Literatur, Roman

Nicht einmal ein Rauschen

Amerikas größter lebender Romancier Don DeLillo schreibt noch einmal über die Welt am Abgrund. Sein neuer Roman »Die Stille« hält uns in aller Prägnanz die Gegenwart vor Augen.

Don DeLillo schreibt in seinem neuen Roman noch einmal über die Welt am Abgrund. »Die Stille« ist eine erstaunlich knappe, aber treffende Allegorie auf die zunehmende Sprachlosigkeit in Trumps Amerika, in der er zeigt, wie nah diese zutiefst verstörte und neurotische Gesellschaft am Abgrund wandelt.

»Jeder hat heute eine Geschichte zu erzählen«, heißt es zu Beginn, als nicht nur beinahe ein Flugzeug wegen eines plötzlichen Systemausfalls abgestürzt ist, sondern dies nur ein Zeichen für etwas Größeres ist. Über DeLillos New York im Frühjahr 2022 – Trump ist tatsächlich ein zweites Mal gewählt worden – liegt eine seltsame Stille: die Bürotürme liegen im Dunkeln, die U-Bahn ist liegengeblieben, digitale Polizisten lassen die Arme hängen und das Dauerblinken der Bildschirme pausiert. Kein Lockdown, sondern ein Shutdown der Systeme.

Don DeLillo: Die Stille. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 112 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen

Was macht es mit uns, die wir medial permanent berieselt und ständig unter Strom sind, wenn jemand den Stecker zieht? Angesichts der weltweiten Corona-Krise scheint kaum eine Frage aktueller. Amerikas größter Romancier fängt auf wenig mehr als einhundert Seiten den Irrsinn der Gegenwart ein.

Der Amerikaner gilt neben Thomas Pynchon als einer der wichtigsten Postmodernisten, unter anderem David Foster Wallace, Jonathan Franzen und Donald Antrim soll er beeinflusst haben. John Banville nennt ihn den »Poeten der Entropie«, Joshua Ferris sieht in ihm »den scharfsinnigsten Chronisten der Gegenwart« und Joyce Carol Oates attestiert ihm eine »beängstigende Wahrnehmung«. Diese fließt über die von Frank Heibert schnörkellos ins Deutsche übertragene Sprache direkt in die Köpfe seiner Leser:innen.

DeLillo lässt seine Figuren erst in die Bodenlosigkeit stürzen und dann – isoliert und bei edlem Whiskey – über diverse Verschwörungstheorien diskutieren. »Ist es nicht seltsam, dass gewisse Einzelpersonen den Shutdown, den Burn-Out anscheinend akzeptieren?«, fragt da eine der fünf Figuren in DeLillos Kammerspiel, bevor das Dräunen beginnt. Da ist von einer Elite die Rede, die sich mit Knöpfen im Ohr vor der globalen Stille schützt, von geheimen Missbrauchszirkeln – was an Jeffrey Epsteins exklusiven Sexclub erinnert, den Ilija Trojanow in seinem gerade erschienenen Roman »Doppelte Spur« in den Blick nimmt –, von einem Krieg mit Cyber- und Biowaffen, vom digitalen Wettrüsten, einem bewusst lancierten Finanzchaos und allgegenwärtiger Überwachung. Auf den Straßen kommt es zu Protesten – ob gegen die Corona-Maßnahmen oder für #BlackLivesMatter bleibt offen.

DeLillo zeigt in diesem stark kondensierten Text, wie nah die Welt am Abgrund wandelt. »Die Stille« liest sich wie eine verkürzte und aktualisierte Variation seines 1985 mit dem National Book Award ausgezeichneten Romans »Weißes Rauschen«, nur dass hier das bedrohliche Rauschen der Informationsgesellschaft von einer nicht weniger angenehmen Stille abgelöst wird. Sie steht für die Sprachlosigkeit unserer Tage, die sich hinter dem Geschrei und Palaver der Ideologen verbirgt, aber auch für unsere Abhängigkeit vom Rauschen der Medien und die Unfähigkeit, auch in Ausnahmesituationen die Ruhe zu bewahren. Und auch wenn der Krieg auf den Straßen New Yorks noch nicht ausgebrochen ist, so ist doch seine Möglichkeit allgegenwärtig.

Hoffnung macht DeLillo mit diesem Roman nicht, aber als Mahnung kann man ihn schon lesen. »Wir müssen nur unsere Lage betrachten. Was immer da draußen ist, wir sind immer noch Menschen, die menschlichen Splitter einer Zivilisation.«

2 Kommentare

  1. […] Don DeLillo schreibt in seinem neuen Roman noch einmal über die Welt am Abgrund. »Die Stille« ist eine erstaunlich knappe, aber treffende Allegorie auf die zunehmende Sprachlosigkeit in Trumps Amerika, in der er zeigt, wie nah diese zutiefst verstörte und neurotische Gesellschaft am Abgrund wandelt. Der Roman spielt in New York im Frühjahr 2022 – Trump ist tatsächlich ein zweites Mal gewählt worden – und die Stadt wird von einem technischen Shut-Down in Bann gehalten. Durch den Ausfall der Systeme lässt der Amerikaner seine Figuren erst in die Bodenlosigkeit stürzen und dann diverse Verschwörungstheorien zitieren. »Ist es nicht seltsam, dass gewisse Einzelpersonen den Shutdown, den Burn-Out anscheinend akzeptieren?« Das »Weiße Rauschen« aus seinem 1985 mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman wird hier von einer nicht weniger angenehmen Stille abgelöst (hier die ausführliche Rezension). […]

  2. […] der renommiertesten Übersetzer Deutschlands. Souverän und wortgewaltig seine Übertragungen von Don DeLillo, George Saunders und Richard Ford, Raymond Queneau, Boris Vian oder Yasmina Reza. Nun hat er George […]

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