falknersprache und vielen anderen mehr oder weniger obskuren Wissensgebieten entstammen. Dieses »Schwelgen im Seltenen« (Stefan Ripplinger) habe ich in den entsprechenden deutschen Fachbüchern recherchiert und der Übersetzung integriert.
Gab es denn so etwas wie ein Lieblingswort, das Du beim Übersetzen entdeckt hast?
Eines? Dutzende! Hunderte! Auch wenn ich die spracherweiternden Neologismen und welterweiternden Fachausdrücke weglasse, bleiben genug übrig: Ich hatte noch nie von dem Kartenspiel »Klaberjass« gehört, wusste nicht, dass die Schwanzflossen von Walen auch »Fluken« heißen, dass »Runsen« Wildbachrinnen an Gebirgshängen sind, »Schlempe« die als Futtermittel verwendeten Kohlenhydratrückstände von Gärflüssigkeiten nach dem Abdestillieren des Alkohols bezeichnet, eine »Merzsau« eine zur Zucht ungeeignete Schlachtsau ist, eine »Aue« ein Mutterschaf und ein »Hundepünt« ein spitzgeflochtenes steifes Tauende auf Segelschiffen.
Es gibt in Cohens Text bemerkenswert viele Komposita, bei denen Wörter zusammengezogen werden: Zigeuneradinnen, Schrumpelstilzchen oder Zungenzores. Wie lange muss man nach solchen Lösungen suchen?
Manches gibt das Original vor, und ich habe eins zu eins übersetzt. »Zigeuneradinnen« etwa ist die Übersetzung von »gypsyrades«; beide Ausdrücke sind also Portmanteau-Wörter, in die »comrade« beziehungsweise »Kameradin« eingeschmolzen wird. Da Komposita im Deutschen weit gebräuchlicher sind als im Englischen, konnte ich mit ihnen allerdings auch den Verlust von Wortspielen kompensieren, deren Technik umgekehrt im Englischen häufiger vorkommt als im Deutschen wie etwa bei Homonymen, so genannten Teekesselchen. Da habe ich gelegentlich Komposita erfunden, bei denen sich die mittleren Wortbestandteile sowohl auf den Wortanfang als auch auf das Wortende beziehen lassen wie etwa in »Blickfangeisen«.
Weil Du Teekesselchen ansprichst: Bei denen wird schon mal die Semantik ausgehebelt. Erleichtert das eine Übersetzung oder macht es sie schwerer
Beides. In einem Text wie »Witz«, in dem die Bedeutungen von Wörtern in alle Richtungen wuchern und explodieren, darf ich zwar sehr viel freier assoziieren als in eher standardsprachlicher Literatur, aber meine Lösungen müssen dann auch funktionieren und einen ästhetischen Mehrwert rüberbringen. Und ein spielerisches Kettenkompositum wie »Nabelschnurgeradeausweglosigkeit« erfordert natürlich einige Bastelarbeit.
Witz
Joshua Cohen erzählt in seinem überbordenden »Märchen vom Singenden, Springenden Vorhäutchen« in großen Bögen von der Jagd auf den letzten Juden dieser Erde. Der Geburt am Heiligabend 1999 folgt eine rätselhafte Seuche, die nur er überlebt. Als Heilsbringer wird er zum Gründer eines neujüdischen Kults erhoben, dessen Anhänger jene, die sich ihnen nicht anschließen wollen, in den Lagern von »Polenland« zu Leibe rücken. Cohens wahnwitzige Suada überträgt den Zivilisationsbruch des Holocaust in Sprache, die an der Aufgabe des Erzählens immer wieder scheitern soll. Diese »Shoashow« in »Holywood« ist Literaturliteratur vom Feinsten.
Joshua Cohen: Witz Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling Verlag 2022, 912 Seiten. 38 Euro. Hier bestellen.
Einige Bastelarbeit war sicherlich auch der Alliterationskanon vom »zeitig gezeugten Zeuger…« im ersten Teil. Kannst Du da den Prozess der Übersetzung etwas näher schildern? Was gab da das Original vor und wie kam es dann zur übersetzten Passage?
Im Kontext genealogischer Kataloge des Alten Testaments schreibt Cohen eine fünf Zeilen lange Permutation auf das Verb »beget«: »Being begotten by the begetted begetist whose begattable begettance begatted Big Beggeters and their Big Beggeterers begotally, whose begettability was begotted by other begotterers begatally, and yet other begatterers besides, whose begottance, begettance, or begattance begetally begot he who begat he who beget the begotting of the begotist so burdened with the begatting of the begatist beburdened again with the begetting of this Benjamin …«. Wo in der »King James Bible« immer »beget« steht, übersetzt Luther mit »zeugen«. Das war für mich also vorgegeben und erlaubte keine Abweichung. Mein Nachteil war, dass die Stammformen des englischen Verbs mit Ablauten arbeiten (beget, begat, begotten), »zeugen« aber ein schwaches Verb ist, Vergangenheitsformen und Partizipien also mit Dentalsuffix bildet. Ich habe daher zusätzlich zu den Variationen auf »zeugen« Wörter mit identischem Konsonantengerüst, aber variablen Vokalstrukturen eingebaut. Und auf deutsch lautet dieser Zeuge-Rap jetzt: »Zeitig gezeugt vom gezeugten Zeuger, dessen zeugliches Zeugen zig Zeiger zeugte und der zig Zeigerer zeugsam zieh, deren Zeugbarkeit von anderen Zeugerern zügig gezeugt ward zuzüglich anderer Zeugerer, deren Zeugung zeugnerisch den zieh, zog, zagte, der da den zeugte, vom Zeugen des Zeugers zeugsam zagend, geziehen des Zeugens des Zeugerers, geziehen mit dem Zeugen des zu Bezeugenden, des Ersten oder Ur-Benjamins …«
Apparatbedienungschloroformdämmerungsendfiebergespensterherrschaftsirrtumsjenseitskrisenlähmungmißverständnisnichtungsoperationspanikquadraturenredestaubtäuschungsüberfallverrenkungswüstenxmalypsilontenzeit – eines der Wortungetüme in Joshua Cohens Werk. Ist das in der Übersetzung so herausfordernd, wie es auf den ersten Blick scheint, oder einfach nur eine nette Spielerei?
Weder noch, denn bei beiden Bandwurmwörtern auf Seite 593 muss ich Dich enttäuschen: Die sind schon im amerikanischen Original deutsch, also Cohens Spielereien, nicht meine. Cohen macht sich damit über die für Nichtmuttersprachlerïnnen absurd langen deutschen Komposita lustig (Wir kennen es ja selber als »Donaudampfschifffahrtskapitansmütze…«). Das Veralbern der formalen Absurditäten der deutschen Sprache ist unter angelsächsischen Autorïnnen spätestens seit Mark Twains »The awful German language« eine Art Volkssport geworden.
Solchen Wortketten-Kompositionen stehen seitenlange Endlos-Sätze gegenüber. Wie nähert man sich als Übersetzer solchen die Grammatik und Interpunktion ignorierenden Konstruktionen?
Seufz. Weiß ich nicht genau. Ich habe – wie schon bei den Mäandersätzen im »Unendlichen Spaß« – versucht, sie im ersten Arbeitsgang abzuspecken, bis ich das grammatische Gerüst vorliegen hatte, das ich im zweiten Arbeitsgang dann mit allen Nebensätzen, Einschüben und Abschweifungen wieder auffüllen konnte. Manchmal klappte das aber nicht, weil Cohen bzw. die englische Syntax beispielsweise durch Partizipialkonstruktionen schwebende oder ambivalente Bezügen ermöglichen, die ich im Deutschen vereindeutigen muss. Da musste ich manchmal schummeln, um ähnliche Uneindeutigkeiten herzustellen.
Diese Uneindeutigkeiten führen dazu, dass sich Cohens Text höchst herausfordernd liest. Endlose Slapstickpassagen sind auf Miss- und Unverständnis, auf Nonsense ausgelegt. Wie geht man als Übersetzer damit um, schließlich will man ja, dass der Text verständlich und gut lesbar ist?
Will man das? Wer sagt das? Wenn ich ein im Amerikanischen unverständliches Original in eine im Deutschen verständliche Übersetzung verwandeln würde, wäre ich ein schlechter Übersetzer. Kryptisches wieder kryptisch zu machen, entspricht den Absichten des Autors. Als ich Cohen anlässlich einer besonders unverständlichen Passage mal ironisch gefragt habe, unter welcher Droge er bei deren Abfassung bloß gestanden habe, mailte er genauso ironisch zurück: »Ich weiß nicht mehr, was ich damals eingepfiffen hatte. Darum geht es doch gerade!«
Ich meinte etwas anderes. Du hast anfangs gesagt, dass Cohen die Sprache an der Aufgabe des Erzählens ganz bewusst scheitern lässt. Das führt dazu, dass man seitenlang Sprache liest, ohne zu verstehen, was diese Sprache sagen will. Nun gibt es zwei Probleme. Fangen wir bei dem ersten an: Auch als Übersetzer will man doch, dass das Buch gekauft und gelesen wird. Die Wahrscheinlichkeit sinkt aber, je unverständlicher ein Text ist.
Ja und nein. Du hast ja recht: Ein unverständliches Buch frustriert. Als Leser komme ich mir, auf deutsch gesagt, verarscht vor oder habe das Gefühl, der Autor stellt nur seine Bildung ins Schaufenster. Komplexe Bücher machen aggressiv, weil sie einem die eigene intellektuelle Unzulänglichkeit vor Augen führen. Aber: Gute Schwerbücher kompensieren diesen Minderwertigkeitskomplex durch Sinnlichkeit und Komik. Wenn Du auf einer x-beliebigen Lesebühne die Bonbonpassage aus Pynchons »Die Enden der Parabel«, das Ende der »Rinder des Sonnengottes« aus Joyces »Ulysses« oder den Unfallbericht des Maurers aus Wallace’ »Unendlichem Spaß« vorträgst, hängen Dir die Leute an den Lippen – oder liegen vor Lachen unter den Tischen. Auch in »Witz« gibt es Szenen wie die um Mel Chisedic und die »Stampede der Schlampen«, die einfach brüllend komisch sind. Und es gibt überwältigende prosapoetische Passagen. Wenn Cohen Glockenläuten beschreibt, dann hört sich das so an: »Ihr Läuten dringt tief aus den Höhlungen herab, um die bleierne Wölbung drunten zu beschirmen; ihr Nachhall klingt, als würde Messing, zirrenverkrustet und salzüberbacken, zu Kalk zerschlagen; die Glocken haben weniger das helle Dröhnen eines Glockenstuhls als das klirrende Scheppern gefrorenen Feuers; weniger das brillante Lecken einer eisgebundenen Schelle als den wolkengegossenen Schall eines wrackgeschlagenen Ankers: Der Weckruf der ummauerten Glockenklöppel schwellt eine gespürte Kraft zu gefühlter Macht.«
Gut. Kommen wir zum zweiten Problem: Woran hält man sich angesichts des bewussten Nonsens beim Übersetzen fest? Kommen da keine Zweifel am eigenen Tun? So nach dem Motto: Nein, das kann nicht sein, das ergibt doch gar keinen Sinn?
Doch. Natürlich. Ich muss zugeben, dass ich während der Übersetzungsarbeit immer wieder am Sinn des Ganzen gezweifelt habe, weil ich mir die Leserïnnen vorgestellt habe, die das Buch einfach entnervt an die Wand schmeißen. Und ich könnte es niemandem übelnehmen. Die eben erwähnte Passage, bei der ich Joshua Drogenkonsum unterstellt habe, lautet jetzt: »Das durchträllert die Fahrerkabinen von tausenden von Lastern, die mitsamt ihren Schweinefleischanhängern aufgegeben worden sind, die Schöße von Millionen von PKWs auf Randstreifen, die in Freitagsdämmerungen als Hausierersäcke für einen Gang durchs Korn geschultert werden«. Am Anfang kann ich mir noch zusammenreimen, dass das Neojudentum des Romans eine Art Sabbatfahrverbot für Transporter unkoscherer Lebensmittel erlassen hat, aber spätestens ab »PKWs« kann ich dem Autor einfach nicht mehr folgen: Autos, die man vor dem Sabbat auf die Schulter nimmt und dann durch Getreidefelder wetzt??? Ich glaube, ich muss einfach akzeptieren, dass ich hin- und hergerissen bin zwischen ekstatischer Befriedigung höchster Sprachlust und tiefschwarzer Verzweiflung, weil dieses Buch mich immer wieder anschreit »Du kannst mich nicht verstehen und du kannst mich nicht übersetzen!«
Joshua Cohen
Joshua Cohen gilt als einer der auf aufregendsten US-amerikanischen Autoren, wird mit Saul Bellow, Thomas Pynchon und David Foster Wallace verglichen. Sein Werk ist außergewöhnlich in Form und Umfang. »Witz« folgte seinem Debütroman »Solo für Schneidermann, den ich an anderer Stelle als »ebenso vergnüglichen wie ambitionierten Metaphernsalat« beschrieben habe. In seinem Datenschutz- und Doppelgänger-Roman »Buch der Zahlen« lässt er einen Schriftsteller Joshua Cohen die Autobiografie eines gleichnamigen Internetmilliardärs schreiben. Seine Erzählungen, sein verspielter Umzugsroman »Auftrag für Moving Kings« und sein neuer Roman »The Netanyahus« tragen zu seinem Ruf als literarisches Genie bei.
Es gab also Momente tiefer Verzweiflung, in denen Dein Kopf besonders geraucht hat?
Eigentlich ist die Frage eher, ob es auch Stellen gab, an denen der Kopf nicht rauchte … Aber tatsächlich potenzieren sich die Schwierigkeiten noch einmal im inneren Monolog des letzten Auschwitzüberlebenden Joseph, der den Roman abschließt. Diese dreißigseitige Passage ist ein Gewaltmarsch durch die Geschichte antijüdischer Gewalt seit der Zerstörung des Ersten Tempels, an die sich der sterbende Joseph aber nicht chronologisch erinnert. Er springt assoziativ aus Babylonien ins Polen des 17. Jahrhunderts, zurück zu den Pogromen während der Kreuzzüge, wieder vor in den Holocaust usw. Der ohne Punkt und Komma geschriebene Monolog ist mit historischen Details gespickt, und einmal steht da zum Beispiel zwischen einem Ärztehaus in Washington Heights und einer Straße im Amsterdamer Judenviertel »IIc«. Sonst nichts. Kein Kontext, nichts. Durch reinen Zufall habe ich irgendwann entdeckt, dass Block IIc in Auschwitz-Birkenau das Lager der Ungarinnen war (Josephs Geliebte wird aus Ungarn deportiert).
Im Gegensatz zu David Foster Wallace ist Cohen noch am Leben. Hat er Dir bei der Übersetzung helfen können? Habt Ihr korrespondiert? Bei welchen Fragen konnte er Dir helfen?
Joshua ist ein wahnsinnig hilfsbereiter und bodenständiger Autor, was man angesichts der literarischen Avanciertheit seiner Texte vielleicht nicht erwarten würde. Er hat mir immer geholfen, wenn ich nicht weiter wusste, mir Links zu Seiten im Netz geschickt, die einzelne Anspielungen erhellten – und in einigen Fällen hat er in gemeinsamen whiskygeschwängerten Nächten sogar neue Wortspiele für die deutsche Ausgabe erfunden. Wenn »Mayor Meir Meyer«, der Bürgermeister von New York, in der Übersetzung jetzt »Bürgermeister Goldbergshyster« heißt, ist das auf seinem Mist gewachsen.
Die Erzählung ist unter den unzähligen Sprachspielen etwas verborgen. Hast Du einen Tipp für Leser:innen, wie sie sich dem Text am besten nähern können, um zwischen Satzungetümen und Slapstick nicht die Lust zu verlieren?
Erstens: Bangemachen gilt nicht. Zweitens: Erstmal nicht um den Plot kümmern. Bei wilden Semiosen wie »Witz« steht der nicht im Vordergrund. Oder mindestens genauso wichtig finde ich die »Fülle des Wohllauts« (Thomas Mann), den Rhythmus, den Drive und nicht zuletzt die Komik des Romans, die sich unabhängig davon genießen lassen. Cohen ist ein Überwältigungsrhetoriker und der Roman eine Suada, deren Sturzfluten man sich einfach hingeben sollte. Dantes »Göttliche Komödie« lesen wir ja auch nicht, um rauszufinden, ob der Typ seine Beatrice am Ende nun ins Bett kriegt oder nicht. Nach und nach werden sich schon die großen Handlungsbögen abzeichnen, also die Vorgeschichte von Bens Familie, die Genese des Neojudentums, Bens Aufstieg zum Showbiz-Messias in Las Vegas, seine Flucht vor seinen Anhängern, seine Wanderschaft durch verschiedene amerikanische Gegenkulturen und schließlich das lange Finale am Anus mundi der osteuropäischen Massenmordanlagen.
Mir hat beim Genießen geholfen, mich dem Rhythmus des Textes anzuvertrauen. Mich dem Fluss des Rap, dem Stakkato des Gebets – man sieht die Neujuden förmlich ihren Körper beugen – oder dem Wasserfall des Geplappers hinzugeben.
Damit kommst Du auf den Aspekt der Musikalität von Cohens Prosa zu sprechen, über die es viel zu sagen gäbe. Karl Kraus schreibt in »Heine und die Folgen«: »Wer Literatur empfindet, muß Musik nicht empfinden oder ihm kann in der Musik die Melodie, der Rhythmus als Stimmungsreiz genügen.« Cohen hat diesen Satz in seiner Rezension von Jonathan Franzens »Kraus Project« 2013 in der »London Review of Books« recht eigenwillig paraphrasiert oder auf Prosa umgemünzt: »Kraus sagt, je mehr Sorgfalt ein Schriftsteller auf den Oberflächensound eines Satzes verwendet, desto mehr kann der Satz vom Sinn abweichen.« Das ist für den Übersetzer mindestens ein Freibrief, den Sinn der Wörter und Sätze hinter deren Rhythmus zurückzustellen. Und ich finde interessant, dass Du das Schockeln orthodoxer Juden assoziierst, die sich beim Beten wiegen, sich also bewegen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Meine eigene musikalische Assoziation war die des ‚Riffing’; Cohen, der Musik studiert hat und zunächst Komponist werden wollte, arbeitet manchmal wie ein Jazzmusiker und greift ein Motiv heraus, auf das er phantasievolle und spielerische Variationen produziert. Die Erzählung kommt nicht vom Fleck, der Autor moduliert einfach nur seinen Stoff und umkreist sein Thema, indem er Wortcluster auftürmt.
Cohens Text wird oft mit der Literatur von James Joyce und das Ende mit »Finnegans Wake« verglichen. Du wirst Dich nun an Joyce unmögliches Meisterwerk machen. Hast Du das Gefühl, dass Dir die Arbeit an »Witz« dafür hilft?
Ja natürlich, denn Cohen hat technisch einiges bei Joyce abgekupfert. Ironischerweise stand die Beschäftigung mit »Finnegans Wake« für mich aber am Anfang: Ich habe meine Magisterarbeit über dessen Übersetzbarkeit geschrieben, und Reinhard Markner und ich haben den abschließenden Monolog der Anna Livia übersetzt und veröffentlicht. Erst danach bin ich professioneller Übersetzer geworden, habe mich im Lauf der Zeit wieder zu komplexen Werken hochgeturnt und das Langstreckenübersetzen gelernt. Wallace’ »Unendlicher Spaß« und Cohens »Witz« wurden dann die Gesellenstücke, nach denen ich mich jetzt an »Finnegans Wake« als Meisterprüfung heranwage und damit zu meinen Anfängen zurückkehre.
Lieber Ulrich, um es mit Joyce zu sagen: „We’ll meet again, we’ll part once more“, wenn es soweit ist. Vielen Dank für das Gespräch.
Eine kürzere Fassung des Interviews ist in der taz – die tageszeitung erschienen.
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