Literatur, Roman

Die Wut im Untergrund

Frankreichs Gesellschaft scheint vereint wie nie. Die Solidarität unter dem Motto »Je suis Charlie! Je suis policier! Je suis musulman! Jes suis juif!« überdeckt die Angst vieler Franzosen vor dem Fremden. Während Michel Houellebecq in seinem Roman »Unterwerfung« mit dieser Angst spielt, gelingt Yannick Haenel mit »Die bleichen Füchse« ein treffendes Sittengemälde und revolutionärer Gegenentwurf.

Nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo sowie eine Polizistin und zahlreiche Menschen in einem jüdischen Supermarkt sowie der darauf folgenden Welle der Solidarität und des Zusammenhalts ist es aktuell unmöglich, zeitgenössische französische Literatur unbeeinflusst zu lesen. Zu präsent sind die Bilder der vergangenen Tage.

Um Michel Houellebecqs neuesten Roman Unterwerfung, der am Tag des Attentats auf dem Titel der angegriffenen Satirezeitschrift war und heute in Deutschland erscheint, kommt man aktuell nicht herum. Dabei lässt die literarische Qualität im Gegensatz zu seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman Karte und Gebiet zu wünschen übrig. Der Roman ist nicht, wie von einigen Kritikern unterstellt, demagogisch. Aber Frankreichs schreibendes enfant terrible macht es sich mit seiner Vision einer muslimischen Republik Frankreich zu einfach. Denn bei Houellebecq wird die laizistische Republik Frankreich nach der Wahl des ersten muslimischen Staatspräsidenten (um einen Triumph des rechtsextremen Front National zu verhindern) im Handumdrehen zu einem patriarchisch-islamischen Gottesstaat umgestaltet.

Dieses Szenario ist so absurd, dass es fast als Satire taugte, aber Houellebecq enthält seinen Lesern, anders als in der selbstironischen Verfilmung seiner angeblichen Entführung, die Pointen schlicht und einfach vor. So muss man diese nur wenig in die Zukunft versetzte Fiktion – die Handlung ist im Jahr 2022 verortet – als kühlen Roman lesen, der an die gesellschaftspolitische Gegenwart anknüpft. Ein brisantes Thema zu einem sensiblen Zeitpunkt; für den Franzosen erst recht ein Grund, darüber zu schreiben. Sein Roman sei auch ein Beispiel der Meinungsfreiheit, erklärte er kürzlich in einem Interview im französischen Fernsehen.

Islamfeindlich ist Unterwerfung nicht, auch nicht islamophob, aber eben auch nicht unproblematisch. Denn Houellebecqs Zukunftsbild besitzt das Potential, Wasser auf die Mühlen der rechten und populistischen Demagogen zu gießen, die vom vermeintlichen Untergang eines herbeifantasierten christlich-jüdischen Abendlandes schwadronieren (eine ausführliche Rezension erscheint an dieser Stelle Mitte Februar).

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. Dumont Verlag 2015. 278 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen

Tatsächlich gibt es in Frankreich gesellschaftspolitische Missstände, die die Republik vor enorme Herausforderungen stellen. Es droht ein Auseinanderfallen der französischen Gesellschaft in jene, die von der wirtschaftsliberalen Ideologie profitieren, und die Anderen, die von dieser Ideologie zu Boden gedrückt werden. Der französische Romancier Yannick Haenel hat seinen neuen Roman Die bleichen Füchse all jenen gewidmet, die von vielen als Störmoment in der leistungsorientierten Gesellschaft angesehen werden: den Papierlosen, den Obdachlosen, den Arbeitslosen, dem ganzen Heer der vermeintlich Wurzel- und Orientierungslosen.

Sie leben »außerhalb der Nützlichkeit« und bedrohen die unter Nicolas Sarkozy etablierte wirtschafts- und wachstumsgläubige Unkultur, der zufolge noch aus jedem Menschen ein maximaler Nutzen herausgequetscht werden muss. Zugleich aber sind sie auch diejenigen, die über keine Stimme verfügen, weil ihre Argumente im gesellschaftlichen Diskurs kein Gehör finden. In diesem Sinne ist die »ganze Gemeinde der LOSEN« auch eine Gemeinde der Sprach- und Identitätslosen.

Der dreiundvierzigjährige Jean Deichel, Erzähler in Haenels Roman, gehört seit einigen Wochen zu diesen Sprachlosen. Er ist aus seiner Wohnung geflogen, wohnt in seinem Auto und liest, natürlich, Samuel Becketts Warten auf Godot (Estragon: »Wir finden doch immer was, nicht wahr, Didi, was uns glauben lässt, das wir existieren.« Wladimir: »Ja, ja, wir sind Zauberkünstler.«).

In seinem Auto sitzend beobachtet er das Treiben außerhalb seines Mikrokosmos und lernt eine Welt kennen, die er so bislang nicht wahrgenommen hatte. Es ist die Welt der Gefallenen und Gestürzten, der Clochards und Trinker, der Prostituierten und Verlassenen, der irregulären Flüchtlinge und ins Land Geschmuggelten, in die er eintaucht und deren Teil er wird. Vom Alkohol erhitzt irrt er nachts durch die Straßen und über Friedhöfe (parallel dazu liest er nun Jean-Jacques Rousseaus Träumereien eines einsam Schweifenden). Dabei stößt er auf seltsame Botschaften (»Die Gesellschaft existiert nicht«, »Frankreich ist Verbrechen«, »Identität = Fluch«, »Gott ist schwarz«) und entdeckt immer wieder ein rätselhaftes Zeichen. »Eine Art Schreckgespenst: Kakerlake der Verwünschung, Hexen-Fisch«.

Die Bedeutung erschließt sich ihm zunächst nicht, doch je tiefer er in diese Welt eindringt, desto näher kommt er an das Zentrum der Untergrundbewegung, die unter diesem Signum den »Aufstand der Masken« ankündigt. Dahinter steckt die Bewegung »Die bleichen Füchse«, die sich auf die Kosmogonie der Dogon aus Mali beruft. In deren Weltanschauung ist der bleiche Fuchs eine Gottheit, »der nicht zu freundlich zu den Menschen war. Er lebte im Herzen der Zerstörung, das verlieh ihm ein Wissen über jene, die heute unsere Welt verwüsten«, heißt es in Haenels Roman. Die bleichen Füchse nutzen nun dieses Wissen für sich, um sich von ihrer aufgezwungenen Rechtlosigkeit zu befreien und ihre Revolution von unten durchzuführen.

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Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt Verlag 2014. 188 Seiten. 18,95 Euro. Hier bestellen

Yannick Haenel gewann mit seinem letzten Roman Das Schweigen des Jan Karski, einer bewegenden halbfiktionalen Hommage an den gleichnamigen polnischen Widerstandskämpfer, unter anderem den Literaturpreis Prix Interallié. Erneut widmet er sich jetzt den Motiven von Widerstand und Revolution. Indem er seinen Erzähler mit der Wut der Unsichtbaren die Gegenwart sezieren lässt, deckt er die gesellschaftlichen Missstände auf: »Ihr habt eine Welt errichtet, in der die Herrschaft selbst euch fesselt. Ist nicht das Leben jedes Einzelnen der wahnsinnigen Macht der Finanzwelt unterworfen und Opfer ihrer katastrophalen Deregulierung? Geht ihr nicht selbst in Rauch auf, wenn durch die Spekulation der Märkte in einer Sekunde Milliarden und Abermilliarden Euro verschwinden?«

Einiges in diesem Roman klingt, als käme es direkt vom Unsichtbaren Komitee. Aber zugleich sind diese Passagen, in denen Haenel mit rasiermesserscharfen Sätzen Schneisen der Erkenntnis in die Komplexität der Welt schlägt, die besten des Romans. Natürlich ist das nicht politisch neutral, aber wer will schon neutrale Literatur lesen?

Immer wieder wird engagierte Literatur gefordert. Mehr Engagement als bei Haenel geht nicht. Er deckt die systematische Kriminalisierung der Einwanderer, die permanente Überwachung der durch ihre Untätigkeit Verdächtigen, die Demütigung der Ausgelieferten und die Selbstaufopferung der Gehorsamen auf, und macht so deutlich, warum in den französischen Banlieues immer noch regelmäßig Autos brennen und Jugendliche zu Gewalttätern werden.

Denn »irgendwann kommt der Moment, wo es keiner mehr aushält, in einer Gesellschaft zu leben, die ihn kleinmacht; und was dann losbricht, ist kein gewöhnlicher Zorn und keine beliebige Forderung mehr – es ist eine Ablehnung, die euren Horizont übersteigt, weil sie voraussetzt, dass ihr nicht mehr existiert.« Sätze wie diese verursachen angesichts der jüngsten Ereignisse ganze Sturzbecher eiskalter Schauer.

Der Aufstand der Masken schließlich wird durch einen Trauerzug hervorgerufen, dem sich mit jedem Meter mehr Menschen anschließen. Friedlich und still protestierend, ihre Gesichter hinter Tiermasken verborgen, erobern sie die Stadt und berufen sich dabei auf die »Gemeinschaft der fehlenden Grenzen«. Hier nimmt Haenel nicht nur die Verlogenheit der französischen Gesellschaft in den Blick, sondern weitet seinen Fokus auf die westliche Welt, die sich für global hält, »weil sie angeblich Grenzen öffnet und das freie Reisen von Personen erleichtert«. Doch diese freie Welt ist ein Irrtum. Sie ist nur frei für diejenigen, die sich der marktgläubigen Ideologie beugen. Wenn sie wie ein Produkt ihr Wesen dem Weltmarkt zur Verfügung stellen, öffnen sich vor ihnen die Schlagbäume wie von Geisterhand. In der Europäischen Einwanderungspolitik verbirgt sich diese perfide Logik hinter Euphemismen wie der gesteuerten Zuwanderung. Wer nützt, kommt rein; allen anderen bleibt diese »Bewegungsfreiheit« vorenthalten. »Als wären wir Kriminelle«, kommentiert Jean Deichel lapidar.

Die Probleme der gesellschaftlichen Ausgrenzung, der rassistisch fundierten Kriminalisierung sowie der allgegenwärtigen Demütigung von Minderheiten sind in Frankreich durch die Solidarität mit Charlie Hebdo keineswegs beseitigt. Sie zu lösen ist die größte politische Herausforderung der Gegenwart. Dies ist die eindringliche Botschaft von Yannick Haenels aufwühlendem Roman, dem treffendsten Sittengemälde Frankreichs und unserer Zeit im Allgemeinen.

3 Kommentare

  1. […] lag gerade der erste Band von Larcenets Miniserie Nic Oumouk in den Buchhandlungen, in der er die Missstände in den französischen Banlieues aufs Korn nimmt. In seinen biografischen Erfahrungen als sinnsuchender Vater, der sich mit seiner […]

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