Die anglo-amerikanische Literaturkritik feiert ihn als »neuen Franzen«. Matthew Thomas verkauft sein Erstlingswerk »Wir sind nicht wir« für einen Millionenbetrag und wird über Nacht zum literarischen Shootingstar. Für Thomas scheint sich nun der amerikanische Traum zu erfüllen – ein Privileg, das er den Figuren in seinem Roman verweigert.
Zehn Jahre lang soll der Autor Matthew Thomas an seinem Debüt Wir sind nicht wir geschrieben haben. Zehn Jahre soll er als College-Lehrer gearbeitet und mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen in New York gelebt haben – bis er sich erfüllt hat: The American Dream. Nichts ist tiefer verankert im amerikanischen Bewusstsein als dieses Versprechen von Freiheit und sozialem Aufstieg, von Wohlstand und Erfolg. Ein Heilsversprechen, dessen Grundstein in der Unabhängigkeitserklärung der USA gelegt wurde und das bis heute das nationale Selbstverständnis prägt wie in keinem anderen Land.
Die Idee vom Recht auf das Streben nach Glück spielt allerdings nicht nur in der Inszenierung des Autors Matthew Thomas eine wichtige Rolle, sondern auch in seinem Familienepos Wir sind nicht wir. Über drei Generationen hinweg wird darin die Geschichte von Eileen Tumulty Leary, Tochter irischer Einwanderer, erzählt. Nach einer Kindheit und Jugend, die vor allem von Armut und Alkoholismus der Eltern geprägt ist, strebt Eileen – wie ihr Vater zuvor – nach dem amerikanischen Traum, der sich für sie vor allem im sozialen Aufstieg und in den damit verbundenen materiellen Gütern manifestiert: der bessere Job, das höhere Gehalt, der teure Nerzmantel, das Haus in der richtigen Nachbarschaft. Als Eileen ihren zukünftigen Ehemann, den etwas exzentrischen Neurowissenschaftler Edmund Leary, kennenlernt, scheint ihr Leben endlich den gewünschten Verlauf zu nehmen. Doch obwohl Edmund ebenfalls aus bescheidenen Verhältnissen stammt, ist er frei von gesellschaftlichem und beruflichem Ehrgeiz und stellt seine wissenschaftlichen Ideale über Eileens Vision des perfekten amerikanischen Lebens.
Auch der gemeinsame Sohn Connell verweigert sich zunehmend Eileens obsessivem Streben nach sozialem Aufstieg und bleibt in jeder Hinsicht hinter den Erwartungen seiner Mutter zurück. Mit Anfang 50 erkrankt Edmund an Alzheimer und stirbt nach einigen Jahren völlig verwirrt in einem Pflegeheim. Nach Edmunds Tod gelingt es Eileen, die Ereignisse ihres Lebens zu einem sinnhaften Narrativ zu verbinden und – fernab des amerikanischen Traums – Frieden mit sich selbst zu schließen.
Thomas’ lose autobiografischer Roman handelt von den großen Themen: Es geht um Familie, um Liebe und Tod, und natürlich um das große Vergessen – und das vor dem Hintergrund von sechs Jahrzehnten US-amerikanischer Geschichte. Doch all diese großen Themen kommen im Roman nicht richtig zur Geltung. Zwar sind sie im Plot als potenzielle Handlungsstränge angelegt, enden aber fast durchgängig im erzählerischen Nichts. So meldet sich Eileens geliebter Cousin Pat, der zuvor jedoch kaum in Erscheinung getreten ist, freiwillig für den Einsatz im Vietnamkrieg. Was mit Pat geschieht und wie sich dieser Krieg auf die junge Eileen oder auf ihr Umfeld auswirkt, das sind Aspekte, die nicht aufgegriffen werden und schlichtweg unerzählt bleiben.
Zugegeben, es gibt sie, die erzählerisch gelungenen Passagen. Gut dargestellt ist vor allem die Alzheimer-Erkrankung von Eileens Ehemann Edmund. Allein der Weg bis zur Diagnose – der schleichende Beginn der Erkrankung, Eileens und Connells leise Zweifel am immer schrulliger werdenden Ehemann und Vater, dann Edmunds zunehmender Verfall, seine Pflege und letztlich sein Tod bis hin zu den emotionalen, physischen und finanziellen Opfern, die die Familie bringen muss, gehören zu den erzählerisch großen Momenten des Romans und stehen Franzens Beschreibungen einer Demenzerkrankung in Die Korrekturen in nichts nach.
Aber diese Momente reichen nicht, um die knapp 900 Seiten des Romans – hier übertrifft Thomas Franzen um gut 100 Seiten – inhaltlich und erzählerisch zu füllen. Ein radikales Kürzen hätte sicherlich für mehr inhaltliche und vielleicht auch literarische Dichte gesorgt und über andere erzählerische Schwächen hinweggeholfen. Es bleiben nämlich nicht nur inhaltlich zu viele Möglichkeiten ungenutzt, auch erzählerisch ist Wir sind nicht wir (im Gegensatz zu seinem Umfang) dünn. Warum etwa Eileen als ausgebildete Krankenschwester in Leitungsfunktion die Demenzerscheinungen ihres Mannes nicht erkennt oder zumindest vermutet, ist ein Rätsel. Thomas verschenkt auch die Gelegenheit, Edmunds Verfall mit Eileens zunehmender Obsession vom sozialen Aufstieg erzählerisch geschickter zusammenzuführen. Symbolisch für diese Obsession steht ein Haus, über dessen offensichtliche Mängel Eileen großzügig hinwegsieht, da es in der »richtigen« Gegend steht. Zu diesem Zeitpunkt ist Edmund der Sanierung von Eileens Traum bereits in keinster Weise mehr gewachsen – Haus und Ehemann verfallen zusehends und Eileens Traum wird zu Edmunds persönlichen Albtraum.
Der Text ist linear und konventionell erzählt, die Ansätze einer personalen Erzählweise und damit eine Reflexion der Gedanken und Gefühle der Personen sind leider viel zu selten. Dadurch bleiben die Personen unscharf und eindimensional. In den erzählten sechs Jahrzehnten erfährt der Leser nur wenig über Eileen. Scheinbar unbeeindruckt von allen historischen, gesellschaftlichen und persönlichen Ereignissen und Katastrophen macht sie keinerlei Entwicklung durch, sondern bleibt oberflächlich, fremd und in sich widersprüchlich. Einzig und allein gegen Ende des Romans durchläuft Eileen eine kurze Phase der Reflexion und schließt mit ihrem amerikanischen (Alb)Traum ab – im Sinne des Lesers hätte dies gut und gerne schon nach 300 Seiten geschehen dürfen.
Matthew Thomas mag in den USA als literarischer Shootingstar gefeiert werden, Sorgen über einen vermeintlich großen Konkurrenten muss sich Jonathan Franzen deshalb noch lange nicht machen.
Homepage des Autors: www.matthewthomasauthor.com