Erzählungen, Literatur

Von Hoffnungen und Wirklichkeiten

Der Amerikaner Joshua Ferris ist einer der jungen Wilden der amerikanischen Literatur. In seinem Roman »Mein fremdes Leben« erzählt er von der gefährlichen Sehnsucht nach Anerkennung und Gemeinschaft.

»Deine Tools haben Klatsch und Tratsch, Hörensagen und Behauptungen auf die Ebene gültiger, regulärer Kommunikation erhoben«, wirft der Internetskeptiker Mercer in Dave Eggers Google-lookalike-Roman Der Circle seiner naiven Ex-Freundin Mae Holland vor. Der misanthropische Anti-Held in Joshua Ferris dritten Roman Mein fremdes Leben fände in Mercer einen Bruder im Geiste, denn auch der angesehene Zahnarzt Dr. Paul C. O’Rourke hält das Internet für ein »Schmuddelmedium« und das Smartphone für eine das süchtige Selbst unablässig spiegelnde »Ich-Maschine«, mit dem die Menschen »gar nicht mehr anders können, als voll vernetzt zu sein«. Dass er dennoch eine innere Abhängigkeit zu seiner Ich-Maschine entwickeln wird, hat ähnliche und doch ganz andere Gründe.

O’Rourke ist ein Mann mit einem komplexen Innenleben. Von Kindesbeinen an hat ihn sein Vater mit zum Baseball-Team der Red Sox mitgenommen. Hier hat er gelernt, was gemeint ist, wenn man von Leidensfähigkeit eines Fans spricht. Diese Fanschaft ist eines der wenigen Dinge, die seinem Leben Halt geben. Sie hält die letzten Erinnerungen an seinen Vater wach hält, der sich, von Depressionen geplagt, hinter dem Duschvorhang in der heimischen Badewanne eine Kugel in den Kopf gejagt hat, als O’Rourke noch ein Kind war. Von seiner Mutter wurde er daraufhin zu sämtlichen religiösen Vereinigungen geschleppt. Vergebens, denn getrauert wurde »auf typisch amerikanische Weise – fest vereint vor dem Fernseher«, wie er sich erinnert. Vereint aber zugleich einsam, so dass O’Rourke Erlösung in seinen Beziehungen sucht. Er wirft sich den Familien seiner Geliebten förmlich an den Hals, biedert sich an, um den Ersatz für die verloren gegangene Familie zu finden. Eine Projektion, wie er weiß, die er »Mösenklemme« nennt. „Wer in der Mösenklemme steckt, der glaubt, all das gefunden zu haben, was zuvor im Leben gefehlt hat.“

Was ihm fehlt, ist Gemeinschaft, was er nicht braucht, ist der Glaube an eine höhere Kraft. Dennoch lassen ihn Fragen der Transzendenz nicht los. In Liebesdingen gerät er immer wieder an junge Frauen aus tief religiösen Familien. Erst läuft er mit der schönen Sam Santacroce auf den Abgrund der ewigen Liebe zu, um jäh über die Hürde ihres irischen Katholizismus zu stürzen, dann lässt er sich auf Connie Plotzen und ihre Mischpoche ein. Für Connie und die Aussicht auf ein Zuhause setzt er sich bis zur praktizierten Orthodoxie mit dem Judentum auseinander. Aber alle Thorastudien reichen nicht, um einen Glauben an Gott zu entwickeln, weshalb auch diese Liebe scheitern muss.

Seine Zweifel am göttlich gelenkten Dasein sieht er täglich in seiner Praxis bestätigt. Jeder geöffnete Mund präsentiert sich ihm als Memento mori. Der nachlässige Gebrauch von Zahnseide – mit diesem Bild beginnt der Roman (eine Allegorie auf das Leben am seidenen Faden?) – hinterlässt eben seine Spuren: verrottete Zähne, chronisch entzündetes Zahnfleisch und kariöse Molaren mit freiliegenden Zahnhälsen. Überall lauert die Vergänglichkeit. Erlösung verschafft nicht Gott, sondern Betäubungsspritze, Bohrer und Zange.

Der Misanthrop Paul O’Rourke könnte einem Roman von Philip Roth entsprungen sein. Zwar fehlt ihm noch die senile Geilheit, die die letzten Roth-Helden umgibt, aber er neigt wie ein Nathan Zuckermann zu weltanschaulichen Provokationen, lebt seine intellektuelle Überlegenheit in sozialpolitischen Grundsatzdebatten aus und pflegt penibel seine Ängste und Neurosen. Wie bei Roth spielen in diesem Roman die modernen Kommunikationsmittel keine tragende Rolle, weil es in Mein fremdes Leben um die Beziehungen zwischen den Menschen geht. Die technischen (Un-)Möglichkeiten des Internets, von denen im Klappentext die Rede ist, haben nur eine dramatische Brückenfunktion.

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Joshua Ferris: Mein fremdes Leben. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Luchterhand Literaturverlag 2014. 384 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Als Internetskeptiker hat Dr. Paul C. O’Rourke nicht einmal eine Seite für seine Praxis eingerichtet. Umso erschrockener ist er, als eines Tages eine solche Internetpräsenz unter seinem Namen auftaucht. Auf Facebook und Twitter gibt ein gewisser #drpaulcorourkedental zunächst halbphilosophische Weisheiten »In Amerika gilt die Glaubensfreiheit nur, solange man überhaupt etwas glaubt. Glaubt man gar nichts, ist es ein strafwürdiges Verbrechen.« von sich. Die Verlautbarungen auf den unterschiedlichen Portalen bekommen zunehmend einen antisemitischen Anstrich. Da ist von einem Massaker im Seir-Gebirge durch die Israeliten und einem letzten Nachfahren des Stammes der Amalekiter die Rede. Dieser Stamm wird in diesen Einträgen als biblisches Volk, das »selbst die Juden um ihre Geschichte beneidet« beschrieben, weil seine eigene Geschichte »nicht unterdrückt, sondern zu einem Nichts zerdrückt« worden sei. Angesichts solcher Aussagen ist es kein Wunder, dass der Amalek-Kult dem Judentum nicht nur Dorn im Auge ist, sondern als »Antisemitismus in jeder Form« wahrgenommen wird, heißt es im Roman.

O’Rourke versucht herauszufinden, wer in seinem Namen diesen Unsinn von sich gibt, denn er gerät in seiner Praxis unter Druck. Der Klatsch und Tratsch aus dem Internet nimmt auch in Ferris’ Roman den Rang gültiger Kommunikation ein. Er beauftragt einen Antiquar, den wenigen Spuren der Amalekiter nachzugehen. Dieser findet tatsächlich verschüttete Spuren einer Quasireligion von Agnostikern, die nicht nur eigene Feiertage hat, sondern sogar ihre eigene Version der Theodizee, also des inneren Widerspruchs in ihrem Glauben. Die Amalekiter empfingen dem Mythos zufolge die göttliche Offenbarung, an Gott zu zweifeln. Wie aber soll man an einer geoffenbarten Göttlichkeit zweifeln? Genau wird dies in den 240 Liederungen (Psalmen) der Kantavetikel (Evangelien) – übertragen von König Agag beziehungsweise Prophet Safek, der als erster »Ulm« in die Geschichte eingeht – nicht dargestellt.

Bei dem Wort »Ulm« wird Paul O’Rourke aufmerksam, denn er erinnert sich an einen Patienten, der mit den Worten »Ich bin ein Ulm – und Sie auch!« seine Praxis verlassen hat, um nach Israel überzusiedeln. Nun hat er nicht nur eine Ahnung, wer online »sein Leben gekapert« haben könnte, sondern findet in seinem dreisten Alter Ego auch einen Ansprechpartner, der ihm bei der Selbstsuche behilflich sein kann. So erfährt er, dass er womöglich einer der letzten zwei- bis dreitausend noch lebenden Nachfahren des ersten Ulms ist. Die gottfreie und zugleich religionsähnliche Gemeinschaft, die er Zeit seines Lebens suchte, um der inneren Einsamkeit zu entfliehen, scheint greifbar nah.

Joshua Ferris legt mit Mein fremdes Leben erst seinen dritten Roman vor, aber seit seinem viel gelobten Debüt Wir waren unsterblich schreibt er, als hätte er nie etwas anderes getan. Schon mit seinem Erstling schaffte er es auf die Shortlist des amerikanischen National Book Award, sein zweiter Roman Ins Freie hob ihn auf die Liste der 20 besten Autoren unter 40 des renommierten Literaturmagazins The New Yorker. Mit Mein fremdes Leben gelangte er in diesem Jahr umgehend auf die erstmals für nicht-britische Autoren geöffnete Shortlist des britischen Man Booker Prize.

Stilistisch erinnert das an Philip Roth, aber auch an dessen Erben Nathan Englander und Shalom Auslander. Spielerisch jongliert Ferris mit Fragen wie Wer bin ich? Was will ich? und Woran glaube ich? Auf mäandernde Textschlangen und zähe Exkurse in philosophische Debatten verzichtet er dabei vollkommen. Stattdessen bleibt er ganz bei seinen Protagonisten, spiegelt ihr biografisch belastetes Innenleben vor den gegenwärtigen Herausforderungen des Alltags. Dies liest sich nicht zufällig wie eine vergnügliche Vorlesung über ideologische Starrköpfigkeit und ihr Ansteckungspotential. Mein fremdes Leben ist eine ebenso amüsante wie nachdenkliche Allegorie auf die Fundamentalismen der Gegenwart. Der aktuelle Krieg der Religionen im Nahen und Mittleren Osten findet hier ebenso seinen rechtmäßigen Platz wie der gegenwärtige Kulturkampf zwischen Europa und Russland oder Amerika und China. Am Ende ist dieser Roman aber vor allem eine Allegorie auf den Clash of Hopes and Realities im Inneren des Menschen, auf die Sehnsucht danach, Anerkennung und Gemeinschaft zu finden. Das Fernrohr auf der Titelseite des Romans verweist auf diese Selbstsuche, nicht – wie vermutet werden könnte – auf das Motiv der Spionage. Es geht hier um Transzendenz, nicht um Transparenz. In einer digitalisierte Welt, in der jeder Lebensweg gleichermaßen zugänglich wie verbaut erscheint und hinter jeder Ecke ein neuer Marktschreier die (Er-)Lösung parat hält, geht uns dieser große Roman alle an.

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