Literatur, Roman

Ein Versager, der abhebt

In Romanen wie »Handbuch für den russischen Debütanten« oder »Super Sad True Love Story« hat sich Gary Shteyngart immer wieder mit seiner Lebensgeschichte auseinandergesetzt. Eine echte Aufarbeitung der eigenen Biografie findet aber erst in den seinen Erinnerungen »Kleiner Versager« statt.

Als die jüdischen Eltern des Ich-Erzählers in Gary Shteyngarts burlesken Lebenserinnerungen beschließen, aus der Sowjetunion auszureisen, hat ihr sechsjähriger Spross den Bauch voll unverdautem Kohl und Schwierigkeiten beim Stuhlgang. Tagelang zwingen sie ihn auf das Örtchen, aber es tut sich nichts in seinem Unterleib. Die Konsequenz, die der amerikanisch-jüdische Schriftsteller mit russischen Wurzeln zieht, gibt den selbstironischen Grundton für diesen Rückblick auf ersten 43 Jahre im Leben des Autors vor. »Der Kohl in mir kennt unser Reiseziel besser als ich. Er will um jeden Preis in den Westen ausreisen und sein Leben in einem glänzenden Wiener Klo beenden.«

Der 1972 in Leningrad geborene Shteyngart wurde von seinen Eltern 1979 als »Weizenjude« über die DDR, Österreich und Italien in die USA ausgewandert und dort der jüdischen Diaspora übergeben, aus der so wundervolle Sardoniker wie Woody Allen, Philip Roth, Nathan Englander oder Joshua Ferris hervorgegangen sind. Nun hat er, mitten in der Blüte seiner Autorenkarriere, schon eine Art Memoire vorgelegt. Normalerweise schreibt man derartige Erinnerungen eher am Ende seiner Karriere, um ein Kapitel, das immer wieder zum Schreiben ermuntert, abzuschließen. Aber Shteyngart geht es gar nicht darum, mit etwas abzuschließen, wenngleich er natürlich die prägenden Erlebnisse seiner Familie in seinen Romanen verarbeitet hat.

So ließ er sich in seinem Debütroman Handbuch für den russischen Debütanten von Vladimir Girshkin vertreten, der mit seiner Familie aus Leningrad nach New York auswandert, um diese als russischer Mafiosi in eine osteuropäische Fantasiestadt wieder zu verlassen. In seiner Groteske Snack Daddys abenteuerliche Reise zeichnete er das skurril-schaurige Porträt des modernen, in der Welt verlorenen Russen, um schließlich in seinem Gesellschaftsliebesroman Super Sad True Love Story die eigenen Liebessehnsüchte zu verarbeiten.

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Gary Shteyngart: Kleiner Versager. Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt. Rowohlt Verlag 2015. 480 Seiten. 22,95 Euro. Hier bestellen

Kleiner Versager ist im Kern auch eine solche super sad true love story, in der er bis an den Ort seiner frühesten Erinnerungen zurückkehrt, um endlich zu verstehen, was seit der Flucht aus der Sowjetunion mit ihm und seiner Familie geschehen ist. »Immer wieder habe ich mich in meinen Romanen einer bestimmten Wahrheit angenähert, nur um mich schnell wieder abzuwenden, mit dem Finger darauf zu zeigen, zu lachen und schleunigst in sichere Gefilde zurückzuhuschen«, bekennt er in seinem neuen, in den USA als »unumstrittenes Meisterwerk« bejubeltes Werk Kleiner Versager. Er räumt darin mit den autobiografischen Lasten auf, die er bereits in seinen fiktionalen Arbeiten anklingen ließ. Zugleich versucht er, Antworten auf Fragen zu finden, die ihm immer wieder begegnet sind. Seine Erinnerungen und Rückblicke seien auch ein Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, was die Sowjetunion eigentlich sei.

Dabei beginnt sein Rückblick gar nicht in der Sowjetunion, sondern 1996 in New York, als er beschloss, Autor zu werden. Seine Familie nahm diese Neuigkeit mit wenig Begeisterung auf: »Aber was für ein Beruf ist das – Schriftsteller?« fragte sie. Die Antwort gibt Shteyngart ihr spätestens mit diesem Buch, in dem er die eigene Existenz als »Gary Gnu der Dritte« und später als »Struwwel-Shteyni« beschreibt als Schattendasein zwischen russischer Seele, jüdischer Tradition und amerikanischem Lifestyle.

Die Chronologie hebt er dabei nur im Einstieg auf, schon im zweiten Kapitel wechselt er in die klassische Erzählweise entlang der Familiengeschichte und durch die Brille des an sich selbst (ver)zweifelnden Sohnes jüdischer Migranten, die mit der Auswanderung »das Schlachtfeld unserer wölfischen Verwandtschaft« verlässt und in den USA zum Nahkampf übergeht: wir »lecken unsere Alte-Welt-Wunden und brauen frische Neue-Welt-Kümmernisse zusammen«, beschreibt Shteyngart die Atmosphäre in seiner Familie im Exil. Für die Charakterisierung seiner Eltern findet er dabei eine Ausdrucksweise, die sowohl seine eigene Rolle als auch die seiner Eltern im Weltschicksal verortet: »Ich bin klein, mein Vater ist groß. Aber die Vergangenheit – die ist am größten.« Von seiner Mutter schreibt er, dass seine Erinnerung in zwei Bilder zerfalle; in das des verträumten und zerstreuten Mädchens am Klavier auf einem Foto und das der zielstrebigen und ehrgeizigen Migrantenmutter. »Ich habe nur eines dieser beiden Mädchen kennengelernt«, aber das sehr gut, schließt er.

Im Zentrum seiner mit zahlreichen Fotografien unterlegten Erinnerungen stehen aber nicht die Eltern, sondern die eigene packende Coming-of-Age-Erzählung, in der er seine ereignisreiche Identitätssuche, geprägt von manischer Selbstverleumdung und rauschhaften Ausbrüchen, schildert. Der selbstironisch-sarkastische Ton erinnert dabei nicht zufällig an die eingangs erwähnten Sardoniker: »Leute, die glauben, Literatur müsse ERNSTHAFT sein – ein Bauplan für eine Rakete, die niemals abhebt –, sind im besten Fall bösartig, im schlimmsten Fall antisemitisch.« Shteyngart und dessen Literatur heben ab, eben weil sie Witz und Komik nicht scheuen (weder im Buch selbst noch in dem überaus sehenswerten Buchtrailer mit Superstar James Franco in der Rolle des schwulen Ehemanns und Jonathan Franzen als Freudscher Psychologe). Die ständige Nähe zu Zusammenbruch und Tragödie rückt Shteyngarts Kleiner Versager aber auch nah an die Klassiker der russischen Literatur.

Schriftsteller zu sein heißt nicht, sich von der Familienbiografie zu befreien, sondern sich mit ihr zu versöhnen. Gary Shteyngart beweist mit diesem vergnüglichen, federleichten, aber niemals oberflächlichen Werk, dass er einer der großen amerikanischen Schriftsteller ist.

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