Literatur, Roman

Triebgesteuerter Todeswahn

40 Jahre lang schrieb Boris Lurie an einem Text, in dem er das Trauma und die Schuld, den Holocaust überlebt zu haben, verarbeiten wollte. Jahre nach seinem Tod liegt nun sein verstörender Roman »Haus von Anita« vor, in dem Holocaust und Pornografie die Klingen kreuzen.

»Der Weg, mich zu manipulieren, führt über meinen Schwanz. Mein Schwanz will manipuliert werden, er stirbt dafür.« Recht unmittelbar kommt Bobby, der Erzähler in Boris Luries Roman »Haus von Anita«, zum Wesentlichen. Neben anderen Männern ist er regelmäßig Gast in dem titelgebenden Etablissement, um sich dort aus Lust quälen und misshandeln zu lassen. Das liest sich zunächst wie billiger Fetisch, auf einer anderen Ebene werden die Beschreibungen, wie ihm die gottgleiche Anita die Eier quetscht oder etwas in seinen Arsch schiebt, bis ihm schwarz vor Augen wird, zu einer ungewöhnlichen Beschreibung des obszönen Zustands, ausgeliefert zu sein, wie ihn auch von zahlreiche Opfern der Nazigräuel beschrieben haben.

Der 1924 in Leningrad geborene Künstler und Autor Boris Lurie ist einer der Mitbegründer der NO!art-Bewegung, die Iman den Fünfzigern als Gegenentwurf zur Pop-Art bestand. Während die Pop-Art Insignien des Kapitalismus unhinterfragt zu Ikonen der Kunst erhob, attackierten Lurie und seine Mitstreiter die westliche Konsumgesellschaft und betonten in ihren provokanten Ausstellungen die im Kapitalismus verankerten Elemente von Faschismus, Rassismus und Imperialismus.

Boris Lurie: Haus von Anita. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort von Joachim Kalka. Wallstein Verlag 2021. 298 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen.

Lurie verarbeitete in seiner Kunst zudem die eigene Erfahrung in den deutschen Konzentrationslagern, von denen er zwischen 1941 und 1945 zahlreiche von innen gesehen hat. Man könnte fast von einer Odyssee durch die deutsche KZ-Landschaft sprechen. Nach dem Krieg unterstützte er die amerikanischen Truppen als Übersetzer bei Verhören von NS-Verdächtigen. Nach seiner Emigration nach New York sollte er oft mit direktem Bezug auf die Shoah die ihn umgebende Gesellschaft und Konsumkultur künstlerisch in den Blick nehmen.

Sein nun in der Übersetzung von Joachim Kalka erschienener Roman ist über 40 Jahre lang in Lurie gereift, ohne das dieser ihn jemals als abgeschlossen bezeichnet hätte. Man muss ihn deshalb als Denk- und Verarbeitungsraum lesen, in dem der 2008 verstorbene Künstler über das eigene Überleben des Holocausts und die damit einhergehenden Schuldgefühle nachgedacht hat.

Die Collage-Technik der NO!art-Bewegung ist dabei als Grundlage für diesen störrischen und widerständen Text anzunehmen, sicherlich ist der Text aber auch eine Verlängerung der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Holocausterfahrung und den Massenphänomenen der Moderne. Hier wie dort werden Eindrücke und (Erfahrungs-)Wissen vom Holocaust mit PinUp und Sexismus kombiniert. Das wird deutlich, wenn man die von Lurie gestalteten Reisekoffer in den Blick nimmt, die aktuell in der Ausstellung »Boris Lurie und Wolf Vorstell. Kunst nach der Shoah« im Kunsthaus Dahlem in Berlin gezeigt werden. Auf denen sind über die Aufnahmen der Leichenberge aus den KZs die Fotos von Unterwäschemodels der Zeit zu sehen.

Der Roman führt in ein SM-Etablissement mitten in New York, wo drei Dominas in gruseliger Atmosphäre ihre Sklaven erniedrigen. Die fetischisierten Elemente des Romans werden dabei zu einer Projektionsfläche von Schuld und Sühne, einem psychologischen Motiv, das Lurie nie losgelassen hat. Es ist daher auch kein Zufall, dass es die vier Herrinnen im »Haus von Anita« sind (Tanz Louise, Beth Simson, Judy Stone, Anita), die den männlichen Ich-Erzähler und seine drei Schicksalsgenossen (Fritz, Hans, Aldo) bis zur Bewusstlosigkeit quälen, schließlich schreibt und erzählt hier ein Mann, der den gesamten weiblichen Teil seiner jüdischen Familie sowie seine Jugendliebe im Holocaust verloren hat, während er als Zwangsarbeiter überlebte.

Daniel Koep, Eckhart Gillen (Hrsg.) Boris Lurie und Wolf Vostell. Kunst nach der Shoah. Hatje Cantz 2022. 336 Seiten. 54,00 Euro. Hier bestellen.

Als Überlebender wird er zu einem Mann ohne Vergangenheit, dessen Leben in der selbstgewählten Erniedrigung in Anitas Sklaveninstitut besteht. Seine Jugendliebe wird ihm in seiner Erinnerung zuraunen: »Du wirst nie wieder sechzehn sein! Du wirst ein häßlicher alter Sklave bleiben und den Amerikanern für den Rest deines Lebens die Stiefel lecken! Stiefelleckerei, nicht weniger gründlich als vorher bei den Deutschen.«

Die vermeintlich amoralische Positionierung und Verortung von Menschen wie Lurie, die den Holocaust überlebt haben und sich dann anderweitig ausliefern, findet man auch im Kino der Sechziger und Siebziger Jahre. In Liliana Cavanis Drama »Der Nachtportier«, mit dem Charlotte Rampling ihren Durchbruch hatte, verliebt sich eine jüdische Gefangene in ihren Nazipeiniger und erliegt noch Jahrzehnte danach dessen Einfluss. Tinto Brass entführte in den »Salon Kitty«, wo er mit Stereotypen seiner Zeit einen faschistischen Mikrokosmos nachbildete. Und Pier Paolo Pasolini analysierte in »Salto / Die 120 Tage von Sodom« die Mechanismen faschistischer Machtpolitik, indem er de Sades festgelegtes Szenario eines kollektiven Missbrauchs von Jungen und Mädchen bildlich festhielt. Die extremen Schlüsselmotive dieser Sexploitation-Klassiker ziehen sich bis ins Horrorkino der Gegenwart.

Jürgen Kaumkötter (Hrsg.): Boris Lurie. Haus von Anita. Ausstellungskatalog. Wallstein Verlag 2022. 189 Seiten. 24,90 Euro. Hier bestellen.

Solch radikale Bilder wie im Kino sind in der Literatur selten, Pornografie ist im Feld der literarischen Hochkultur ein unbestelltes Feld. Eigentlich verwunderlich, schließlich hat die Literaturwissenschaftlerin Barbara Breysach schon in den Neunzigern herausgearbeitet, dass vor allem Autor:innen, die als Kinder Verfolgungserfahrung erleben mussten, in ihrem Werk häufig Sexualität und Holocaust miteinander verknüpfen, wie Jonas Engelmann in seinem einführenden Text im Kaztalog zur Ausstellung »Bories Lurie. Haus von Anita«, die im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen zu sehen war, zeigt. »Historisches Los und Triebschicksal sind in den Lebensläufen der Holocaust-Kinder auf engste Weise, wenn nicht unauflösbar miteinander verflochten«, zitiert er da die in Polen lehrende Expertin für deutsch-jüdische Literatur. Vor diesem Hintergrund ist eine Indizierung von Holocaust-Literatur wegen Nacktheit oder Sexismus, wie sie zuletzt Art Spiegelmans »Maus«-Comic durch amerikanische Behörden erfahren hat, fatal. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als der Versuch, den Holocaust in all seinen grausamen Dimensionen aus dem Weltgedächtnis zu tilgen.

Die schonungslose Radikalität von Luries Roman wirkt von der ersten Seite an gleichermaßen abstoßend wie anziehend. Passagen, die an Obszönität nicht zu überbieten sind, beschreiben die Rituale, die die Herrinnen mit ihren Bediensteten entwickeln – scheußliche Vorgänge, die bei sexuellen Perversitäten beginnen und in menschenverachtender Gewalt enden – und legen zugleich die in unsere Gegenwart gesickerte Gewalt offen. Das mag Assoziationen an Joshua Cohens »Witz« oder Sjóns »CODEX 1962« wecken, wird hier aber in einer ganz eigenen, explizit sexistischen Form umgesetzt.

Im Motiv der Stiefelleckerei klingt zudem die Kapitalismuskritiker an, die in Luries literarischen und bildnerischen Werk immer wieder auftaucht. Hier wie dort stapeln sich die Ereignisse und Motive zu einem beständigen Anlaufen gegen die Obszönitäten der Gegenwart – Kapitalismus, Gier, Eitelkeit, Sexismus und Gewalt.

Im Sinne Primo Levis bleibt Boris Lurie – und mit ihm sein literarisches Alter Ego – von der Erfahrung des Holocaust ein leben lang gezeichnet. Sein Sexploitation-Roman – dessen Ausbeutung auf Kosten der männlichen Akteure geht – mag schwierig, provokant, abstoßend, in Teilen sogar eine unerträgliche Zumutung sein, er ist aber mindestens im gleichen Maße unbedingt notwendig. Wer verstehen will, wie und warum so ein Roman in dieser Welt ist, muss ihn lesen, um die Welt als das zu sehen, was sie ist und aus uns macht. Pervers sind nicht solche Texte, sondern die Bedingungen und Verhältnisse, die diese hervorbringen und erfordern.

Boris Lurie | Lida Moser. © Boris Lurie Art Foundation

Am Ende bildet Lurie in seinem ebenso avantgardistischen und provokanten Text die Leichenberge der Shoah nach, indem er erst die Dominas über und dann seinen Ich-Erzähler in die Klinge springen lässt. Als »mutterloser Bastard«, der zur ganzen Welt und zu niemandem gehört, der immer außen vor ist, weil er seine Wurzeln verloren hat, findet der erst Frieden im eigenen Tod. »Ich bin ein Zweig, ein soeben abgerissener Zweig des großen schwerbeladenen bleiernen Astes des uralten judäischen Stammes. Fern, und doch mit diesem Baum eins – zugehörig! Wie glücklich bin ich, daß ich nicht das Schicksal derer in den faschistischen Erschießungsgruben erlitten habe, sondern mich eher fügte, höflich, ja, eher diente ich untertänig. Und jetzt bin ich in Rebellion, ich habe einen gewissen Sieg errungen. Ich fahre diesen unbesiegbaren Panzer über die Überreste meiner Herrin Sklaverei hinweg. Obwohl ich völlig tot bin, bin ich endlich frei.«

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