Essay, Sachbuch

Akustische Kunst oder Klamauk?

Normalerweise beginnt man beim Lesen eines Buches, die Welt durch die Augen des Autors zu sehen. Mit »Talking Heads Fear of Music. Ein Album anstelle eines Kopfes« aber hört man ein Album mit den Ohren des 15-jährigen Jungen, der einer der größten Autoren Amerikas werden sollte.

Eine Band namens Talking Heads macht ein Album, das trägt den Titel Fear of Music. Was aber soll das heißen? »Ist das Angst-Musik? Woraus könnte Angst-Musik bestehen? Besteht Angst aus Musik? Kann eine Platte Angst vor sich selbst haben?«, fragen wir uns mit Jonathan Lethem heute, genau 35 Jahre nach seinem Erscheinen (Release am 3. August 1979).

Lethem ist als 15-jähriger Hörer dem Album verfallen. In seiner nachgereichten Plattenkritik, die in der legendären Reihe »33 ⅓« erschienen ist und nun in einer bemühten deutschen Übersetzung vorliegt, versetzt er die Lesenden in das Bewusstsein dieses Teenagers, der er damals war, als er die Platte monatelang hoch und runter hörte und seinen Kopf mit dem legendären Album ersetzen wollte. »Meine Identifikation mit Fear of Music war so groß, dass ich wünschte, das Album anstelle meines Kopfes zu tragen…«, schreibt Lethem zurückblickend.

Saul Steinberg's March 29, 1976 »View of the World from Ninth Avenue« cover of The New Yorker |  © The Saul Steinberg Foundation
Zahlreiche Vergleiche zwischen Saul Steinberg’s Cover in The New Yorker (»View of the World from Ninth Avenue«) und den Talking Heads untermauern Lethems unterstellte Referenzen zwischen Album und Big Apple | © The Saul Steinberg Foundation

Dass bei einem Autor wie Jonathan Lethem schon allein die Reise in die Vergangenheit (und musikalische Zukunft) ein literarisches Vergnügen ist, darf man getrost (und beruhigt) voraussetzen. Das Buch gewinnt aber ungemein, weil Lethem immer wieder den Kopf dieses 15-jährigen Jungen verlässt und mit dem Auge des gereiften Musikjournalisten auf die Platte und die einzelnen Tracks sowie ihre Bedeutung blickt.

Die Frage, warum er als Schriftsteller über die Talking Heads und dieses Album schreibt, ist mit der Geschichte des 15-Jährigen eigentlich schon geklärt. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund für Lethems damalige (und heute noch nachvollziehbare) Begeisterung: »Die Bestimmung der Talking Heads war es, der Inbegriff meiner Möglichkeit zu sein, ein Coolsein zu konstruieren, das weg ‚von der Straße‘ und in Richtung literarischer Dinge führte, aber trotzdem Cool war«, schreibt er zu Beginn seiner fulminanten Plattenkritik.

In Romanen wie Die Festung der Einsamkeit oder zuletzt Der Garten der Dissidenten spiegelt sich nicht nur die sprachliche Musikalität Lethems, sondern auch die Tatsache, dass er ein absoluter Profi in Sachen Musikbusiness ist. Seine ersten journalistischen Aufträge bekam er vom Rolling Stone Magazine, als einer der Ersten durfte er Bob Dylan interviewen. Dessen Songs sind auch eine der musikalischen Referenzen, auf die er sich bei der Reflektion der Titel immer wieder bezieht.

Seine Plattenkritik hat inhaltlich gesehen wie das Vinyl eine A-Seite und eine B-Seite. Auf der A-Seite reflektiert Lethem grundsätzliche Fragen, etwa ob das mit Brian Eno produzierte Album überhaupt ein Talking-Heads-Platte (1), eine New-York-Scheibe (2) oder ein Science-Fiction-Album (3) ist. Ohne zu viel zu verraten beziehungsweise um ein paar neue Fragen aufzuwerfen, seien hier ein paar der über zahlreiche Umwege und fundierte Erläuterungen herausgearbeiteten Antworten wiedergegeben: (1) »Was er [der 15-jährige Junge] bis zu Remain in Light und in der Folge nicht wissen konnte, dann jedoch zu ahnen begann, und worüber zu grübeln ich mich seit damals immer wieder ertappe, ist, dass es in verschiedener Hinsicht die womöglich letzte eine Talking-Heads-Platte ist.« (2) »Die Talking Heads waren die definitive New-York-Rockband. … Ihr Emigrationsgeschichte (von Baltimore, Kentucky oder von wo auch immer) sicherte ihnen denselben Status, den auch Dawn Powell und Truman Capote besaßen.« (3) »Daran zu glauben, Fear of Music könne als Science Fiction verstanden werden, war für eine These, die der Junge bereits in Arbeit hatte, von essentieller Bedeutung, nämlich die, dass jeder zeitgenössische Künstler, der die Augen offen hielt, früher oder später ganz sicher ins Science-Fiction-Fach geraten würde.«

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Jonathan Lethem: Talking Heads Fear of Music. Ein Album anstelle eines Kopfes. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maas. Tropen Verlag 2014. 173 Seiten. 17,95 Euro. Hier bestellen

Auf der B-Seite seiner Plattenkritik untersucht Lethem die einzelnen Songs, fragt nach ihrer Literarizität, ihrem plattenübergreifenden Verhältnis, nach der Bedeutung von Pausen sowie der Zusammenstellung des Albums als Konzeptalbum. Demnach glotzt der Auftaktsong I Zimbra wie ein Vampir »in den Spiegel, in dem nichts reflektiert wird«, ist Cities der klarsichtigste, absurdeste und spöttischste Song des Albums zugleich oder ist Memories Can’t Wait »ein Gefährt, dass im tiefen Schlamm der B-Seite der Platte stecken geblieben und nun entschlossen ist, über die zerschmetterten Körper der anderen Tracks zurück ins Blickfeld zu rollen.«

So seltsam, wie all das in Auszügen klingt, ist es ein großes Vergnügen, dem Zwiegespräch des 15-jährigen Talking-Heads-Fans mit dessen selbstironischem 50-jährigem Alter Ego beizuwohnen und gemeinsam mit ihnen dieses Album irgendwo zwischen der Literatur von Philip K. Dick, den New Yorker-Covern von Saul Steinberg und den Songtexten von Bob Dylan zu verorten. Getrübt wird dieses durch die an mancher Stelle unglückliche Übersetzung, in der Sätze wie »Aber wirken tun sie größer« (statt: »Aber sie wirken größer« oder »Reichen tut uns das nicht« (statt: »Das Reicht uns nicht«) die Musikalität des Originals aufgreifen wollen, dabei aber eine befremdliche Distanz herstellen. Davon unbenommen aber ist die Gesamtwirkung dieser fulminanten Plattenkritik, in der Satzjuwelen wie »Denn, wenn alle Kunst danach strebt, so zu sein wie Musik, dann strebte die Musik der Talking Heads in Gänze danach, Kunst in einer Galerie zu sein« zu entdecken sind. Nach der (auch für Musiklaien geeigneten) Lektüre von Talking Heads Fear of Music. Ein Album anstelle eines Kopfes wird niemand mehr dieses Album noch anders hören können, als mit den Ohren des 15-jährigen Jonathan Lethem.