Irina Kilimniks Debütroman „Sommer in Odessa“ ist eine flirrende Liebeserklärung an die ukrainische Metropole am Schwarzen Meer und ihre Menschen. Politik spielt nur eine Nebenrolle. Ein Gespräch über Kindheitserinnerungen, knorrige Patriarchen, emanzipierte Frauen und die Odessiter Unbeschwertheit.
Frau Kilimnik, Ihr Roman trägt den Titel »Sommer in Odessa«. Was macht so einen Sommer in Odessa besonders?
Besonders macht es für mich in erster Linie die Stimmung: Es herrscht ein leichtes Faulenzen, auch wenn man weiterhin zur Arbeit muss, gepaart mit einer feierlichen Sorgenlosigkeit, so als wäre jeder Tag etwas Besonderes. Das Leben verlagert sich nach draußen, die Nächte sind lang, oft hatte ich das Gefühl, mindestens die Hälfte der Stadt geht überhaupt nicht schlafen. Und dann natürlich diese Kombination aus Stadt und Strand in einem – wie kann man das übertreffen?
Was bedeutet Ihnen Ihre Geburtsstadt Odessa? Wie oft sind Sie dort und wann waren Sie zuletzt da?
Wie die meisten Menschen habe auch ich zu meiner Geburtsstadt ein besonderes Verhältnis. Odessa wird immer für mich etwas Unvergleichliches sein und eine der schönsten Städte der Welt. Ich hoffe inständig, dass die Stadt von der Zerstörung verschont wird. Als die UNESCO das historische Zentrum Odessas im Eilverfahren zum Weltkulturerbe anerkannt hat, hat mich das erleichtert und sehr gefreut. Vielleicht hilft es was. Ich war jetzt schon einige Jahre nicht mehr dort, irgendwie kam immer etwas dazwischen, jetzt ist es ja völlig unmöglich.
Was macht es mit Ihnen, Ihren Geburtsort bombardiert (und Ihre Familie bedroht?) zu sehen? Wie sehr beschäftigt Sie der Krieg im Alltag?
Als der Krieg losging, war ich wie versteinert. Ich verfolgte die Nachrichten und tauschte mich mit Freunden aus, darunter eine gute Freundin, die in Odessa wohnt. Irgendwann aber konnte ich nicht mehr, ich musste wieder »normal« werden, leben. Aber es bleibt eine gewisse Angst und eine Traurigkeit.
Sind Sie beim Schreiben vom russischen Angriff auf die gesamte Ukraine überrascht worden? Wenn ja, wie haben die Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 Ihr Schreiben und Denken über den Roman noch einmal verändert?
Ich glaube, wir alle sind von diesem Krieg überrascht worden, aber an meinem Roman hat sich dadurch nichts verändert. Warum? Mein Roman spielt im Jahr 2014, im Sommer, wo sich im Leben einer jungen Frau einiges entscheidend verändert. Sie löst sich von den Fesseln ihrer Familie – und die Familienbande in Odessa können sehr fest sein. 2014 ist auch die Zeit nach dem Maidan, als sich die Spannungen zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Kräften in der Gesellschaft zwar schon deutlicher abzeichneten, aber die aktuelle Katastrophe einfach jenseits aller Vorstellungskraft war. Diese ersten Risse durch die Gesellschaft beschreibe ich, aber das spielt in meinem Roman nur eine Nebenrolle.
Wieso nur eine Nebenrolle?
Ich habe keinen politischen Roman geschrieben, sondern eine Familiengeschichte mit einer jungen Frau aus Odessa im Mittelpunkt und dabei kommen die – ich möchte einmal sagen – spezifisch osteuropäischen Aspekte weiblicher Emanzipation zur Sprache. Mein Roman enthält einige typische odessitische Charaktere, und es geht auch um die Einflüsse des Westens und die Beharrungskräfte des Ostens. Ich bin auch nicht der Versuchung erlegen, sozusagen mit dem heutigen Wissen jetzt »klüger« zu sein als die Menschen damals 2014 und den Nationalitätenkonflikt im Roman mehr Gewicht zu geben. Würde mein Roman heute spielen, während Odessa beschossen wird, hätte meine Protagonistin Olga sicher ganz andere Sorgen und auch die Familie hätte einen anderen Stellenwert. Deshalb ist es mir sehr wichtig herauszustreichen, dass »Sommer in Odessa« nicht in der Gegenwart spielt und kein Kriegsroman ist.
Ihr Roman spielt nach der Eroberung der Krim durch die Russen. Wie schwierig war es, die Explosion der Gewalt seit dem 24. Februar 2022 aus dem Roman herauszuhalten und es beim vielsagenden Brodeln zu belassen?
Der Großteil des Romans war bereits vor dem Februar 2022 fertig. Mein literarisches Anliegen ist eine Coming of Age Geschichte in der postsowjetischen Ukraine. Heute sind sehr viele Frauen aus der Ukraine auf der Flucht und bringen ihre Kinder in Sicherheit. Viele Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit dem Krieg und sind weitaus näher am Geschehen als ich.
In Ihrem Roman tauchen wir in einen Odessiter Haushalt ein, in dem sich drei Töchter und deren Töchter um einen alten Patriarchen drehen. Wie kam es zu dieser Grundkonstellation? Und was sagt diese illustre Familiengesellschaft über die ukrainische Gesellschaft?
Zuerst entstand die Figur des Großvaters, eines russisch-ukrainischen Opas, der alten Zeiten hinterher trauert, aber eigentlich ganz gut in der »neuen Welt« zurechtkommt. Sein Selbstverständnis beruht darauf, dass seine Töchter ihm etwas schuldig sind. Schuldig, weil es sich einfach so gehört, weil Kinder automatisch in elterlicher Schuld stehen. Und damit spielt er gekonnt, lässt die Töchter nach seiner Pfeife tanzen und ist nie zufrieden. Am Ende sind es die Enkelinnen, die ihn entmachten. Solche männlichen und weiblichen Charaktere sind in osteuropäischen Gesellschaften nicht selten. Da gehen sicherlich auch eigene kindliche Erinnerungen von mir mit ein. Wir sind zwar keine riesengroße Familie, aber es gibt doch einiges an Verwandtschaft. Denke ich zurück, kommen mir unsere Sommer immer sehr turbulent vor: Viele Menschen, die sehr viel über alles Mögliche, besonders aber über die Politik reden und sich ab und zu streiten. Wie ein Bienenstock, der nie zur Ruhe kommt. Dabei schwirren die Frauen herum, nur dass hier ein König den Stock dirigiert und nicht eine Königin.
Die Ich-Erzählerin ist eine junge Frau, die von ihrer Familie gedrängt wurde, Medizin zu studieren, und als Ersatz für den fehlenden männlichen Nachwuchs herhalten muss. Von allen Seiten werden Erwartungen an sie herangetragen, im Grunde kann sie nie etwas richtig machen. Inwiefern reflektieren Sie mit Olga die Rolle der Frau in der ukrainischen Gesellschaft?
Das tue ich nicht nur mit Olga, sondern auch mit anderen Frauenfiguren. Olgas Mutter und die Tanten opfern sich auf und ordnen ihr eigenes Glück dem Familienwohl unter, dabei spielen sie aber auch diese »Opferkarte« gegenüber den anderen aus. Sie denken nicht in »Ich-Kategorien«, Selbstverwirklichung im westlichen Sinne ist ihnen nicht so wichtig. Sich dem Patriarchen zu widersetzen, fällt ihnen schwer. Sie können den Vater nicht einfach so verlassen, sie würden sich schuldig fühlen, und diese innere Verpflichtung bindet sie an ihn und hält sie an der ganzen familiären Konstellation fest. Auch Mascha, Olgas beste Freundin, ist ein Typus, den es im Westen so nicht gibt. Sie will nach »oben«, am besten in den Westen heiraten und so ein besseres Leben für sich haben.
Was ist der Patriarch mit all seinem Kontrollzwang und Misstrauen für eine Figur?
Der Patriarch ist herrschsüchtig und betrachtet seine Töchter und die Enkelinnen als einen Teil seiner selbst. Psychologisch gesehen ist er ein narzisstischer Vater und Großvater. Seine Nachkommen sind dafür da, um ihn in seiner Einzigartigkeit zu bestärken.
In Ihrem Roman erzählen Sie, wie der Konflikt zwischen ukrainischen und russischen Positionen im wahrsten Sinne durch die Mitte der Gesellschaft geht und Familien, Freund- und Nachbarschaften zerstört. So steigen sie hinab von der großen Politik hin zu den kleinen Leuten. In welchem Verhältnis stehen Politik und Leben in der Ukraine und wie hat sich das in den letzten Jahren verändert?
Seit einem Jahr ist die Ukraine in einem Ausnahmezustand. Städte werden bombardiert, viele Menschen flüchten, viele Frauen sind samt Kindern weg. Die Bevölkerung schwankt zwischen Angst und Hoffnung. In der Zeit, in der mein Roman spielt, war das natürlich anders. Die Ukraine war eine typische postsowjetische Gesellschaft wie sie etwa auch Swetlana Alexijewitsch beschreibt. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr und der Kapitalismus ist nie wirklich angekommen. In meinem Roman driftet eine der Tanten in eine Sekte ab. Auch das ist ein Symbol für die Orientierungslosigkeit. Die Ukrainer sind auch Opfer von allen möglichen Scharlatanen, Sekten und Ideologen. Und sie sind anfällig dafür, denn sie suchen einen neuen Halt. Viele glauben an die ukrainische Nation, einige an Großrussland, andere an die Zukunft in der EU. Die Zukunft ist völlig ungewiss.
Hat die Politik gegenüber dem Leben, dem Miteinander und der Familie gerade ein zu schweres Gewicht in der Ukraine?
Der Krieg ist aktuell natürlich das alles bestimmende Thema. Die Bedeutung der Familie dürfte in harten Zeiten eher zunehmen. Die Zivilgesellschaft scheint mir am meisten unter Druck zu stehen.
Die Handlung wird im Wesentlichen von den Frauen vorangetragen, vielleicht eine Allegorie auf die Wichtigkeit der Frau nicht nur, aber auch in der ukrainischen Gesellschaft. Zu Beginn des Krieges hat ein Großteil der Frauen das Land verlassen. Was macht das mit dieser Gesellschaft?
Wie gesagt, gegenwärtig ist die Ukraine im Ausnahmezustand. Dass viele Frauen das Land verlassen, kann kein Dauerzustand sein. Was aus der Zivilgesellschaft der Ukraine wird, kann derzeit niemand sagen.
In Ihrem Roman deuten Sie die problematische Nähe des ukrainischen Kampfes zum Nationalismus an. Inwiefern bereitet Ihnen dieser Nationalismus Sorgen?
Ich komme aus Odessa, einer multikulturellen Stadt, die es seit jeher verstanden hat, die verschiedenen Nationalitäten unter ihrem Dach zu integrieren. Man war zuerst Odessiter und dann erst Russe, Ukrainer, Jude, Grieche, Italiener usw. Die Stadt wird von ihren Einwohnern gern liebevoll Odessa-Mama genannt. Die Mama liebt alle ihre Kinder, und die Kinder, wenn auch von verschiedenen Vätern, leben untereinander, wenn auch mit kleinen Zankereien, in Frieden, denn tief in ihrem Inneren wissen sie, dass sie zusammengehören. Jeder Nationalismus kündigt diese Verständigung auf, deshalb mag ich ihn nicht. Die Ukraine ist ein Vielvölkerstaat. Wir müssen zusammenleben. In der Schweiz gelingt das vorzüglich, wieso orientieren wir uns nicht an der Schweiz?
Es gibt mit dem indischen Kommilitonen Radj einen besonderen Blick von außen auf den Konflikt und die gespaltene ukrainische Gesellschaft? Wie war es, diese Figur zu schreiben? Hat Sie Ihnen neue Perspektiven auf den Konflikt eröffnet?
Ich finde Radj passt nach Odessa. Er hat ja ähnliche familiäre Probleme wie Olga, aber sie stellen sich ihm als Mann und mit einem anderen kulturellen Hintergrund ganz anders. Er sieht vieles nüchterner, klarer. Als ich an dieser Figur arbeitete, versetzte ich mich in den Zustand einer Beobachterin, die ich war, als wir damals nach Deutschland auswanderten.
Neben Radj gibt es zwei weitere Freunde von Olga. Einerseits Mascha, die plant, als Au-Pair nach Deutschland zu gehen und andererseits Sergej, der aus Deutschland zurück in die Ukraine gegangen ist. Inwiefern sind die Geschichten dieser und anderer Figuren (David) vom Dasein vieler Ukrainer:innen im Exil geprägt?
In der Ukraine blicken viele ins Ausland und vor allem in den Westen. Seit 1990 sind 20 Prozent der ukrainischen Bevölkerung ausgewandert, vor allem nach Europa und vor allem junge Leute. Wer Karriere machen will, schielt nach Westen und ist auch bereit sich dessen Bedingungen anzupassen. Ukrainische Frauen können sich vorstellen, einen Mann im Westen zu heiraten. Das zeigt auch die Fragilität postsowjetischer Gesellschaften, denn in anderen osteuropäischen Ländern ist es ja nicht viel anders.
Welche Bedeutung hat die Existenz im Exil für die Ukraine?
Diese Frage vermag ich nicht zu beantworten zu können.
In der Geschichte selbst ist ein grundsätzlicher Konflikt Alt gegen Neu in vielerlei Hinsicht angelegt. Zwischen den Generationen, zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Datscha und Eigentumswohnung. Besteht der eigentliche Konflikt, der diese Gesellschaft gefangen hält, darin, dass sich hier eine alte und eine neue Welt unversöhnlich gegenüberstehen?
Die »alte« Welt hat ihre Wurzeln noch in der UdSSR. Der Umsturz, der Zerfall der Sowjetunion und die Etablierung einer neuen Gesellschaft vollzog sich, historisch gesehen, sehr schnell. Vielleicht zu schnell für manche Menschen. Ich kann mich gut an diese Zeit erinnern, an die Ratlosigkeit, die damals herrschte und an die Enttäuschung, als die neue Welt sich nicht als eine heile Welt entpuppte. Manch einer wünschte sich die alte Ordnung zurück. Der Opa ist so einer Sowjetnostalgiker.
Als die Datscha abbrennt und kurz im Raum steht, eine neue aufzubauen, fällt der Satz, dass diese neue Datscha ein perfektes kleines Haus sein wird, »aber es wird nichts mehr mit uns zu tun haben«. Ist das eine Angst, die sie in sich tragen, dass, wie auch immer dieser Konflikt Alt gegen Neu ausgeht, das Ergebnis nichts mehr mit der Ukraine zu tun haben wird, die sie mal war?
Ist es nicht so, dass die Nostalgiker sich immer wünschen, dass es endlich wieder so wird, wie es nie war, um einen Romantitel von Joachim Meyerhoff zu zitieren? Und bei den Neuerern kommt es erstens anders und zweitens als man denkt. Die alte Datscha ist komplett abgebrannt. Ein neues Haus wird erstmal steril sein, ohne Erinnerungen, ohne Gerüche. Bis es sich füllt. Und das wird garantiert geschehen. Es muss weitergehen, das ist das Wichtigste.
Der Ton in ihrem Roman ist besonders. Sprachlich balanciert Olga zwischen Wut und Witz, Melancholie und Rationalismus. Wie oder wo haben Sie diesen Ton gefunden?
Selbstbeschreibungen sind immer schwer. Aber ich denke, es hat tatsächlich etwas mit meinen odessitischen Wurzeln zu tun. Die multikulturelle Odessa galt immer schon als eine Stadt mit viel Humor und ich denke, das hat sie eben diesen Kulturen zu verdanken, die alle miteinander auskommen mussten. Vielleicht gelingt das Zusammenleben am besten, wenn man alles nicht allzu ernst nimmt und in erster Linie sich selbst. Aber bekanntlich liegen Witz und eine gewisse Traurigkeit, ja Melancholie nah beieinander.
Ihr Roman endet mit dem Satz »Und endlich setzt Regen ein« und ich musste an die reinigende Kraft denken, die man Gewittern nachsagt. Ein Hoffnungsstrahl am Horizont. Nun jährt sich der Ausbruch des Krieges zum ersten Mal. Ist das etwas, dass Sie sich wagen? Hoffnung zu haben, wenn Sie an die Ukraine und an Odessa denken?
Hoffnung tut der Seele gut, vor allem in beunruhigenden Zeiten. Vor einem Jahr war ich zuerst in eine Schockstarre versetzt: Passiert es tatsächlich oder habe ich all das nur geträumt? Irgendwann setzte auch die Angst ein. Angst um die Menschen, Angst, wie und ob es überhaupt weitergeht, Angst um die Zukunft. So lebte ich eine Weile zwischen meinen Ängsten und Resignation, bis ich merkte, dass es so nicht weitergehen kann. Keine Ahnung, vielleicht war ich da an meinem persönlichen Tiefpunkt angelangt, aber schließlich sagte ich mir, so wird es nicht immer weitergehen, irgendwann ist Schluss. Und das war der Moment meiner persönlichen Hoffnung.