Er gehört zu den Granden der amerikanischen Literatur. Der Autor Philip Roth glänzt mit seinem Roman »Nemesis«, einer düsteren Tragödie vor fiktiv-historischem Hintergrund, einmal mehr – und womöglich ein letztes Mal.
1944. Der Sommer in Newark ist heiß und voller Leid. Täglich erreichen die Bewohner Nachrichten aus Europa, die von gefallenen Männern, Söhnen und Freunden berichten. Doch es kommt noch schlimmer, als eine verheerende Polioepidemie ausbricht. Inmitten dieser Epidemie wirkt der junge Sportlehrer Eugene »Bucky« Cantor wie ein Fels in der Brandung. Dem Ausnahmeathleten ist aufgrund einer Sehschwäche der Zugang zum Militärdienst versagt worden. Daher hat er die Ferienaufsicht an der East Side Highschool in Newark übernommen, während seine Freunde in Europa an der Front stehen. Ein Himmelfahrtskommando angesichts der Bedrohung, doch mit der Pflichtschuldigkeit des unfreiwillig von der Front Ferngehaltenen nimmt Bucky Cantor diesen in Newark ausbrechenden Krieg, als den er die Epidemie empfindet, an. Dennoch empfand er tief in seinem Inneren »die Scham eines Mannes, dessen persönlicher Einsatz den entscheidenden Unterschied gemacht hätte«. Nun in der bedrohten Heimat sein Bestes zu geben, ist das Einzige, was ihm bleibt.
Diese schicksalhafte Entscheidung Cantors ist der Ausgangspunkt in Philip Roth’ neuen Roman Nemesis, einmal mehr ein Meisterwerk in seinem einmaligen literarischen Oeuvre. Es sind diese oft einsam getroffenen Entscheidungen und ihre Folgen, die immer wieder im Zentrum seiner Romane stehen. Mit Nemesis findet der Romanzyklus, der 2006 mit Jedermann begann und seither mit der Beerdigung des Roth’schen Alter Egos Nathan Zuckermann in Exit Ghost (2007), der Shakespeariade rund um Marcus Messner Empörung (2008) und dem Drama um den alternden Schauspieler Simon Axler in Die Demütigung (2009) jeweils neu auf den Höhepunkt getrieben wurde, zweifellos seine Krönung. Der Abschlussroman lässt die Problematiken des Zyklus in der Frage, worin der Sinn des Lebens liegt, kulminieren.
Die Polioepidemie fordert mit Herbie Steinmark und Alan Michaels schnell ihre ersten Todesopfer in Cantors Feriengruppe. Insbesondere der Tod von Alan Michaels nimmt ihn mit, da er sich in dem talentierten jungen Sportler selbst wieder erkennt. Seine Betroffenheit lässt ihn zum ersten Kämpfer in diesem inneramerikanischen Krieg werden. Er ist derjenige, zu dem alle aufzuschauen und dessen Handeln alle zu erwarten scheinen. Obwohl ihm die Krankheit mit jeder Seite des Romans näher auf den Leib kriecht, führt er die Ferienbetreuung unverändert weiter. So erhält er den Kindern in seiner Obhut eine Normalität aufrecht, die es in Newark nicht mehr gibt. Der Krankheit aus dem Weg zu gehen und Newark zu verlassen kommt für Bucky Cantor nicht infrage, denn »wie für seinen Großvater war für Mr. Cantor nicht die Religion eine Pflicht, sondern die Pflicht eine Religion.«
Zugleich aber gerät der junge Lehrer in einen inneren Konflikt, ausgelöst von der Begegnung mit Alan Michaels Vater. Als Cantor ihm einige tröstende Worte in sein Zelt der Trauer zu soufflieren sucht, entgegnet ihm dieser fragend: »Warum hat Alan Kinderlähmung gekriegt? Warum musste er krank werden und so sterben? … Alles, was er gemacht hat, hat er von Anfang an richtig gemacht. Und dabei war er immer fröhlich. Immer zu Scherzen aufgelegt. Warum musste er sterben? Ist das gerecht? … Man macht immer alles richtig, immer und immer und immer, von Anfang an, man versucht, ein vernünftiger Mensch zu sein, ein hilfsbereiter Mensch – und dann das! Wo ist da der Sinn in diesem Leben?« Hier taucht die zentrale Frage, die sich durch Roth’ gesamtes Werk zieht und aus seinen letzten Romanen nicht wegzudenken ist, im direkten Zitat erstmals auf.
Bucky Cantor weiß, dass das Schicksal von Alan Michaels und seiner Familie weder gerecht noch sinnvoll ist. Er konfrontiert sich selbst mit der Frage, warum also diese Krankheit über die Stadt und sein Leben hereingebrochen ist und warum sie mit den Kindern vor allem die Wehrlosesten der Wehrlosen trifft? Hinter diesen Fragen steckt die viel zentralere Frage, warum ein allmächtiger und gütiger Gott das Elend in der Welt zulässt. Dieser selbst für Gläubige und Theologen bis heute nicht beantwortete Frage räumt Roth in seinem neuen Roman viel Platz ein, ohne jedoch für sich zu beanspruchen, die eine Antwort gefunden zu haben. Im gesamten Roman werden agnostische und atheistische Positionen mit der Vorstellung einer vorbestimmten und von einer höheren Macht gelenkten Welt konfrontiert.
Was für Cantor keineswegs in Frage kommt, nämlich die Stadt zu verlassen und sich seiner Aufgabe zu entziehen, ist der sehnlichste Wunsch seiner Freundin Marcia Steinberg. Diese drängt ihn, die Stadt zu verlassen und sich zu ihr in ein Feriencamp in die Berge versetzen zu lassen. Dahinter verbirgt sich nicht nur ihr Wunsch nach seiner Nähe, sondern auch der damalige Irrglaube, frische Luft und sportliche Aktivität würden den Poliovirus fernhalten. Kaum vorstellbar, dass ein gutes Jahrzehnt vor der Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes die Naivität und Hilflosigkeit im Umgang mit der Krankheit derart hoch war. Philip Roth aber führt seinen Lesern eindrucksvoll vor Augen, wie die Menschen angesichts der Bedrohung von lebenslangen Lähmungen, der »Eisernen Lunge« oder dem Erstickungstod an diesem Aberglauben festhielten. Als könnten Strohhalme einem Ertrinkenden Halt in einem tobenden Meer bieten.
Lange ist Cantor unentschlossen, ob er Marcias Wunsch nachkommen und damit seiner Verantwortung entfliehen kann. Denn in dem sorgenfreien Lager in den Bergen »wurde er nicht gebraucht«. Und doch kündigt er schließlich seinen Job als Ferienbetreuer in Newark und tritt einen neuen als Sportlehrer in dem Feriencamp in den Bergen an. Anfangs scheint dies die richtige Entscheidung gewesen zu sein, Roth baut hier auf wenigen Seiten eine paradiesisch anmutende Idylle auf, nachdem er die Zustände in Newark als biblische Hölle inszeniert hatte. Nicht nur, dass die kühle und frische Luft in dem Lager inmitten der bergigen Wälder eine Wohltat nach der drückenden Hitze in der Stadt ist. Alan Michaels findet seine Reinkarnation in dem jungen Sportler Donald Kaplow und Bucky Cantor einen neuen Eleven. Mit Marcia genießt Cantor in den Nachstunden zärtlich die wieder gewonnene Zweisamkeit.
Ein erster Schatten legt sich über die Idylle, als Marcia mit ihm über den Sinn des Lebens spricht. Seinen Zweifeln angesichts der gemachten Erfahrungen inmitten der verheerenden Epidemie begegnet sie immer wieder mit Gottesverweisen, bis er ihr barsch entgegnet: »Dein Gott gefällt mir nicht, also bring ihn nicht ins Spiel. Er ist zu gemein für meinen Geschmack. Er verbringt zuviel Zeit damit, Kinder zu töten.« Doch sind dies nur die dunklen Vorboten der Katastrophe, die zwei Wochen nach seiner Ankunft über das Lager hereinbricht. In dem bisher verschonten Feriencamp bricht Polio aus und für Cantor gibt es nur eine Gewissheit: Er ist schuld. Wer sonst, schließlich ist mit Donald Kaplow derjenige erkrankt, mit dem er die meiste Zeit im Lager verbracht hat. Wer, wenn nicht er, hat Krankheit und Tod in das Lager eingeschleppt? Nur wenige Tage nach Kaplows Erkrankung bricht auch bei Bucky Cantor die Krankheit aus und zeichnet ihn für sein Leben.
Das alles verschlingt der Leser ebenso atem- wie fassungslos. Einzig der seltsam anmutende Erzählstil in der dritten Person verwirrt. Denn der scheinbar allwissende Erzähler spricht nie von sich, sondern immer von Mr. Cantor. Wer ist es also, der hier erzählt? Es ist ein ehemaliger Schüler Cantors, Arnie Mesnikoff. Auch er erkrankte an Polio, blieb aber von der Krankheit – wie auch Cantor – für sein Leben gezeichnet. Mehr als 30 Jahre später begegnet er seinem ehemaligen Lehrer auf der Straße und beide kommen ins Gespräch. Cantor erzählt ihm nach und nach seine tragische Lebensgeschichte, die er selbst als die gerechte Strafe für sein, aus seiner Sicht, unverantwortliches Handeln empfindet. »Nemesis« ist bis hierher die nachgereichte Erzählung dessen, was Cantor seinem ehemaligen Schüler hier erzählt hat. In Mesnikoff fand Cantor einen Mitwisser, dem er sich anvertrauen konnte. Nicht weil es ihm Entlastung oder Trost spendete. Seine Geschichte zu erzählen war für ihn vielmehr »der schmerzhafte Besuch, den ein Verbannter seiner unerreichbaren Heimat abstattet, dem geliebten Geburtsort, dem Schauplatz seines Verbrechens.«
Cantors Exil, aus dem er Mesnikoff berichtet, ist ein selbst gewähltes. Nach der Erkrankung hatte er die Beziehung mit Marcia gegen ihren ausdrücklichen Willen beendet und sich in Einsamkeit und Selbstverachtung zurückgezogen. Für Bucky Cantor war dies der Preis, den er zu zahlen hatte, nachdem er in Newark seiner Verantwortung nicht nachkam, um dann in einem Feriencamp in den Bergen weitere Kinder ins Verderben zu reißen. Sich dem Leben zu entsagen war für Cantor nur konsequent im Sinne der Erziehung seines Großvaters, der stets zu sagen pflegte: »Und wenn Du den Preis bezahlen musst, dann bezahlst Du ihn eben.«
Hier nun beginnt Mesnikoff, Cantors Verhalten zu kommentieren. Dass sich sein damaliger Lehrer selbst 30 Jahre später und ausgestattet mit den medizinischen Erkenntnissen zur Poliomyelitis immer noch als Schuldigen betrachtet, diese Selbstgeißelung kann Mesnikoff kaum fassen. Es ist die Logik der griechischen Mythologie, der sich Bucky Cantor unterordnet. Nemesis, die urteilende Rachegöttin, die das Universum im Gleichgewicht hält und den Preis für Verdienst und Versagen bestimmt, ist Cantors geistiges Vorbild. Er verzichtet auf alles Lebenswerte, um sich selbst zu bestrafen. Er sucht nach einer Notwendigkeit der Verantwortung und geht damit tief im Inneren trotz seiner Gottesverachtung doch von einer göttlichen Weltlenkung aus. Er begreift sich als Schuldigen eines tragischen historischen Ereignisses, das keinen Schuldigen kennt.
Für Mesnikoff ist dieses Verhalten eines vernunftbegabten Mannes kindische Idiotie: »Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden. Auch nicht, dass die Ursache ein sich stark ausbreitendes Virus ist. Er forscht verzweifelt nach einem tieferen Grund, dieser Märtyrer, die Suche nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder bei sich selbst oder – mysteriös und mystisch – in der schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer. So sehr ich auch angesichts der Vielzahl der Schicksalsschläge, die über ihn hereingebrochen sind, mit ihm sympathisiere, muss ich doch sagen, dass das nichts als dumme Hybris ist – nicht die Hybris des Wollens oder Verlangens, sondern die Hybris eines phantastischen, kindischen Gottesbegriffs.«
Nemesis vereint das bisherige Schaffen seines Autors. In dem Roman verbinden sich die Traditionen seines gesamten Werks. Sein Interesse für die historische Erzählung (wie auch in »Amerikanische Verschwörung« handelt es sich hier um eine fiktive), welches seine Erzählungen stets in einer geschichtlichen Verantwortung verankert, findet sich hier ebenso, wie seine Vorliebe der Schilderung sexueller Eskapaden. Die politische, religiöse und geistesgeschichtliche Ideologiekritik, die dieser größte unter den amerikanischen Gegenwartsautoren stets in seinen Romanen übt, ist wie auch sein einnehmender Erzählstil unwiderstehlich. Dass Philip Roth immer und immer und immer weiterschreibt, ist ein Geschenk an die Literatur. Ob das an der schwedischen Akademie noch einmal jemand begreifen mag oder nicht, ist inzwischen fast unerheblich, denn mit jedem Jahr, in dem dieses Werk unberücksichtigt bleibt, verliert ihr Literaturpreis an Glaubwürdigkeit und Relevanz.
Allerdings haben hier weder der Übersetzer noch das Lektorat eine Glanzleistung abgeliefert. Im Text werden unsteigerbare Pronomen plötzlich gesteigert, Rechtschreib- und Orthografiefehler häufen sich, insbesondere am Ende des Romans. Auf Seite 205 liest man von einem »unnnachgiebigen Vater«, auf Seite 215 den Satz »Vielleicht war er tatsächliche der unsichtbare Pfeil gewesen« und nur zwei Seiten später steht der subjektlose Satzverhau »Zum Schluss machte einige Rumpfbeugen vorn- und hintenüber, …«. Wer hier welche Verantwortung trägt, bleibt zwischen Übersetzer und Verlag zu klären. Entscheidend aber ist, dass diese Minderleistung nicht nur für eine flüssige Lektüre hinderlich ist, sondern auch Ausdruck einer fehlenden Sorgfalt im Umgang mit dem neuen Meisterwerk eines der wichtigsten Gegenwartsautoren weltweit.
Philip Roth bietet in seinem neuen Roman keinen Trost für die harten Realitäten der Wirklichkeit – weil es sie schlichtweg nicht gibt. Für sein hoffnungslos düsteres Bild, das schon die jüngsten Romane prägte, erntet er Kritik von den konservativen Medien. Denn Roth verweigert sich auch hier einer göttlichen Hoffnung auf Erlösung. Trost spendet er allein mit seinen Erzählungen, nach deren Lektüre jede investierte Minute als gewonnene Lebenszeit empfunden wird.
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