»Cadenza for the Schneidermann Violin Concerto«, der nachgereichte Debütroman des Amerikaners Joshua Cohen, ist ein ebenso vergnüglicher wie ambitionierter Metaphernsalat, der ahnen lässt, dass mit der fortlaufenden Publikation seines Werkes noch Sensationelles kommt.
Literarische Vergleiche schießen zuweilen über das Ziel hinaus, sei es, weil sie gut gemeint sind oder weil sie einfach nur vielverheißend für die zugrundeliegende Lektüre klingen. Es gibt aber ein paar Autoren, die sind der Kritik so heilig, dass ihre Namen nur wohlüberlegt verwendet werden. Es ist dieser Umstand, der einen aufhorchen lässt, liest man sich durch die US-Kritiken des inzwischen auf vier umfassende Romane (ein fünfter entsteht gerade) und ebenso viele Erzählungsbände angewachsenen Werkes von Joshua Cohen. Da fallen Namen wie Gary Shteyngart, Saul Bellow und Thomas Pynchon, als deren würdiger Nachfolger der erst 36-jährige New Yorker ausgerufen wird, sogar auf den unvergleichbaren David Foster Wallace wird rühmend Bezug genommen.
Vor neun Jahren machte Cohen das erste Mal mit diesem Post-Post-Holocaust-Roman auf sich aufmerksam. Cadenza for the Schneidermann Violin Concerto handelt vom Auftritt des erfolgreichen »amerikanisch-deutsch-ungarisch-ruthenisch-ukrainischen« Geigers Laster in der Carnegie Hall. Ihm ist es vorbehalten, am Ende des 1. Satzes die Kadenz – das Solo, in dem er »die Beherrschung seines Instruments präsentieren kann« – aus dem hinterlassenen concerto seines Freundes Schneidermann zu spielen. Doch statt den Bogen über die Saiten seines Instruments zu führen, hebt er an, stundenlang über den verschollenen ungarisch-jüdischen Komponisten zu sprechen. »Glauben sie bloß nicht, diese Kadenz würde ihnen Aufschluss erteilen hinsichtlich (Stil und Ton der) Musik dieses Konzerts, das sie unterbrochen hat«, räumt er ein. Vielmehr ist sie eine dem Publikum aufgezwungene »Erinnerungsmasturbation«, ein sich reiben an der Vergangenheit in den eigenen und fremden Knochen sowie darüber, wie sich deren Vergegenwärtigung auf das Leben und Erleben legt.
Schneidermann wird in diesem epischen Totengesang zum Mythos erhoben, zur Projektionsfläche der jüdischen geprägten Klassik sowie ihrem fortdauernden Untergang. Laster macht ihn zum »dreihundert Jahre alten und doch zeitlosen Mann«, in dessen Biografie er die semitische Kultur(geschichte) und Philosophie seit Moses Mendelssohn spiegelt. Zugleich präsentiert er eine etwas weniger fiktive Lebensgeschichte, die in sich jedoch voller Widersprüche und Wissenslücken ist, der zufolge der Komponist Anfang des 20. Jahrhunderts irgendwo in Osteuropa geboren wurde und, im Gegensatz zu seiner Frau und seinen Töchtern, den Todeskammern von Auschwitz entkam. In den USA fristete er am Rand der amerikanischen Gesellschaft ein ebenso trauriges wie ärmliches Dasein.
»Nur wer kein Festland bewohnt, wohnt in der Musik«, schrieb einst Karl Kraus. Und als wäre es eine Rechtfertigung für seine Leben unter den Möglichkeiten ging Schneidermann vollkommen in seinen »Unphonien und Euphonien« auf, während er als ewig Fremder in einem fremden Land lebte, als ewig Verkannter in einer verkannten Gesellschaft. Schneidermann ist ein ausgegrenzter Überlebender, der nie mehr richtig am Leben war. »Denn am Leben zu sein, ohne in einer Kultur zu leben, ist eigentlich der Tod.«
Aber was kann man diesem Erzähler glauben, der, selbst mindestens neunzigjährig, vermeintlich eine Nacht lang eine pausenlose Suada auf seinen Freund und Vertrauten hält, als wäre die Erinnerung zu schmerzhaft, würde er einmal innehalten. Ist dieser Monolog überhaupt einer, der auf offener Bühne gehalten wird? Ist es nicht vielleicht eher der Film seines eigenen Lebens, der am inneren Auge des sterbenden Laster vorüberzieht? »Ein Raum, der einsam ist, wenn er leer ist, und genauso einsam, wenn er besetzt ist, ja, das ist die Bühne«, heißt es zu Beginn des Romans und später »Ich führe Selbstgespräche. Regieanweisungen« – ein Hinweis, der womöglich auf den obersten Regisseur in der ganz grundsätzlicheren Sache des Lebens hinweist.
Was wiederum auf die Filmkultur verweist, der sich Schneidermann und Laster jahrelang in ausgedehnten Matinees hingeben. Ausgestattet mit Whiskey geben sie sich dem Hollywood-Kino hin, von Indiana Jones bis Disney-Cinema ist alles dabei. »Alle Matineefilme sind ästhetisch unmittelbar zu Gott«, posaunt Laster in seiner Suada, mit einer Ausnahme. Dabei handelt es sich um Steven Spielbergs oscarprämiertes Holocaustdrama Schindlers Liste, eine »dreihundertminütige Travestie«, die Schneidermann dazu bringt, erst für einen Eklat im Kinosaal zu sorgen (weil dem Film die Farbe fehlt), um daraufhin spurlos vom Erdboden zu verschwinden. Laster wiederum veranlasst das, eine der bissigsten Analysen des Films vorzutragen. Die Auseinandersetzung mit der Vorführung des Films und ihren Folgen bildet eine Art Sinnzentrum ex negativo, in dem die Erzählung dieser Szene beständig um einen bestimmten Fragekomplex der Post-Holocaustgesellschaft kreist. Was wissen wir vom Holocaust? Was wollen wir wissen? und Was tun wir dafür, um echtes Wissen zu schaffen? Wenn Laster in seiner Analyse Konnektivitätsfehler im Films nachweist, dann geht es ihm weniger um den Film als vielmehr um uns alle, die wir diese Fehler in unserem Halb- und Unwissen um den Holocaust fraglos hinnehmen.
Zugleich eröffnet die Szenerie einen Zugang in Schneidermanns Seele. Der Holocaustüberlebende ist von einem immer wiederkehrenden Traum geplagt, in dem er die Tore von Auschwitz aufstößt und aus ihnen heraus in einen Kinosaal tritt. Den er dann aber nicht mehr verlassen kann, in den er eingesperrt ist und nicht zurück kann. Nun kann man fragen, wer will schon zurück nach Auschwitz, diesen anus mundi der Welt. Doch Schneidermann trennt die eigene Rettung vor dem Tod nicht nur von seinen Lieben – auch wenn an keiner Stelle Hinweise auf die Intensität der Verbindung zu Frau und Tochter gibt – sondern auch von seinem Leben, von seiner Biografie und der Anerkennung als Mensch, der in all seiner Verhangenheit in den europäischen Traditionen in das Amerika der fünfziger Jahre geworfen ist, wo er auf bekannte Klischees und Vorurteile trifft. Schneidermann lebt ein Leben als Gast in seinem eigenen Dasein, in »völlig unverhältnismäßigen Verhältnissen«, die offenbar nichts mit seinem Gefühl zu tun haben. Seine Flucht aus dem Film ist womöglich auch eine Flucht zu sich selbst zurück, auch wenn sie den Tod (der nie ausgesprochen, aber doch naheliegend ist) bedeutet.
Laster verbindet seine Suada von Schneidermanns Existenz mit der Erzählung seines eigenen Lebens, erzählt (in Anwesenheit der Ex-Frauen und Kinder) von seinem Scheitern als Ehemann und Vater, konfrontiert seinen ehemaligen Manager samt Nachkommenschaft mit dessen vermeintlichen Verfehlungen und rüttelt immer wieder das gewählte Publikum aus seinem hilflosen wie geduldig ausharrenden Habitus auf. Er verspottet das saturierte Publikum im Konzertsaal mit der alternativlosen Nonchalance eines Messias und geriert sich als greise Truman-Capote-Version im Mikrokosmos des Musikbusiness. Das alles ist aber nur das Hintergrundrauschen zu seiner Kadenz, die ganz dem jüdisch-ungarischen Komponisten Schneidermann gewidmet ist. Laster ist sein moderner Orpheus, beschreibt sich selbst als gealterter »Priester ohne Gott«, der seinem »Pythagormann. Schneidoras« das Hohe- und Grablied singt. »Ich bin nichts als eine vollgekritzelte Partitur aus Thesen und Antithesen.« Dieser Gesang führt die Sprache aus der schriftlichen Fixierung des Mediums Buch heraus hin zu einer starken oralen Markierung in der stundenlangen Suada. Motivisch wird dies in den Karl-Kraus-Zitaten vorweggenommen.
»Musik bespült die Gedankenküste«, heißt es da und entsprechend strebt Lasters Sprache und Denken in den verschiedensten Variationen zum Musikalischen hin. Da werden »Nippel pizzicato« gezupft oder, so simpel wie genial, der englische Ausdruck faggot dem Fagott gegenübergestellt. Lügen überschlagen sich »im prestissississississississimmo«, das Publikum wird mit musikalischen Signalen – »langsam, rit – ritardando« – um Geduld oder – »pssssssssssssst! ppppppppppppp« um Ruhe gebeten. Oftmals rutscht die Musikalität stärker in den Rhythmus, etwa wenn ein Aufzug »hoch hoch hoch in die Höhe« fährt, sich der Erzähler in die »Klein-klein-kleinkindheit« oder die »Tage und Tage und Tage des Träumens zurücksehnt«. Ein Schelm, wer hier an Nabokovs Humbert denkt, der seitenlang von »Lolita, Lolita, Lolita…« träumte. Derart durchsetzt sprengt Cohens gleichermaßen kraftvolles wie gelehriges Prosafeuerwerk jede Sprachregel. Grammatik, Struktur, Syntax und Lesegewohnheit werden in den Wind geschrieben, um Laster den spöttischen Ton zu verleihen, der seinem deutschen Namen gerecht wird. Ein Geschenk, dass sich David-Foster-Wallace-Übersetzer Ulrich Blumenbach diesem Werk verpflichtet hat. Welche Herausforderung damit einhergeht, belegt mitunter die Tatsache, dass Blumenbach für die Übertragung des erst noch kommenden Romanungetüms Witz das mit 50.000 Schweizer Franken dotierte Zuger Übersetzungsstipendium erhalten hat. Es ist auch Blumenbachs beeindruckender Übersetzung zu verdanken, dass man eine Ahnung davon bekommt, auf wie vielen Ebenen der Autor mit der Sprache spielt – etwa wenn er das fordernde »come on« des Originals bewahrt, um den musikalischen Anschluss »come prima, come sopra« in aller Leichtigkeit zu bewahren.
Im Kern geht es hier immer auch um die Frage, was es heißt, jüdisch zu sein. Quasi molto serioso führt Laster diese Frage eng heran an die Grundfrage der Musik. »Es gibt keinen Grund für Musik, wie es für Musik keine Erklärung gibt (Schneidermanns Denken drehte sich immer um Musik), wie es quasi keinen Grund für die Juden gibt, für den Juden, für Jüdischkeit, so gibt es auch keine Erklärung unseres Geistes und unserer Existenz, und wie es keine Verwendung für Musik gibt, so gibt es auch keine Verwendung für die Juden, für den Juden, für Jüdischkeit, Musik und Juden, sie sind beide völlig wertlos, fast vollkommen wertlos, gleichermaßen, und das ist der Grund, warum sie beide fast total und vollkommen ausradiert worden sind«. So provokant diese Szene ist, so konzise analysiert sie das wesentliche Element des Menschseins, verschiebt man nur ein wenig die Ebenen. Denn die Parallele zur Musik, die hier für das Jüdischsein so frappierend treffend herausgearbeitet wird, gilt doch für den Menschen als solchen. Er ist einfach nur da, ohne einen Zweck zu erfüllen. Cohen holt hier das Judentum heraus aus seiner Rolle der marginalisierten Religionsgemeinschaft und bindet es wieder ein in die Menschheitsgeschichte.
Dieses mit Philosophie, Religion, Musik und Kunst, europäischer Geschichte und amerikanischem Lifestyle durchsetzte, gleichermaßen kraftvolle wie gelehrige Prosafeuerwerk sprengt jedes Sprachkorsett. So wie auch der Zivilisationsbruch des Holocaust jedes Vorstellungsvermögen übersteigt. Denn nur daran soll sich dieses kühne Debüt messen lassen, das im Kern immer um die Bedeutung des Jüdischseins in einer geschichtsvergessenen Gegenwart kreist.
Leicht zu lesen ist dieser selbstentblößende Holocaust-, Schelmen- und Künstlerroman, diese eigensinnig wilde Kadenz, deren Assoziationsketten sich oft über viele Seiten erstrecken, keineswegs. Cohen kennt die Grenzen der Sprache und sprengt sie bewusst. Es ist seine Art, gegen den vermeintlichen Tod der Literatur vorzugehen, gegen die Langeweile der Fiktion in der amerikanischen Literatur, die in seinen Augen oft verpackte Biografie ist, wie er vor einem Jahr in einem Interview ausführte. Lasters nächtliche Rede fordert den Leser in all seiner Aufmerksamkeit und Konzentration. Cadenza for the Schneidermann Violin Concerto führt hinab in die Untiefen der jüdischen Selbstreflektion und deren »xte Parodie einer Parodie einer Parodie ihrer selbst«, die mit dem Anruf eines Taxifahrers bei der Polizei genüsslich auf die Spitze getrieben wird.
Am sehnsüchtigsten muss man nun den, in der Bibliografie des Autors zweiten Roman erwarten, der bis heute als opus magnum anerkannten Fiktion einer neujüdischen Bewegung mit Anlehnungen an Monthy Pythons Das Leben des Brian, der passenderweise den Titel Witz trägt. Auf diesen durch unzählige Nebenhandlungen und Gedankenströme dahinmäandernden Roman gehen die DFW-Vergleiche zurück. Und auch Blumenbach räumt ein, dass Witz dermaßen schwer sei, dass er es nur »mit viel Kaffee und höchster Konzentration« schaffe, 25 Seiten an einem Abend zu lesen. Mit diesem Wahnsinnsroman hat sich Cohen endgültig vom Familientrauma, der Ermordung zahlreicher Verwandter mütterlicherseits, freigeschrieben. Seither spielt der Holocaust nur noch eine marginale Rolle in seinem Schreiben, er hat sich vor allem dem ambivalenten Dasein in der Internetgesellschaft zugewandt. So in in dem noch zu übersetzenden Book of Numbers oder seinem vor zwei Jahren hierzulande erschienenen Erzählungsband Vier neue Nachrichten, der nur mäßige Reaktionen hervorrief. Darin heißt es an einer Stelle: »Meine Eltern haben Europa überlebt, bloß damit ich darüber schreibe, sie haben Europa überlebt, bloß damit ich’s lasse.« Als Cohen diese Zeilen schrieb, war seine Entscheidung, zu schreiben, längst getroffen.
Ärgerlich ist die Mutlosigkeit des Verlags bei der Wahl des Buchtitels. Denn Cohens kluge Zeile »Kadenz für Schneidermann«, die dem Original vorangestellt ist, wird nicht nur im ersten Absatz vielseitig aufgegriffen – was den Leser der deutschen Fassung eher irritiert als aufklärt –, sondern ist auch viel näher an dem dran, das Laster hier auf seinen Freund und Vertrauten Schneidermann ex tempora singt.
»Alle Geräusche der Zeitlichkeit seien in meinem Stil gefangen. Das mache ihn den Zeitgenossen zum Verdruss«, stellt Cohen mit Karl Kraus seinem Roman voran. Man muss dies im besten Sinne wörtlich nehmen.
[…] einfacher macht als andere und Blumenbach (u.a. Übersetzer von David Foster Wallace und Joshua Cohen) in einer anderen Liga spielt, manifestiert sich auch auf anderen Ebenen. Besonders sichtbar wird […]
[…] in Form und Umfang. »Witz« folgte seinem Debütroman »Solo für Schneidermann, den ich an anderer Stelle als »ebenso vergnüglichen wie ambitionierten Metaphernsalat« beschrieben habe. In seinem […]
[…] nimmt, um stundenlang die tragische Geschichte des ungarisch-jüdischen Komponisten zu erzählen (»Solo für Schneidermann«). Oder die geniale Doppelgänger-Geschichte über einen gescheiterten Autoren namens Joshua Cohen, […]