Jonathan Franzen hat mit »Freiheit« den großen amerikanischen Gegenwartsroman geschrieben. Seine Hauptcharaktere Walter und Patty Berglund werden noch in Jahren als literarische Referenzfiguren eine gewichtige Rolle spielen.
Dieses Buch wird Sie verändern. Es wird Sie in seiner erzählerischen Kraft mindestens schwer beeindrucken und noch einige Wochen in den vorderen Kammern Ihres Kopfes bleiben, bevor es in den Schatzkammern Ihres Unterbewusstseins einen festen Platz einnehmen wird. Es kann aber auch sein, dass Sie von Jonathan Franzens Freiheit aufgerüttelt und erschüttert werden, wie nie zuvor, denn der Roman besitzt die Kraft, Sie in die Abgründe Ihres mit Zweifeln belasteten Daseins zu entführen, von denen niemand frei ist.
Dies liegt vor allem an den zentralen Charakteren, deren Werdegang Franzen über fast zwei Dekaden — über Rückblenden und Erinnerungen auch über Generationen und Jahrhunderte — hinweg, liebevoll und schonungslos beschreibt. Die Berglunds sind die Nachfahren von schwedischen Auswanderern, die in den Vereinigten Staaten ihr Glück gesucht haben. Die Linie von Familienvater Walter Berglund reicht drei manisch-depressive Generationen zurück. Auch Walter umgibt eine lethargische Aura, wenngleich er durch Fleiß und Enthaltsamkeit dem Schicksal seines alkoholgeschwängerten Elternhauses entflieht. Seine Frau Patty lernt er über den Musiker Richard, seinen besten Freund am College, kennen. Eigentlich galt Pattys Interesse eher dem geheimnisvollen Singer-Song-Writer, aber einige Zufälle und unterdrückte Bedürfnisse führen Walter und Patty erst zusammen und lassen sie dann nicht mehr voneinander loskommen.
Sie durchleben ihre besten Jahre in der amerikanischen Mittelklasse, kaufen sich ein Reihenhaus in einer vernachlässigten Siedlung am Rande New Yorks und bekommen mit Jessica und Joey zwei recht eigenwillige Kinder. Während Walter als Versicherungsangestellter das Geld verdient, kümmert sich Patty um die heranwachsenden Kinder. Die strebsame Jessica entspricht ganz Walters Vorbild, sein Sohn Joey aber bringt ihn in seiner aufmüpfigen Art und Weise immer wieder auf die Palme; die Verantwortung dafür liegt für Walter bei Patty. Als das Ehepaar für einen neuen Job nach Washington zieht und und einen Neuanfang wagt, und die Kinder auf das College beziehungsweise die Universität wechseln, gehen die Familienmitglieder zunehmend getrennte Wege.
Franzen führt uns diese vier Charaktere und die sie umgebenden Protagonisten mit all ihren entbehrten und erfüllten Wünschen und Hoffnungen vor. Befürchtete und erträumte Einschnitte wechseln sich mit zufälligen Fügungen und Schicksalsschlägen ab — und Franzen führt uns immer näher an die seelischen Abgründe seine Protagonisten heran. Bis wir sogar Pattys biografischen Rückblicke lesen, die sie als Teil einer Psychotherapie zur Bewältigung ihrer stark ausgeprägten Depression schreibt.
Es geht ihm bei all den Konstanten und Wendungen darum, auf die Frage, wieviel Freiheit wir haben, wenn wir Entscheidungen treffen, die verschiedenen Antwortmöglichkeiten zu finden. Dabei vergisst er keineswegs, wie verlockend immer wieder die nie gewählten Alternativen am Horizont aufleuchten und wie stark sich die Phantasie von der Wirklichkeit unterscheidet.
Im Roman führt das dann unter anderem zu folgenden Fragen: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Dasein an der Seite des chaotischen Lebemanns Richard Patty aus ihrer Krise führt, die sie an der Seite des biederen Walter empfindet? Wie groß ist dessen lebenslanger Kompromiss zugunsten der Familie, der vor allem dann zu einer schmerzhaften Herausforderung wird, als er sich in seine deutlich jüngere Assistentin Lalitha (und sie sich in ihn) verliebt? Wie selbstgewählt ist Joeys Dasein an der Seite seiner ihm vollkommen ergebenen Jugendfreundin Conny, von der er sich immer wieder (vergeblich) zu trennen versucht? Es sind nur einige der vielen Optionen, die Franzen in diesem großen Roman aufwirft.
Mit den Protagonisten durchläuft der Leser zwei intensive Jahrzehnte amerikanischer Politik: von der Lewinsky-Affäre Bill Clintons über die Wahl von George W. Bush Junior, den Anschlägen von 9/11, der anschließenden Bombardierung von Afghanistan sowie der Irak-Invasion bis hin zur Wahl des »Yes, we can«-Hoffnungsträgers Barack Obama. Diese Ereignisse bilden jedoch nicht nur den Hintergrund der Berglund’schen Dramen, sondern sie sind weitere Untersuchungsobjekte, die Franzen unter sein Mikroskop legt, mit dem er die Antwort auf die Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß der individuellen Freiheit sucht. So lassen weder Walters grenzüberschreitendes Naturschutzprojekt um den Waldpappelsänger, dem er als Geschäftsführer einer von der Kohleindustrie finanzierten Stiftung nachgeht, noch Joeys geschäftstüchtiges, aber nutzloses Engagement zur Unterstützung der amerikanischen Truppen im Irak eine klare politisch-moralische Einordnung zu, beide sind sie mit den Abgründen der ideologischen amerikanischen Politik verbunden. Dieser Roman ist insofern auch ein Kommentar auf eine Gesellschaft, die sich auf ein Ideal beruft, dass sie aus Sicherheitsbedenken und Paranoia immer stärker einschränkt. Die Freiheitsstatue in New York ist kaum mehr als das Sinnbild einer längst vergangenen Idee.
Jonathan Franzens Freiheit ist als neuer Monolith des amerikanischen Gesellschaftsromans gefeiert worden, keineswegs zu Unrecht. Das Buch brilliert aber vor allem darin, die gigantische Bedeutung des Banalen aufzudecken, über dessen alles beeinflussende Nichtigkeit nur die wenigsten nachdenken mögen. Dabei sind es doch meist genau diese Kleinigkeiten und Details, die dem Dasein seinen Stempel aufdrücken. Dieser großartige Roman lebt außerdem davon, dass er den eindeutigen und ambivalenten Gedanken und Gemütszuständen, die sonst unerklärlich und rätselhaft bleiben, eine naheliegende und vollkommen plausible Erklärung gibt, die irgendwo in den wechselhaften (Familien-)Biografien der Akteure wurzeln, ohne dabei in einen wertenden Oder gar moralisierenden Tön abzugleiten.
Selten traf ein Roman derart genau den Kern des gesellschaftlichen Ist-Zustands. Franzen holt sein Lesepublikum dort ab, wo es sich befindet: mitten im Rätsel des in die überkomplexe Gegenwart eingebundenen Lebens, in dem es keine einfachen, und schon gar keine bequemen Antworten auf die allgegenwärtige (und im Privaten allzuoft verdrängte) Frage gibt, wie viel individuelle Freiheit lebbar ist. Freiheit hat die Macht, mit einem Schlag jedem Selbstbetrug ein Ende zu setzen. Was auch immer man sich bis zur Lektüre des Romans meint, vormachen zu müssen, kann man sich auch nach dem Genuss dieser 730 Seiten vormachen. Man wird nur feststellen, dass es einem unendlich viel schwerer fällt. Jonathan Franzens Freiheit betrifft uns alle.
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