Serhij Zhadans Roman »Internat«, ein dreitägiger Roadtrip in den Krieg, hat den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 in der Kategorie Übersetzung gewonnen. Am Tag nach der Preisverleihung durfte ich mit den Sabine Stöhr und Juri Durkot, den Übersetzer:innen von Zhadans Prosa, im Übersetzerzentrum der Leipziger Buchmesse über ihre Gefühlslage, die gemeinsame Arbeit an diesem atemlosen Roman sowie Zhadans kraftvolle Prosa und ihre Veränderung durch den Krieg im Osten der Ukraine sprechen.
Frau Stöhr, Herr Jurkot, in der Jurybegründung heißt es: »Dass Zhadans großartiger Roman, der vom Krieg in der Ukraine erzählt, auch in der Übersetzung eine enorme Wucht entwickelt, liegt nicht nur am Sujet und der eigentümlichen, hyperwachen Stimmung, sondern auch an den kaskadenartigen Satzketten, die im Deutschen einen drängenden Erzählrhythmus erzeugen, und an der Sprache. In Sabine Stöhrs und Juri Durkots Übertragung entfalten die dichten Beschreibungen eine große Kraft. Lebendiger als in diesem Roman kann man vom Krieg nicht erzählen, lebendiger kann eine Übersetzung nicht sein.« Wie geht es Ihnen einen Tag nach der Auszeichnung? Haben Sie es schon verkraftet?
Juri Durkot: Nicht wirklich. Die Anspannung ist weg, aber man fühlt sich irgendwie ausgelaugt.
Sabine Stöhr: Aber schön ist es schon.
Wie bereitet man sich denn auf so einen Tag vor? Man steht auf der Shortlist, man muss damit rechnen, dass man gewinnen könnte. Zugleich ist die numerische Wahrscheinlichkeit höher, dass ein anderes Buch gewinnt. Sagt man sich da, Ich werd’ es sowieso nicht, damit die Enttäuschung nicht so groß ist oder geht man da ran mit dem Gedanken Wir machen das schon?
Juri Durkot: Die Wahrscheinlichkeit liegt mathematisch gesehen bei 20 Prozent. Ich habe versucht, mir keine Gedanken darüber zu machen, wie die anderen Übersetzungen im Vergleich zu unserer sind.
Sabine Stöhr: Um ein Geheimnis zu verraten: Juri hat es nicht mal seiner Frau erzählt, dass wir nominiert sind, vielleicht weil er dachte, es sei kein gutes Omen. Das Schöne ist doch aber, dass es überhaupt die fünf Nominierungen gibt. Natürlich ist es schöner, wenn man danach da sitzt und den Preis auch gewonnen hat, das ist vollkommen klar. Aber dass fünf Übersetzungen durch diesen Preis und durch die Nominierungen ins Licht gerückt werden und der Blick auf die Übersetzungsleistung gerichtet wird, finde ich schön. Insofern hätte ich mich nach einem kurzen Moment der Enttäuschung sicher auch weiterhin über die Nominierung gefreut.
Frau Stöhr, Sie haben gestern der Aussage im Einspieler widersprochen, dass schlechte Texte leicht, gute Texte hingegen schwer zu übersetzen seien. Hier handelt es sich zweifelsohne um einen guten Text. War die Übersetzung also leicht?
Sabine Stöhr: Dies ist ein sehr guter Text und vor allem ein Text, der einen von der Sprache und von der Handlung her, mit den Personen und dem, was noch darunter liegt, einfach sehr in seinen Bann schlägt. Insofern kommt man über schwierige Stellen oder auch über gewisse Anstrengungen einfach nicht drumherum.
Juri Durkot: Man muss das anders umformulieren. Man kann aus einem schlechten Text keine gute Übersetzung machen. Aber man kann sehr leicht aus einem guten Text eine schlechte Übersetzung machen. Wir haben versucht, den guten Text hier nicht zu vermasseln und hoffen, dass es und gelungen ist.
Der Preis spricht dafür. Ich habe auch viele Menschen getroffen, die ihre Übersetzung unabhängig voneinander als vorzüglich bezeichnet haben. Bevor wir einen Teil des Textes lesen, eine allgemeine Frage. Worin besteht denn die besondere Herausforderung der Übersetzung aus dem Ukrainischen? Wie unterscheidet es sich vom Russischen?
Sabine Stöhr: Die slawischen Sprachen sind sich so ähnlich wie andere Sprachfamilien. Da gibt es bestimmte Dinge, die man natürlich grundsätzlich beachten muss. Hier waren es vor allem die Sprachebenen. Wir kamen gerade auf einem anderen Podium mit dem Historiker Karl Schlögel darauf, dass auch dieser Roman eigentlich vom Untergang der Sowjetunion handelt. Insofern sind schon manche Dinge sprachlich und kulturell besetzt, die dort ja auch eine Rolle spielen. Identitäten etwa. Die Identität des Turnlehrers und anderer Personen, die durch das Sprachliche eindeutig sowjetisch markiert sind. Dann wieder andere Identitäten, die schon sehr viel mit der kompletten Situation und dem Kulturellen zu tun haben. Wie in jeder Übersetzung besteht die Herausforderung darin, wie man diese kulturellen Markierungen so in das Deutsche überträgt, das auch die deutschen Leser diese Dinge verstehen und mitbekommen.
Juri Durkot: Kulturelle und historische Kontexte spielen bei jeder Übersetzung eine Rolle. Genauso wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger ist der Stil des Autos. Serhij Zhadan hat sich in diesem Buch eigentlich neu erfunden. Er hat aus meiner Sicht eine ganz neue Ebene erreicht. Die Vielschichtigkeit seines Textes und seine Allegorien sind wirklich umwerfend. Bei seinen Metaphern merkt man zudem, dass er Lyriker ist. Er hat als Lyriker angefangen und ist einer geblieben. Diese unglaubliche Poesie, mit der er die Absurdität des Krieges beschreibt, war herausfordernd. Denn das muss natürlich auch in der Übersetzung poetisch klingen. Es reicht einfach nicht, alles eins zu eins zu übertragen, sondern die Poesie des Textes muss auch in der Übersetzung spürbar sein.
Pascha ist die zentrale Figur des Romans, nur selten verlassen wir seine Perspektive. Er ist ein typischer Antiheld, aber nicht nur, weil er als Invalide nicht kämpft. Herr Durkot, was ist das für ein Typ und inwiefern prägt er den Roman?
Juri Durkot: Pascha ist tatsächlich eher ein Antiheld, wobei dieser Antiheld hier nicht unsympathisch erscheint. Er ist eine allegorische Figur. Pascha hat eine versehrte Hand und ist ungläubig, was sein eigenes Land betrifft. Das lässt an Apostel Thomas denken. Den hatte Serhij meines Erachtens auch im Kopf, als er diese Figur geschaffen hat. Pascha ist Schullehrer in einer Kleinstadt im Donbass. Er gibt Sprachunterricht, nicht irgendeinen, sondern Ukrainisch. Eine Sprache, die dort im Alltag nicht gesprochen wird, obwohl das die Amtssprache in der Ukraine ist. Hier wird Ukrainisch aber nur im Unterricht gesprochen, in den Pausen reden alle Russisch miteinander. Pascha ist jemand, der immer versucht hat, wegzugucken, der nicht bemerken wollte, was um ihn herum passiert. Manche ukrainische Literaturkritiker hatten dem Roman vorgeworfen, dass Pascha nicht zum Helden wird. Dennoch ist diese Figur aus meiner Sicht symbolisch stark aufgeladen. Pascha ist eine Art Appell an uns alle: Man darf nicht wegschauen und gleichgültig sein.
Serhij Zhadan beschreibt die Landschaft, durch die sich Pascha bewegt, geradezu filmisch. Man hat dank ihrer Übersetzung die dystopische Kriegslandschaft vor den Augen. Wie haben Sie hier gearbeitet? Gab das alles der Text her oder haben Sie auch mit Bildmaterial aus dem Donbass gearbeitet, um selbst einen konkreteren Eindruck von dem zu haben?
Sabine Stöhr: In den letzten Jahren haben wir ja schon einiges lernen müssen, auch was die Sprache angeht. Die Bezeichnung von Waffen, Fahrzeugen, den Unterschied zwischen Artilleriebeschuss und den Salven von Maschinengewehren. Die Bilder aber hatten wir schon vorher, durch das, was man vom Krieg weiß, von Freunden in der Ukraine und Menschen, die Freunde und Bekannte verloren haben. Ich war vor Jahren auch selbst in der Ostukraine und habe von Donezk ein ganz anderes Bild als das, was heute vorherrscht. Insofern habe ich auch ein ganz gutes Gefühl für die Zerstörung, die da angerichtet wurde.
Juri Durkot: Ich kenne die Region ebenfalls, war früher relativ oft da. Insofern kann ich mir auch diese Bilder vor Augen rufen. Bei anderen Übersetzungen haben wir Serhij auch manchmal gebeten, dass er uns die ein oder andere Location näher beschreibt oder sogar zeichnet. Zum Beispiel im Roman »Die Erfindung des Jazz im Donbass« gibt es eine Tankstelle mit ein paar Schuppen drumherum. Damit wir uns das plastischer vorstellen können, haben wir ihn gebeten, uns eine Zeichnung davon anzufertigen. Das hat uns wirklich geholfen. Es ist daher wichtig, mit zeitgenössischen Autoren in Verbindung zu stehen, um Doppeldeutigkeiten zu klären. Es ist essentiell, dass man diesen Kontakt hält und Feedback vom Autor bekommt.
Der Schwarz-Weiß-Kontrast spielt im Roman auch eine große Rolle. Auf der einen Seite die rußgeschwärzten Kriegsruinen, auf der anderen Seite das Weiß des Schnees und des Nebels. Der Nebel scheint mir ohnehin die heimliche zweite Hauptfigur – vor allem im ersten Teil des Romans. Er absorbiert alles Greifbare und gibt dem Bedrohlichen eine Heimat.
Sabine Stöhr: Dass es viel Nebel gibt, ist uns natürlich auch aufgefallen. Wir haben uns zwischendurch gefragt, ob es nicht zu nebelig ist. Ich persönlich assoziiere mit dem Nebel nur Schreckliches. Auch das Auflösen menschlicher Konturen im Nebel ist kein Schutz, sondern ein Zeichen dafür, dass sich Menschen auflösen, keinen Standpunkt mehr haben, hin und her wabern. Hier wird der Nebel für Paschas Haltung, oder besser gesagt Nicht-Haltung, sehr symbolisch.
Juri Durkot: Für mich war der Nebel zu Beginn sogar die Hauptfigur. Ich hab mir vorgestellt, wenn John Grisham etwas in dieser Art geschrieben hätte, hätte er das Buch sicher »Der Nebel« genannt.
Der Roman arbeitet stark mit sinnlichen Eindrücken. Man hört die Zugluft pfeifen, den Wasserhahn tropfen, die Hunde bellen, Menschen schreien, Schüsse fallen, Bomben explodieren. Das alles schafft eine überaus beklemmende, beängstigende Atmosphäre. Wie bekommt man diese Beklemmung in den deutschen Text übertragen?
Sabine Stöhr: Da kann ich nur wieder darauf zurückkommen, dass sich ein hervorragender Text gut übersetzen lässt. Denn all das steckt im Original. Das Übersetzen ist dann zumindest im ersten Schritt kein rationaler Akt, sondern der Versuch, das Gefühl, dass man beim Lesen des Originaltextes hat, in die deutsche Sprache zu bringen. Das kann bei einem Text, der einen so gefangen nimmt, gelingen. Für mich war es wichtig, die realen Bilder und Metaphern zu sehen und zu spüren. Ich wollte mit Pasha diesen Weg gehen und beschreiben, was er sieht.
Juri Durkot: Ich glaube, man spürt diese Beklemmung selbst, wenn man den Text liest. Man bewegt sich praktisch mit Pascha mit, hat das Gefühl, dabei zu sein. Man versetzt sich nicht bewusst in diese Situation, man wird hineingezogen. Hineingezogen in den Nebel dieses Romans.
In einer Szene wird der Leser sogar in die Köpfe von drei streunenden Hunden versetzt, die der plötzliche Geruch von Liebe erschreckt. Das fand ich unglaublich stark. Was waren denn ihre Höhepunkte oder Lieblingsstellen bei der Übersetzung?
Juri Durkot: Es gibt unglaublich viele starke Szenen in diesem Buch. Eine meiner Lieblingsstellen ist die Szene im Krankenhaus am Ende des Buches, wo man zum ersten Mal wirklich versteht, dass Pascha herzkrank ist. Er muss bei einer Operation eines schwerverwundeten jungen Soldaten helfen und hat den Eindruck, dass er jetzt sterben muss. In diesem Moment spürt er, wie sich der Tod von ihm ab- und dem verletzten Soldaten zuwendet.
Sabine Stöhr: Die ganze Szenerie läuft auf diesen Moment zu. Vorher liegt selbst der Tod im Nebel und wird erst in diesem Finale plötzlich konkret und real.
Sie haben 2007 mit dem Roman »Depeche Mode« begonnen, Serhij Zhadans Literatur zu übersetzen. Seither sind mit »Hymne der demokratischen Jugend«, »Die Erfindung des Jazz im Donbass«, »Mesopotamien« und nun eben »Internat« vier weitere Romane hinzugekommen. In dieser Zeit hat sich das Land stark gewandelt. Ein Teil ist stärker am Westen ausgerichtet, ein anderer wendet sich Russland zu. Die Maidan-Proteste, die Annexion der Krim, die Besetzung der Donbass-Region, der Krieg im Osten, all das erschüttert diese Gesellschaft. Wie hat sich Zhadans Schreiben unter diesen Eindrücken verändert.
Juri Durkot: Auf jeden Fall hat sich Serhijs Sprache verändert. Und zugleich ist sie genauso wie früher. Ich hatte ja schon gesagt, dass er Lyriker ist. Und das spürt man auch in all seinen Romanen. »Mesopotamien« ist beispielsweise direkt aus seinen Gedichten entstanden, bei »Internat« gibt es eher indirekte Bezüge. Etwa zu dem Gedicht »Der schwarze Treck«, aus dem man manche Bilder, Figuren und Motive wiedererkennt. Pascha ist der Priester, der im Gedicht vorkommt, und der schwarze Treck marschiert hier am Bahnhof los. Bei früheren Romanen war Serhij eher schelmisch und witzig. Hier hat er das aufgegeben. Er ist zwar manchmal ironisch, einige seiner Figuren erscheinen karikiert, aber seine sprudelnde Witzigkeit ist verschwunden. Das hat sicherlich mit dem Thema zu tun. Es gibt hier auch keine philosophischen Passagen wie in seinen früheren Büchern, die als Ausgleich zu dem Schelmenhaften dienten. Hier ist die Erzählung viel konsistenter. Im Grunde genommen funktioniert der Text wie eine Kamera, die mitläuft. Serhij hat uns erzählt, dass er den Text ursprünglich als Drehbuch schreiben wollte, nachdem er an dem Drehbuch für »Die Erfindung des Jazz im Donbass« mitgewirkt hat. Man läuft hier mit der Kamera mit und das verleiht dem ganzen Geschehen eine klare Perspektive.
Sabine Stöhr: Es ist ganz sicher so, dass Serhij hier die Leichtigkeit seiner Sprache verloren hat oder sie nicht zum Einsatz bringt. Es gab in einer früheren Erzählung eine wunderbare Szene, in der ein amerikanischer Baptistenprediger von einer Dolmetscherin übersetzt wird, die ihn überhaupt nicht versteht. Diese sehr lustige Geschichte haben wir beim Übersetzen unheimlich genossen. Hier schnurrt er das mitunter spaßige Missverstehen auf wenige Zeilen zusammen. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, wie sich seine Sprache verändert hat. Gleichzeitig finde ich es eine ganz ganz große Leistung, vollkommen unpathetisch über den Krieg zu schreiben und gleichzeitig doch so direkt und anrührend.
Die Dialoge sind hier etwas ganz Besonderes, auch wenn es deutlich weniger Dialoge gibt als in seinen vorherigen Romanen.
Juri Durkot: Viel weniger Dialoge, das stimmt. Aber die seltenen Dialoge, die es gibt, sind unheimlich wichtig. Für mich ist auch eine der zentralen Stellen der Dialog am Ende des Buches, wo Pascha auf einen alten Soldaten mit einem Knalltrauma trifft, der auf den Bus wartet. Der drückt ihm ein Stück Steinkohle mit dem Abdruck von einem Farnblatt in die Hand. Interessanterweise begreift Pascha überhaupt nicht, worum es dem Soldaten geht. Über diese Stelle haben wir viel diskutiert, weil sie so zentral für das Verständnis ist. Dieser ungebildete alte Soldat, der eigentlich auch so eine Art Surschyk sprechen könnte – eine wilde Mischung zwischen Ukrainisch und Russisch, die viele ungebildete Menschen sprechen und bei der wir immer wieder vor der Herausforderung stehen, wie wir das im Deutschen markieren – versteht das alles viel besser als Pascha. Dieses Stück Kohle lag in einem Museum, das es nicht mehr gibt. Und dieser Abdruck ist Millionen Jahre alt. Er ist ein Symbol. Für Ukrainer ist Farn sowieso sehr symbolisch aufgeladen, in vielen Fabeln und Legenden wird er besungen. Das Zentrale an dieser Szene ist, dass ein alter einfacher Soldat den Sinn viel besser versteht als der Lehrer.
Wie arbeiten Sie eigentlich als Team zusammen?
Sabine Stöhr: Für die erste Fassung teilen wir uns den Text einfach möglichst gerecht auf und machen uns einen ungefähren Zeitplan. Wir schicken uns unsere Übersetzungen dann gegenseitig zu und tauschen uns aus. In dieser Phase klären wir viele Grundsätze, wie man Dinge oder Personen nennt. Da reden wir auch über den gemeinsamen Stil für den deutschen Text. Das geht dann einige Male hin und her und langsam wachsen unsere Teile zu einem Ganzen zusammen. Dabei kommt man unweigerlich an Schlüsselstellen, über die wir uns unterhalten, Fragen und unterschiedliche Sichtweisen klären. Manchmal stellen wir uns auch Orte unterschiedlich vor und müssen uns dann einigen. Ganz banale Fragen, ob etwas links oder rechts von einem Haus oder Auto ist. Das sind wichtige Fragen, wenn ein Text wie eine Kamera alles realistisch aufzeichnen muss. Und dann gibt es Szenen, über die wir wirklich diskutieren. Hier etwa die Frage, wie so ein Stück Steinkohle aussieht. Wenn ich an Kohle denke, denke ich an Holzkohle. Ich hatte nicht verstanden, dass das tatsächlich ein Stein ist, der einfach ganz anders aussieht.
Juri Durkot: Das macht aber Spaß, das sollten Sie wissen. Am Anfang ist es immer eine Anpassung an den Stil, das muss man bei jedem neuen Buch machen. Für mich ist unsere Zusammenarbeit immer eine sehr interessante Kombination aus Kreativität und Genauigkeit. Denn wir müssen uns wirklich sehr genau vorstellen, was der Autor gemeint hat. Deshalb haben wir bei diesem Buch mehrmals bei Serhij nachgefragt. Der Umstand, dass der andere mutübersetzt, setzt bei mir kreative Kräfte. Ich fühle mich mit dem Wissen, dass Sabine eingreifen wird, wenn ich zu weit gehe, freier.
Es gibt also immer ein Korrektiv?
Sabine Stöhr: Mehrmals gibt es dieses Korrektiv. Gestern fiel uns dazu ein gutes Beispiel ein. Da ging es um die Beschreibung einer Person, von der ich eine konkrete Vorstellung hatte. Es ging um eine Frau und die Frage, ob wir die als aufreizend beschreiben können. Für mich entstand das Bild einer auch im sexuellen Sinne vulgär aufreizenden Person. Ich konnte Juri davon aber nicht überzeugen. Im Laufe des Romans aber fand ich, dass meine Sicht auf diese Frau nicht falsch war. Am Ende musste ich ihn dann doch von meinem Bild überzeugen.
Juri Durkot: Ich fand diese Frau, die eine Nebenfigur ist, tatsächlich einfach nur arrogant. Aber das zeigt, wie man manchmal über bestimmte Sachen diskutiert, die eigentlich als nebensächlich erscheinen. Das ist wirklich das Schöne, wenn man zu zweit übersetzt.
Sabine Stöhr: Übrigens habe ich zuweilen auch den Eindruck, dass es Serhij egal ist, wenn wir ihn in solchen Situationen fragen. Also nicht egal im Sinne von Macht doch was ihr wollt, sondern er will das nicht vorgeben. Er mag die Ambivalenz und die Offenheit. Und das ist wirklich schön, dass er offen dafür ist. Dass bei uns Bilder und Eindrücke entstehen, an die er nicht gedacht hat, die sein Text aber enthält.
Juri Durkot: Er vertraut uns inzwischen auch viel stärker. Ich kann mich erinnern, dass er bei der ersten Übersetzung den deutschen Text noch lesen wollte. Danach nicht mehr.
Das zeigt auch die Schwierigkeit der Übersetzung, wenn eine Ambivalenz in der Ausgangssprache in der Zielsprache möglicherweise mehr Eindeutigkeit verlangt. Nun gibt es mit Claudia Dathe eine dritte Übersetzerin, die sich mit Zhadan auseinandersetzt. »Mesopotamien«, das aus einem Gedichtzyklus entstanden ist, haben Sie beispielsweise zu dritt übersetzt. Verändert das noch einmal die Zusammenarbeit?
Sabine Stöhr: Mit Claudia Dathe haben wir eine klare Arbeitsteilung. Sie übersetzt Serhijs Lyrik, wir die Prosa. »Mesopotamien« besteht ja aus einem Prosa- und einem Lyrikteil, so kam es zu der Zusammenarbeit. Die Herausforderung lag vor allem bei unserer Lektorin Katharina Raabe, die dafür sorgen musste, dass sich die Korrespondenz zwischen den Gedichten und der Geschichte auch sprachlich niederschlägt.
Sie übersetzen beide auch allein aus dem Ukrainischen. Frau Stöhr, Sie sind die Übersetzerin von Jury Andruchowytsch, Juri Durkot, Sie haben Mykola Rjabtuschuks politischen Essay zur realen und imaginierten Ukraine übersetzt. Was macht für Sie einerseits den Reiz der Teamarbeit, aber auch der alleinigen Übersetzung aus?
Sabine Stöhr: Wir erinnern uns gar nicht mehr daran, wie es dazu kam, dass wir Serhij gemeinsam übersetzen. Aber dieses gemeinsame Arbeiten ist klar an den Autor gebunden. Es gibt nicht so viele Gelegenheiten, gute Bücher zu übersetzen. Und wir beide genießen es sehr, das bei Serhij gemeinsam zu tun. Ansonsten arbeiten wir in verschiedenen Kontexten meist allein.
Juri Durkot: Tatsächlich haben wir mit Ljubko Deresch angefangen, gemeinsam zu übersetzen. Das war unser erstes Buch. Ich glaube, Sabine hatte das damals vorgeschlagen, warum, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr.
Es gibt im Roman eine Szene, in der deutlich wird, dass man nicht keine Haltung in diesem Konflikt einnehmen kann. Was heißt das für die Rezeption von Serhij Zhadans Literatur in der Region, in der Nationalismus und Patriotismus immer stärker in den Vordergrund drängt?
Juri Durkot: Der Roman wurde in der Ukraine ziemlich gut besprochen. Die Kritik, die es gab, ging in die Richtung, dass dieser Roman etwas unpatriotisch erscheint, weil Serhij nicht klar und deutlich sagt, wer die Guten und die Bösen sind. Das ist aber im Krieg grundsätzlich schwer zu beantworten, es gibt ja viele Grautöne. Hier ist es meines Erachtens aber schon klar, auch wenn er nur in Nebensätzen erklärt, wer hinter dem Geschehen steckt. Er nennt aber interessanterweise nicht die Farben der Flaggen. Das war manchen Kritikern nicht eindeutig genug. Ich verstehe das auch. Es ist schwierig in einem Land, das im Krieg steht, Ambivalenzen auszuhalten, auch wenn dieser Krieg nur in einem Teil stattfindet. Aber dennoch glaube ich, dass sich die Ukrainer nicht anders verhalten, als andere Nationen. Der Krieg ist grausam, entwickelt aber auch eine Eigendynamik. Und da ist es einfach schwierig, objektiv zu bleiben.
Es gab hier in Leipzig eine Veranstaltung, die den Titel trug »Das übersetzt man nicht ungestraft«. Dabei ging es darum, was bestimmte Bücher mit der Seele der Übersetzenden machen. Was hat denn dieses Buch mit seiner überrealistischen Herangehensweise mit Ihrer Seele gemacht?
Sabine Stöhr: Das Buch enthält wahnsinnig viele Zumutungen. Es beschreibt vor allem die Zumutungen für die Bevölkerung, die eine solche Kriegssituation mit sich bringt. Es ist ein Roman über die Geschichten hinter den nüchternen Meldungen der Nachrichten. Ich habe mich auf einer anderen Ebene ja auch beruflich lange mit diesen Meldungen beschäftigt. Da ist dann nüchtern von Waffenstillstandsverletzungen die Rede, von neuen Verhandlungen und Einigungen, die dann wieder in Verletzungen des Vereinbarten führen. Die Geschichte hinter diesen Meldungen ist die eigentliche Geschichte. Sie führt vor Augen, wie schrecklich die Ereignisse sind und was das für jeden Einzelnen und die Gesellschaft als Ganze bedeutet. Insofern ist »Internat« ein sehr universelles Buch. Wir reden jetzt hier über die Ukraine, aber wenn man bedenkt, wie sich die Leute in Syrien fühlen, dann kann das nur um ein Vielfaches schlimmer sein. Das geht einem schon sehr nah.
Sabine Stöhr, Juri Durkot, vielen Dank für das Gespräch und ihre Übersetzung von Serhij Zhadans Roman »Internat« – ein bedrückender, ein packender und formidabel übersetzter Roman über die Verlorenheit des Menschen im Krieg.
Das Gespräch wurde am 18. März 2018 im Übersetzerzentrum der Leipziger Buchmesse geführt.
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