Gesellschaft, Sachbuch

Das Kommunistische Manifest 2.0?

Wenig Falsches, nichts Neues. Die Flugschrift »Der kommende Aufstand« wurde einst als ideologische Blaupause für die kommenden Aufstände der westlichen Welt gehandelt. Die im Gewand der Revolution daherkommende Schrift ist jedoch nur ein Dokument dessen, was man Linkskonservativismus schimpfen muss.

»Die technische Infrastruktur der Metropole ist verletzbar: ihre Ströme sind nicht nur Personen- und Warentransporte; Informationen und Energie zirkulieren durch Kabel-, Glasfaser- und Kanalisationsnetze, die man angreifen kann. Die gesellschaftliche Maschine mit einiger Konsequenz zu sabotieren, das impliziert heute, die Mittel zur Unterbrechung ihrer Netze zurückzuerobern und neu zu erfinden. Wie macht man eine TGV-Strecke und ein elektrisches Verbundnetz unbrauchbar? Wie findet man die Schwachpunkte der Computernetze, wie stört man die Radiowellen und bringt Schneegestöber auf den Bildschirm?«

Es können nur diese Zeilen sein, die Julien Coupat und seiner Partnerin Yildune Allegra Lévy im November 2008 zum Verhängnis geworden sind. Dabei ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, ob Coupat und Lévy an dem Manifest mit dem Titel Der kommende Aufstand, dem diese Zeilen entnommen sind, überhaupt als Autoren mitgewirkt haben.

Der Hintergrund: Coupat und Lévy sollen im November 2008 dabei beobachtet worden sein, wie sie sich in »verdächtiger« Manier in der Nähe eines TGV-Gleises aufgehalten hätten. Dies reichte der Polizei aus, um beide aufgrund des Verdachts festzunehmen, dieses Zuggleis im Osten von Paris sabotiert zu haben, um die Durchfahrt eines Atomtransportes zu verhindern. In dem diesbezüglichen Polizeibericht heißt es jubilierend: »Die am 7. November 2008 durchgeführte Überwachung von Julien Coupat erlaubt es uns, davon auszugehen, dass Coupat bereit ist, seine in seinem Buch Der kommende Aufstand aufgestellten Forderungen, die Kommunikationskanäle anzugreifen, um die Gesellschaft zu destabilisieren, in die Tat umzusetzen.« Mit Coupat und Lévy sind sieben weitere »Komplizen« von der französischen Antiterroreinheit festgenommen worden – wegen Terrorismusverdacht. Eine Woche später wurden die ersten vier Verdächtigen aus der Haft entlassen, bis zur Freilassung von Coupat und Lévy sollten noch Monate vergehen.

Aus dem Polizeibericht geht außerdem hervor, dass Coupat bereits seit Jahren unter Observation stand. Seit er 2005 bei einem illegalen Grenzübertritt von den USA nach Kanada mit einem Koffer voller »subversiver Schriften« erwischt wurde, stand er unter regelmäßiger Bewachung durch die französische Polizei. Sowohl seine Pariser Wohnung als auch die mit einigen Gleichgesinnten in dem französischen Dörfchen Tarnac eingerichtete Kommune wurde bespitzelt. Dass sich Coupat und die weiteren Tarnaciens für eine andere Gesellschaftsform aussprachen, die ihre Basis nicht in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, sondern in der persönlichen Begegnung der Individuen ohne Profitinteressen findet, und dass sie in Tarnac eine solche Parallelwelt einrichteten, machte sie nur zusätzlich verdächtig. Coupat, der an den G8-Protesten in Evian 2003 und an den griechischen Protesten 2008 teilgenommen hatte, galt als Kopf der »ultra-linken, anarcho-autonomen Bewegung«, wie Innenministerin Michèle Aillot-Mairie die Gruppe nannte, die über Nacht zur Bedrohung des französischen Staates wurde.

Erst im Mai 2009 wird Coupat als letzter Verdächtiger entlassen. Zuvor hatte das Pariser Berufungsgericht sechs Mal den Entlassungsantrag abgelehnt. Im November 2009 wird laut, dass es bei den Ermittlungen zu »Unregelmäßigkeiten« gekommen ist und die Reifenspuren am Tatort nicht mit denen an Coupats Fahrzeug übereinstimmen. Der Terrorismusfall wird zum politischen Skandal. Nicht nur hat sich Frankreich als Überwachungsstaat par excellence erwiesen, sondern sich auch noch von seiner kafkaeskesten Gestalt gezeigt, indem die Sicherheitsbehörden Coupats Überwachung im Nachhinein mit einem an den Haaren herbeigezogenen »Terrorismusfall« zu legitimieren versuchten. »Julien Coupat, der Romantiker von Tarnac, vielmehr schuldig für das was er dachte und das was er im Kopf hatte, als für das was er tat, ist nun das Symbol für den Missbrauch unseres Rechtssystems«, sagte nach Aufdeckung des Skandals Arnaud Montebourg, Abgeordneter der Sozialistischen Partei.

Coupat und die Tarnaciens sind inzwischen zu Europas linksradikalen Helden aufgestiegen. Ob sie das jemals sein wollten, ist ungewiss. Der französische Verleger von Der kommende Aufstand, Éric Hazan, hatte in einem Interview nach Coupats Festnahme die Frage, ob der Angeklagte zu der anonymen Autorengruppe namens Unsichtbares Komitee gehöre, die das Manifest verfasst hatte, verneint. Bis heute sind die Verfasser nur dem französischen Verleger bekannt. Dass die Sicherheitsbehörden das Dokument dennoch als Beweisstück Nummer Eins in einer Terrorismusuntersuchung aufführten, hat das Schriftstück zu einer begehrten Ware gemacht. Jeder will wissen, was Brisantes in diesem Dokument steht. Seit Monaten kursiert das »terroristische« Dokument daher in zahlreichen Kopien und Sprachen im Netz, steht in unzähligen Foren und Blogs zum Download zur Verfügung. Bei der Edition Nautilus ist der Text als gebundene Flugschrift erschienen.

Allein die Tatsache, dass man die 128 Seiten nun käuflich erwerben kann, also ein Verlag – auch wenn er so klein und alternativ ist, wie die Edition Nautilus – damit Profit macht, müsste dem namenlosen Autorenkomitee schon gehörig gegen den Strich gehen. Denn ihr Pamphlet ist nichts mehr als ein Aufruf, der sich gegen jede Form von Teilnahme und Teilhabe an der kapitalistischen Arbeits- und Leistungsgesellschaft der Moderne wendet. Als Referenz, dass man sich gegen dieses System wenden müsse, werden immer wieder die gewaltsamen Ausschreitungen in den französischen Banlieues 2005, die Studentenproteste 2006 gegen eine Novelle des Arbeitsgesetzes, mit der Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte für unter 26-Jährige eingeführt wurden, den sog. Contrat Première Embauche (CPE), sowie die Unruhen in Griechenland 2008 zurate gezogen. Das Ganze ist außerdem von einem starken Frankreich-Bezug geprägt, internationale Argumentationen finden sich nur selten. Die Schrift trägt zwar einen revolutionären Anspruch im Titel, scheitert jedoch an der Kleinkariertheit eines Gestus, der sich gegen alles und jeden wendet.

Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand. Aus dem Französischen von Elmar Schmeda. Edition Nautilus 2010. 124 Seiten. 9,90 Euro. Hier bestellen

Der wichtigste und philosophischste Satz steht auf der ersten Seite dieses Manifests: »Nichts von allem, was sich präsentiert, ist auch nur im Entferntesten auf der Höhe der Situation.« Kein Satz in dem gesamten Werk befindet sich derart auf der Höhe unserer Zeit, wie dieser. Denn er erfasst die Komplexität der uns umgebenden Welt wie keine ihm folgende Phrase und bricht die überkomplexe Gegenwart nahezu lächerlich simpel auf ihren lebenswirklichen Kern herunter. Denn noch alle Versuche, die Zusammenhänge der Welt umfassend zu ergreifen, müssen an ihren systemimmanenten Beschränkungen scheitern. Jeder Erklärungsversuch der Gegenwart erfasst nur eine Teilmenge der Wirklichkeit.

Hier müsste die Schrift abbrechen, denn mehr kann sie eigentlich nicht erreichen. Doch den Gefallen tun die anonymen Autoren nicht. In sieben Kreisen – Dantes Höllenkreise aus seiner Göttlichen Komödie dienen hier als zu groß geratene Vorlage – unterziehen sie die krisenhafte Individualität, die Vergesellschaftung, das kapitalistische System der Arbeit und seine scheinbare Selbstgenese, die Stadt als Hauptbühne für das kapitalistische Schauspiel, das ökonomische und ökologische System sowie die zivilisatorische Kultur einer Gegenwartskritik. Man hört die alten Parolen, von der Pariser Kommune bis zu den 68ern, und sucht rätselnd nach dem wirklich Neuen. Möglicherweise besteht dies in der Tatsache, dass sich jemand wagt, die hier geäußerten Losungen wieder einmal laut auszusprechen. Das Angenehmste dabei ist, dass sie sich nicht wie viele linke Theoretiker im universitären Kauderwelsch verstricken, sondern bei der Praxis bleiben und ihre Wahrnehmung direkt auf das Papier übertragen. Das klingt dann folgendermaßen:

  • »Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich […] ist gleichzeitig der gefräßigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, das sich am kraftvollsten und gierigsten auf das geringste Projekt stürzt, um später zu seinem ursprünglichen Larvenzustand zurückzukehren.«
  • »Krankheit, Müdigkeit, Depression können als individuelle Symptome dessen betrachtet werden, wovon man heilen muss. Sie arbeiten also an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, an meiner folgsamen Anpassung an schwachsinnige Normen, an der Modernisierung meiner Krücken.«
  • »’Autonom werden’ könnte genauso gut bedeuten: lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften zu klauen.«
  • »Die Arbeit hat restlos über alle anderen Arten zu existieren triumphiert, genau in der Zeit, als die Arbeiter überflüssig geworden sind. […] Heute hängt Arbeit weniger mit der ökonomischen Notwendigkeit, Waren zu produzieren, zusammen, als mit der politischen Notwendigkeit, Produzenten und Verbraucher zu produzieren, die Ordnung der Arbeit mit allen Mitteln zu retten.«
  • »Denn in der Geschichte gibt es keine Umkehr.«

Verwunderlich sind solch altbackene Phrasen nicht, denn nicht erst seit Asterix ist bekannt, dass in unserem Nachbarland zuweilen eine verquere, historisierende Romantik von Protest und Widerstand angesichts der Marktmechanismen und der globalisierten Moderne herrscht. Zwischen diesen angeranzten Kamellen der angewandten linken Polittheorie verbergen sich aber auch einige brandaktuelle Feststellungen. So etwa die Tatsache, dass wir die »erstickende Rührseligkeit der Weihnachtsmärkte« mit der erhöhten Präsenz von Überwachungspersonal bezahlen (Stichwort Terrorgefahr); dass der moderne Großstädter in der Vertreibung der Armen und Gebeutelten aus seiner Wohnumwelt genau das zerstört, was er einstmals dort gesucht hatte (Stichwort Gentrifizierung) oder dass die Unverschämtheit der Energieunternehmen, uns ihre Atomprogramme »als neue Lösung für die weltweite Energiekrise noch einmal aufzutischen« eine Menge darüber aussagt, »wie sehr die neuen Lösungen den alten ähneln« (Stichwort klimafreundliche Energien).

Im Anschluss an diese, von solidem Antietatismus und Antikapitalismus geprägte Gegenwartsanalyse folgen knappe 40 Seiten Mobilisierungsrhetorik im Stile eines »Auf geht’s!«. Irgendwo auf diesen Seiten müssen die französischen Sicherheitsbehörden terroristisches Potential gefunden haben – allein man fragt sich, wo das sein soll. Vermutet der französische Staat etwa im Aufruf, die alten Milieus aufzulösen und Kommunen zu bilden, um sich »auf sich selbst zu verlassen« und die eigenen Kräfte »an der Wirklichkeit zu messen« einen terroristischen Anschlag auf die Institution Familie? Oder ist allein der Aufruf, sich unsichtbar zu machen, um im »geeigneten Augenblick« hervorzutreten, als gefährlich einzustufen? Sind neuerdings Aktionen des zivilen Ungehorsams, um »einer Verhaftung vorzubeugen, gegen Abschiebungsversuche schnellstens zusammenzukommen, für einen der unseren einen Zufluchtsort zu finden« Akte terroristischen Charakters? Wer diese Fragen mit ja beantwortet, muss sich nicht wundern, als paranoid eingestuft zu werden und Widerstand bei all jenen zu wecken, die ihr Dasein nicht unter der (meist vom Staat übergestülpten) Glocke der allgegenwärtigen Überwachung fristen wollen.

Einzig einige kryptische Zeilen zu »unseren Waffen« könnten im Extremfall Anlass zu staatlicher Besorgnis geben. Vor allem, wenn man den Text behördlich zerpflückt und aufhört, ihn in seinem Zusammenhang zu lesen. Natürlich vermögen Sätze wie »Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Waffen sind notwendig« zu schockieren, insbesondere wenn man diese zum Maßstab der Interpretation dieses Manifests Solche Aussagen im radikalen Gewand besitzen aber nicht nur Seltenheitswert – ähnlich der berühmten Nadel im Heuhaufen – sondern erfahren ihre Relativierung bereits im Voraus. Denn nur wenige Seiten zuvor schreiben die anonymen Autoren: »Unsere Waffen [werden] immer rudimentär, zusammengebastelt und sehr häufig an Ort und Stelle improvisiert sein. Sie können keinesfalls in der Feuerkraft rivalisieren, sondern zielen darauf ab, auf Distanz zu halten, die Aufmerksamkeit abzulenken, psychologischen Druck auszuüben oder überraschend einen Durchgang zu erzwingen und Boden zu gewinnen.« Hier ist man also beim Kern der »terroristischen Gefahr« angelangt. Man darf sich unter den hier angesprochen Waffen getrost die Strohkissen der Demonstranten vorstellen, mit denen diese die Schlagstöcke der den jüngsten Castortransport sichernden Polizisten abgewehrt haben. Oder auch die als sog. »Stuttgarter Pflastersteine« berühmt gewordenen Folienkastanien mit Schleifchen. Um dem Argument des Verharmlosens vorzubeugen seien aber auch illegale Protestaktionen wie das Hakenwerfen gegen Stromleitungen oder das »Schottern« genannt. Diese »Waffen« scheinen dem Rezensenten hier eher gemeint zu sein.

Was erfährt der Leser aber letztlich konkret von dem kommenden Aufstand? Das die »wirkliche Demonstration von nun an ‚wild’ und nicht bei der Präfektur angemeldet« sein wird und dass es eine »große Menschenmenge braucht, die in Reih und Glied einfällt und sich verbrüdert.« Man brauche den 18. März 1871, heißt es schließlich. Wie deprimierend.

Der kommende Aufstand basiert also auf der Idee der Pariser Kommune und dem Prinzip des Widerstands und der Sabotage – ganz nach dem Motto: wenig Aufwand, viel Ertrag. Nichts davon ist neu. Oder anders ausgedrückt: Rückwärtsgewandter geht nimmer. Der kommende Aufstand ist nur der Aufruf, eine längst vergangene Revolution unter neuen Vorzeichen wieder aufzuführen. Dass er zu seinem Erscheinen engagiert diskutiert und gelesen und in der Szene zum Manifest für das 21. Jahrhundert erklärt wurde, hing weniger mit seinem Inhalt als mit dem eingangs beschriebenen Politskandal um Julien Coupat und den Tarnaciens zusammen. Es sollte am Ende eine anderer Aufruf sein, der sich als ideologischen Flugschrift der europäischen Linken erweisen sollte: Stephane Hessels Indignez-vous!

2 Kommentare

  1. […] Nicolas Sarkozys ordoliberale Politik bildete die Schablone für seine (nur auf Französisch vorliegende) Serie »Pascal Brutal« – Ein »postapokalyptischer Comicband«, in dem er »all die neoliberalen Auswüchse auf die Spitze treiben und die Exzesse aufzeigen« konnte, wie er selbst sagt. Mit dem dritten von vier Alben gewann er 2010 den Hauptpreis beim wichtigsten europäischen Comicfestival in Angoulême, 2015 erhielt er den Preis für den ersten Teil seiner Kindheitsgeschichte ein zweites Mal. Die Erzählung seiner späten Beschneidung (die er im »Araber von morgen« noch einmal aufgreift) war zudem Teil der hiesigen Debatte über die Jungenbeschneidung. […]

Kommentare sind geschlossen.