Ukrainische Autor:innen haben noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen wie in diesen Tagen und Wochen. Serhij Zhadan, der in der hart umkämpften Region Charkiw in der zivilen Verteidigung aktiv ist, ist aber der Autor der Stunde. Zahlreiche Preise wurden ihm in den letzten Wochen zugesprochen, längst überfällig seien die, sind sich Expert:innen einig. Denn Zhadan beschreibe die ukrainische Welt nicht nur, sondern er helfe sie zu verstehen, sind sich zahlreiche Jurys einig.
»Inzwischen ist es Hochsommer. Das Militär bestellt Winteruniformen. Ukrainer sind umsichtig und weitsichtig. Guten Morgen allerseits.« So übersetzt Twitter den Tweet von Serhij Zhadan, den der ukrainische Autor am 15. Juli 2022 gegen 7.30 Uhr am Vormittag abgesetzt hat.
Zumindest beim Kurznachrichtendienst Twitter bekommen die Nachrichten des bekanntesten Schriftstellers der Ukraine wieder einen ironischen Ton, der seinen literarischen Texten abhanden gekommen ist. Man sollte sich davon allerdings nicht täuschen lassen. In den Wochen, als Charkiw von den russischen Truppen schwer bombardiert wurde, stand in nicht wenigen seiner Tweets Verzweiflung, Müdigkeit und – verständlicherweise – Wut im Vordergrund. Als die Bilder von Butscha um die Welt gehen, taumelt er am Rand der Sprachlosigkeit. »Es gibt keine Worte. Einfach keine. Haltet durch, Freunde. Jetzt gibt es nur noch Widerstand, Kampf und gegenseitige Unterstützung.«
Mit diesen Worten kündigt sein Verleger, der Suhrkamp-Verlag, Zhadans neuen Titel an, der Ende Oktober erscheinen soll. »Himmel über Charkiw« versammelt Nachrichten aus dem Krieg, sei »eine Chronik der laufenden Ereignisse, das Zeugnis eines Menschen, der während des Schreibens in eine neue Realität eintritt und sich der Vernichtung von allem entgegenstemmt«, heißt es im Vorschautext.
Im Oktober wird Zhadan aber nicht nur wegen dieses Titels im Mittelpunkt der deutschen Feuilletondebatten stehen, sondern auch, weil ihm dann der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 und kurz darauf der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2022 verliehen werden wird. Und wenn man ganz ehrlich ist, würde es nicht verwundern, wenn sich auch das Nobelpreis-Komitee in Oslo in diesem Jahr für Zhadan als Nachfolger von Abdulrazak Gurnah entscheiden würde. Die Polnische Akademie der Wissenschaften hatte den ukrainischen Lyriker, Prosaisten und Musiker Medienberichten zufolge für den Literaturnobelpreis nominiert. Man könnte auch sagen: während Bomben auf seine Stadt niedergehen und sein Leben sowie das seiner Mitmenschen bedrohen, steht Zhadan im friedlichen Teil Europas im Preisregen.
Der Stiftungsrat des Friedenspreises ehrt den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft. Er folgt damit der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga, die den Preis im vergangenen Jahr erhalten hat, und ist nach der Auszeichnung von Lew Kopelew 1981 erst der zweite ukrainische Autor, der den Friedenspreis erhält.
»In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten«, heißt es in der Begründung. »Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.« Die Preisverleihung soll am 23. Oktober in der Frankfurter Paulskirche stattfinden, ob Zhadan daran teilnehmen kann ist momentan vollkommen offen.
Unabhängig davon zeigte sich das Feuilleton begeistert, von NZZ und FAZ, über SZ, Spiegel und Zeit bis hin zu Deutschlandfunk und taz wurde die Entscheidung einhellig wohlwollend bis begeistert aufgenommen.
Serhij Zhadan und sein literarisches Werk
Gut fünf Wochen später soll Zhadan in Bremen den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2022 erhalten, der seit dem Jahr 2003 an eine Person verliehen wird, die mit einer mutigen Intervention das »Wagnis Öffentlichkeit« annehme. Die Internationale Jury des von der Stadt Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung vergebenen Preises zeichnet ebenfalls Zhadan aus, weil die Einblicke, die er in die ukrainische Gesellschaft gebe und die Art und Weise, wie er seit 2014 über das Über-Leben im Krieg erzähle, einzigartig in der jüngeren europäischen Literatur seien. In ihrer Begründung heißt es:
»In seinen Büchern erfahren die Leser, wie aus einer durch Krieg und Not traumatisierten Masse von zersprengten Individuen immer wieder neue solidarische zivile Energie heranwächst. Zhadan beschreibt die ukrainische Welt nicht nur, sondern er hilft sie zu verstehen, in all ihrem Chaos, ihrem Leid, ihrer Menschlichkeit. Diese Art des Erzählens, in der der Erzähler nicht der Meister ist, sondern einer wie alle anderen, der mittendrin im Chaos des Alltags steckt und nach einem Weg sucht, verdankt sich auch der musikalischen Welt, an der uns Zhadan mit seiner Punkband »Hunde im Weltall« teilhaben lässt.« Darüber hinaus sei Zhadan »ein großer Bürger im Arendtschen Sinne, der sich um die Gesellschaft sorgt, in der er lebt und arbeitet, indem er tatkräftig dazu beträgt, dass die Bürgerinnen und Bürger unter dem russischen Angriffskrieg den Mut nicht verlieren.«
Zhadan folgt auf die US-amerikanische Historikerin Jill Lepore, die im vergangenen Jahr den Preis erhalten hat. 2014 wurde der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch, dessen neuer Roman »Radio Nacht« im September erscheint, gemeinsam mit den russischen Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet.
Auch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung stellt in diesem Jahr ein Werk von Serhij Zhadan ins Schaufenster. Die englische Ausgabe von Zhadans 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung (hier ein Gespräch mit Zhadans deutschen Übersetzer:innen Sabine Stöhr und Juri Durkot) ausgezeichneten Romans »Internat« erhält den EBRD-Literaturpreis 2022, der in diesem Jahr zum 50. Mal vergeben wird. Ausgezeichnet wird jeweils ein übersetztes literarisches Werk aus einem der Länder, in denen die Bank investiert. Hinter der einfachen Geschichte eines Lehrers, der durch den vom Krieg zerrütteten Donbas in der Ukraine reist, um seinen Neffen aus einem Internat nach Hause zu holen, verberge sich »Serhij Zhadans außergewöhnlicher, explosiver, zärtlicher, wütender und poetischer Roman über ein vom Konflikt zerrissenes Land und die Absurditäten, Banalitäten, Schrecken und Momente menschlicher Verbundenheit, die der Krieg mit sich bringt«, begründete die Preisjury. »Internat« sei zur rechten Zeit gekommen, als es 2017 zum ersten Mal auf Ukrainisch erschien, und zur rechten Zeit, als es letztes Jahr in der hervorragenden Übersetzung von Reilly Costigan-Humes und Isaac Stackhouse Wheeler erschien. »Und es ist jetzt sogar noch grimmiger und aktueller.«
Bereits im April hat die Frank-Schirrmacher-Stiftung Serhij Zhadan ihren neu ins Leben gerufenen Freiheitspreis zugesprochen. Der Preis soll künftig in unregelmäßigen Abständen Persönlichkeiten verliehen werden, die sich für ein aufgeklärtes Bewusstsein und die Gestaltungsräume des Individuums einsetzen. Zhadan war der erste Preisträger, er wurde für sein literarisches, poetisches und essayistisches Werk und sein mutiges Engagement zu schwerer Stunde geehrt.
2015, ein Jahr nach dem Beginn des Krieges in der Ostukraine, rückte die Literaturzeitschrift Akzente das Thema Krieg in den Mittelpunkt ihrer zweiten Ausgabe. Unter den Autor:innen waren mit Marjana Savka, Marjana Gaponenko und eben Serhij Zhadan auch drei Ukrainer:innen. Von Zhadan wurde das Gedicht »Der Sucher« in der deutschen Übersetzung von Stefaniya Ptashnyk gedruckt.
Der Sucher
Ich suchte lange nach ihr. Sie änderte ihre Nummer,
verschwand aus der Stadt, in sozialen Netzwerken
war sie gar nicht vertreten. Über Bekannte
war sie nicht aufzufinden, auch nicht über die Kirchengemeinde
Und dann schrieb sie selbst – darüber, wie es ihr geht,
über den Umzug, die neuen Umstände, das Sich-daran-Gewöhnen.
Sie erzählte vom Bruder – seinetwegen schrieb sie auch, denke ich,
um von ihm, seinem Tod zu berichten.
Sie wandte sich nicht nur an mich, jedenfalls
war ich nicht der erste. Viel zu ruhig
schrieb sie. Man hatte sie alle erwischt, schrieb sie, alle auf einmal,
mit einem Schuss. Dann kamen die Unsrigen zurück,
um Tote zu holen. Genau genommen, das,
was von ihnen noch übrig blieb.
Am schwierigsten war es mit Beinen. Denn jeder sollte ja
zwei Beine haben. So legte man sie auch zusammen
jeweils zwei Beine, möglichst in gleicher Größe.
Der Bruder war Musiker, hatte eine gute Gitarre,
die dauernd jemand ausgeborgt hatte.
Was soll ich nun damit tun?, fragte sie.
Ich hatte zu spielen versucht, dabei
verletzte ich mir die Finger aus Mangel an Übung.
Es tat sehr weh. Bis jetzt nicht verheilt.
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[…] folgt der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie dem ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga und dem indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya […]