Erzählungen, Literatur

Wenn das Leben zur Groteske wird

Nathan Englander gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen der Gegenwart. Mit seinen in »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden« versammelten klugen, gewitzten und unter die Haut gehenden Erzählungen reflektiert er grandios das jüdische Leben nach dem Holocaust.

Unterschiedlicher als Debbie und Lauren könnten Freundinnen kaum sein. Gemeinsam gingen sie zur Schule und haben ihre ersten Erfahrungen mit Drogen und Jungs gemacht. Als es aber darum ging, erwachsen zu werden, trennten sich ihre Wege. Debbie schlug den der säkularen Jüdin ein, die sich eher als Amerikanerin denn als Jüdin begreift und seit Jahren mit Mann und Sohn in einem Reihenhäuschen in Florida lebt. Lauren heißt inzwischen Shoshana, denn sie wählte den Pfad der Religion. Sie zog mit ihrem Mann Yerucham alias Mark in eine israelische Siedlung in Ostjerusalem und schenkte zehn Kindern das Leben.

Eine USA-Reise bringen Debbie und Shoshana alias Lauren mitsamt Gatten an einen Tisch und schnell geht es darum, wer das richtigere und bessere Leben führt. Schnell kommen die dafür wesentlichen Fragen auf: Welcher jüdische Weg ist der richtigere? Was ist Judentum heute überhaupt noch? Was gehört zur jüdischen Identität und welche Rolle spielt der religiöse Kern vor dem Hintergrund des Holocaust? Rechtfertigt kollektiv erlittenes Leid subjektive Grausamkeiten? Fragen, die man eigentlich nicht stellen sollte, wie schon die Gestaltung des Bucheinbandes deutlich macht.

Nathan Englander würde nicht mit Isaac B. Singer, Bernard Malamud und Philip Roth in einer Reihe genannt werden und zu den großartigsten Gegenwartsautoren Amerikas gehören, wenn er sich davon beeindrucken lassen würde. Er nutzt auf den Punkt genau geschriebene Anspielungen, um diese Fragen und die Abgründe, die sich dahinter auftun, auszuloten. Es ist unmöglich, darauf gefasst zu sein, was Englander im Kopf der Leser seiner Kurzgeschichtensammlung Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden anstellt. Es ist aber möglich, zu behaupten, dass er aufräumt mit den oft eilfertig erteilten, einfachen Antworten auf die komplizierten Fragen der jüdischen Identität. Der Titel dieses Erzählbandes lässt anklingen, dass Englander ein Verfechter des säkularen, nichtreligiösen Judentums ist. Die Identität des jüdischen Seins speist sich in seinen Geschichten stärker aus dem Holocaust und dessen sozialpsychologischen Folgen, als aus der religiösen Identität.

Dies wird schon in der ersten seiner acht Kurzgeschichten, die der Sammlung ihren Titel gibt, deutlich. Mit Debbie und Lauren sowie ihren Männern treffen zwei Lebensentwürfe aufeinander, die die beiden weltanschaulichen Pole im jüdischen Leben darstellen. Englander stellt nicht die Frage, an welchem Pol es sich besser leben lässt, das würde er sich nicht anmaßen. Vielmehr löst er die Hoffnung, dass man zu dieser Frage eine allgemeingültige Antwort finden würde, in Wohlgefallen auf.

Er bringt die vermeintlich klaren Bilder durcheinander, die in den Köpfen existieren, indem er ein Spiel um die beiden Paare inszeniert. Darin geht es um den Kern der jüdischen Identität nach dem Holocaust und er lässt es seine Protagonisten mal das »Selbstgerechte-Nichtjuden-Spiel«, dann das »Wer-wird-mich-verstecken-Spiel« oder aber das »Anne-Frank-Spiel« nennen. Dabei geht es um die Frage, was man in der Rolle des Nicht-Juden tun würde, wenn es einen zweiten Holocaust gäbe. Würde man »sein Leben, das Leben seiner Familie und seiner Freunde aufs Spiel setzen«, um den jüdischen Freunden oder Bekannten eine grundsätzlich unsichere Überlebenschance zu bieten? Und vor allem: Ist das, was der Einzelne antwortet auf diese Frage, glaubhaft, oder ist nicht näher an der Wahrheit, was der Einzelne nach Ansicht der anderen tun würde?

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Nathan Englander: Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden. Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Verlag 2012. 234 Seiten. 18,99 Euro. Hier bestellen

Dieses Gedankenexperiment »ist wirklich kein Spiel«, schränkt Englanders Erzähler – in diesem Fall Debbies Mann – ein, um zu ergänzen: »Es ist nur das, worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«. Es soll hier nicht vorgegriffen werden, wie dieses Gedankenexperiment zwischen den vier Protagonisten dieser Erzählung ausgeht, aber es sei soviel verraten, dass sich auf jeder der 35 Seiten der Auftaktgeschichte eine völlig unerwartete Wendung vollzieht und am Ende ein Finale wartet, das in seiner tiefgründigen und zugleich komischen Tragik einem überraschenden Schlag des besten Freundes in die Magengrube gleicht.

»Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden« ist nach Zur Linderung unerträglichen Verlangens Englanders zweite Sammlung von Kurzgeschichten. In den neun Geschichten, die bereits 1999 erschienen sind, umkreiste Englander schon einmal geistreich und wortgewandt den tragikomischen Alltag des globalen Judentums. 2008 erschien dann Englanders fulminanter Debütroman Das Ministerium für besondere Fälle, in dem er vor dem Hintergrund der amerikanischen Anti-Terror-Politik in Abu Ghraib und Guantanamo eine vielgelobte Parabel über das Verschwinden von Menschen am Beispiel der jüdischen Familie Poznan in der Zeit der argentinischen Militärdiktatur 1976 erzählte.

In seinen neuen Kurzgeschichten geht es nicht um das Verschwinden von Menschen, sondern um die Anwesenheit einer tiefen und niemals heilenden Wunde, die der Holocaust in der jüdischen Identität hinterlassen hat. Eine wichtige Rolle spielt aber auch die Mythologie, die mit dieser Verletzung und ihrer Weitergabe von Generation zur Generation einhergegangen ist. Mythologie deshalb, weil vor dem Hintergrund des Holocausts jede familiäre Tragik außerhalb der Lager zur Groteske schrumpft, wie Englander in der grandiosen, die eigene Familiengeschichte verarbeitenden Erzählung »Alles, was ich über meine Familie mütterlicherseits weiß« deutlich macht. In 63 Punkten präsentiert sein »fiktionales Ich« die offiziellen Geschichten über den Großvater und seine Geschwister, um dann die Wirklichkeit dahinter freizulegen, die die Tragik der Familiengeschichte deutlich macht und den Erzähler am Ende fassungslos weinen lässt. Die einfachen Antworten, die die familiären Traumata erklären könnten, entpuppen sich dabei – welch Tragödie – als Mythen.

Englander verschont in seinen Geschichten keine Generation. Die Holocaust-Überlebenden lässt er in »Camp Sundown« zu einem kollektiven Racheakt an einem ehemaligen Mitläufer – einem »Demjanjuk« – schreiten und damit selbst zu Tätern werden. Die Nachkommen der Holocaust-Generation lässt er in »Camp Sundown« in der ihr eigenen Verzweiflung, an das Elend der Elterngeneration nicht heranzukommen, eine Bücherverbrennung – mit »braver Helferin« aus Polen – veranstalten. Oder er konfrontiert diese Generation der überneurotischen Portnoy-Exemplare in einer »Peep Show« mit ihrem geheuchelten wohlanständigen Leben. Die Gründer Israels lässt er als »ewige Nachbarn« in einem Akt blinder Wut um sich schlagen, ohne sie von der zurückkehrenden Faust zu verschonen. Und der Selbstgerechtigkeit der dritten Generation nach Anne Frank erklärt er in der abgrundtiefen Geschichte »Gratisobst für junge Witwen« eine freundlich-verständnisvolle Abfuhr, indem er in einer weiteren jüdischen Parabel des 20. Jahrhunderts deutlich macht, warum die Psyche ihrer Eltern und Großeltern nicht nach den eigenen Maßstäben bewertbar ist.

Englanders meisterhafte Erzählungen sind gleichermaßen komisch und atemberaubend. Immer wieder bleibt dem Lesenden das Lachen in der Kehle stecken angesichts der unerwarteten Wendungen, die die kühn komponierten Geschichten voller Falltüren nehmen. Auf scheinbar leichten Füßen kommen diese Erzählungen daher, wenngleich diese Füße tief im Morast der Katastrophe des europäischen Antisemitismus stecken. Direkt neben der tief empfundenen Empathie für das Sein wohnt hier das empört-freche Kopfschütteln über die Wirklichkeit.

Die Literatur des Wahl-New-Yorkers ist scharfsinnig, wortgewandt, tiefgründig und verdammt lebensecht – unabhängig davon, ob sie im Israel der 1970er Jahre spielen oder im Florida der Gegenwart. Stets ist Nathan Englander ganz nah an seinen Protagonisten dran und blickt ihnen – stellvertretend für den Leser – tief in ihre vergangenheitsbelastete Psyche, in der stets etwas von dem schwebt, »worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«. Wer etwas davon verstehen will, der muss diese einmalig grandiosen Kurzgeschichten lesen. Es gibt aktuell nichts Besseres zur ambivalenten jüdischen Identität, als diese Erzählungen.

Homepage des Autors: www.nathanenglander.com

2 Kommentare

  1. […] es besser geht, hat Nathan Englander bereits vor Jahren in seinen fulminanten Stories »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden« beweisen. Aber auch deutschsprachige Autoren wie Katja Petrowskaja oder Maja Haderlap haben […]

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