Eigentlich wollte der sardische Comiczeichner Igort gerade mit seinem vierten Japan-Album »Kokoro« für Furore sorgen. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg, den Wladimir Putin in der Ukraine führt, rückt zwei ältere Alben von ihm aber in den Vordergrund.
Ob ich mich an die »Berichte aus der Ukraine« und an »Berichte aus Russland« erinnern könne, fragte mich der Presse-Vertreter des renommierten Comicverlags Reprodukt letztens am Telefon. Klar, konnte ich, sie lagen sogar schon beide auf meinem Stapel der jetzt noch einmal zu lesenden Bücher. Ich hätte sogar Interesse an einem Gespräch mit ihm zu aktuellen Situation, antwortete ich. Igort habe keine Zeit, denn er arbeite gerade im Live-Modus an einem neuen »Bericht aus der Ukraine«, so der Verlagssprecher. Darin würde er den Versuch machen, im Echtzeitmodus die Ereignisse in dem angegriffenen Land, das viele jetzt als Herz Europas bezeichnen, zu verarbeiten.
Umso schneller greife ich zu den beiden Alben, erschienen 2010 und 2012. Anlass waren Reisen und Begegnungen, die der Zeichner in der Ukraine, in Russland und in Sibirien geführt hat. »Ich wollte beobachten, wollte verstehen. Was war die Sowjetunion gewesen? Wie hatte man diese 70 Jahre erlebt?«, beschreibt er selbst die Motive seiner Recherchen in dem Russland-Album. Sie sind Ausgangs- und Bezugspunkt der Geschichten, die er in beiden Alben erzählt.
In »Berichte aus der Ukraine« geht es vor allem um die im Untertitel erwähnten »Erinnerungen an die UDSSR« von Nikolai Wassiljewitsch, Maria Iwanowa, Nikolai Iwanowitsch und Serafima Andrejewna, denen er in der Ukraine begegnet ist. Ihre Rückblicke gehen bis in die 1920er Jahre zurück, als Stalin in der Sowjetunion zunehmend die Führung übernahm. Es sind schreckliche Erinnerungen, die von der Hungersnot infolge von Stalins Planwirtschaft, von der Jagd auf die ländliche Bevölkerung, die als Kulaken zum Klassenfeind stilisiert wurden, von Massenmorden, Kannibalismus, Terror, Tod und Verzweiflung handeln.
Dabei verstört nicht das Grauen von Stalins Schergen, das kennt man schon, sondern die Bezeugungen des alltäglichen Verlusts der Menschlichkeit, sei es durch nachbarschaftliche Grausamkeiten, durch den Terror der Angst oder den Hunger. Etwa wenn Serafima Andrejewna gesteht, dass unter den Toten in ihrem Dorf auch viele Kinder waren, mit denen sie vor Tagen noch gespielt hat. »Wenn das geschah, wussten alle Bescheid. Es gab keine Beerdigungen, nichts dergleichen. Man verschloss das Haus und kurz darauf sah man Rauch aus dem Kamin kommen.«
Der Holodomor, das Aushungern der ukrainischen Bevölkerung durch Stalin, das Timothy Snyder als Mittel der sowjetischen Machtpolitik beschreibt, prägt alle Erzählungen. Das Trauma des stalinistischen Terrors ist noch allgegenwärtig, zumal er in Russland selbst gar nicht anerkannt wird. Wenn jetzt die Ukraine um ihre Selbstständigkeit kämpft, geht es auch um die kollektive Geschichte, die diese Völkermord-Ereignisse auch als solche benennt und erinnert.
Die Menschen, denen Igort in der Ukraine begegnet ist, erinnern sich an ihre Zeit im Gulag, an Gewalt, Missbrauch, Hunger und Krankheit. Sie blicken alle zurück auf gebrochene Biografien, in denen die Gewalterfahrung ihr Leben geprägt, Familien zerstört und Lebenswege beendet hat. Wer verstehen will, warum es sich trotz gemeinsamer sowjetischer Jahre bei der Ukraine und Russland um zwei unterschiedliche Gesellschaften handelt, bei der eine immer wieder zum Opfer der anderen geworden ist, der findet in Igorts Ukraine-Album antworten.
»Der ukrainische Homo Sovieticus ist ein verlorenes Wesen ohne Bestimmung« notiert Igort irgendwann 2010, nicht ahnend, dass ein Dutzend Jahre später der russische Despot Putin über das Land herfallen wird. Und weil er dort nicht so vorankommt, wie er das gerne möchte, überzieht Putin das Land in einer Weise mit Bomben, die manche an die tschetschenische Hauptstadt Grosny denken lassen.
»Der vergessene Krieg im Kaukasus« steht im Mittelpunkt von Igorts Russland-Album, das er nach dem Auftragsmord an der Investigativ-Journalistin Anna Politkowskaja gezeichnet hat. Auf Basis ihrer Berichte aus Tschetschenien sowie den Erinnerungen von Wegbegleiter:innen führt Igort darin noch einmal den brutalen Krieg vor Augen, den das russische Militär in Tschetschenien geführt hat. Das lohnt sich nicht nur mit Blick darauf, was in der Ukraine im schlimmsten Fall noch droht, sondern vor allem hinsichtlich des strategischen und kommunikativen Vorgehens der russischen Führung, dem Einsatz von Fake News, Lügen, Propaganda und der medialen Kreation eines Feindes, vor dessen Terror die russische Bevölkerung geschützt werden müsse.
Die Parallelen sind verblüffend. Wurde damals ganz Tschetschenien zu einem Hort von »Terroristen« gemacht, sind es heute angebliche Neonazis, die die Ukraine in ihrem Griff hätten. Anhand der Berichte Überlebender, die Politkowskaja gesammelt hatte, zeichnet Igort das (para)militärische Terrorregime nach, das Russland in Tschetschenien eingeführt hat. Es sind Reportagen, die unter die Haut gehen, die in der Beschreibung der unmenschlichen Grausamkeiten, die russische Soldaten dort verübt haben, weit über das Maß des Vorstellbaren hinausgehen.
Politkowskaja interessierte sich aber auch für das Elend der russischen Soldaten, die damals wie heute ahnungslos in einen schrecklichen Krieg geschickt und dort von ihren Führungsoffizieren gezwungen wurden, Gefangene und Zivilbevölkerung auf jede erdenkliche Art und Weise zu terrorisieren, zu foltern und zu ermorden. Arkadi Babtschenko war einer dieser Soldaten. Er hatte seine traumatischen Erlebnisse literarisch verarbeitet. »Alle ballern blindlings drauflos, ohne Sinn und Verstand, nur mit dem einen Gedanken – dieses Schwein im Blei zu ersticken, es umbringen, ihm das Maul stopfen. Ihn töten, bevor er mich tötet, das Aas«, schrieb er in seinem Roman »Ein guter Tag zum Sterben«. Als »Tschetschenien-Syndrom« wurde die Sucht nach der täglichen Grausamkeit, die viele Soldaten in einen Blutrausch trieb, sogar pathologisiert.
Igort erzählt all diese Geschichten mit dem notwendigen Abstand. Im Gegensatz zu Joe Sacco, der den Krieg im Kaukasus ebenfalls als Comicreporter, allerdings aus erster Hand, dokumentiert hat, lässt er seine Alben für sich sprechen und ihre Wirkung entfalten. Seine Zeichnungen sind dort, wo es möglich ist, detailliert, wo Erinnerungen verwischen oder lieber nicht zu sehr ins Detail gehen wollen, wird aber auch sein Strich grob und suchend. Seine Berichte sind gezeichnete Geschichten, die surreal in gezeichnete Albträume hinabgleiten können. Und wo es passt, finden sich Anspielungen an den russischen Expressionismus oder an Klassiker wie Pablo Picassos Guernica.
»Mütterchen Russland schenkt denen, die sich für die Menschenrechte einsetzen und sich nicht mit vorgefertigten Wahrheiten zufriedengeben, eine bleierne Zukunft«, schrieb Igort schon 2012 mit Blick auf Putins Russland. Von der traumatischen Vergangenheit des russischen Hegemonialanspruchs und der Gegenwart der Putin’schen Demokratur handeln diese beiden Alben, die durch den Ukraine-Krieg eine traurige Gegenwart erhalten haben.
Igorts aktuelles Album handelt von Japan und dessen Kultur
Wie in seinen drei »Berichten aus Japan« taucht Igort hier in die japanische Kulturgeschichte ein, spürt sozialen Phänomen nach und blickt auf Begegnungen mit Vertretern der japanischen Kultur, darunter auch Leitsterne für seine eigene Laufbahn.
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[…] Eines der Kinder, dem Walja Surwilo ihre Lebensgeschichte beim Pilzesammeln im Wald erzählt, ist die Comiczeichnerin Olga Lawrentjewa. Die hat auf Basis der Erzählungen ihrer Großmutter Jahre später den eindrucksvollen Comic »Surwilo. Eine russische Familiengeschichte« gezeichnet, der von Stalins Terror, den Grauen des Zweiten Weltkriegs und dem langen Schatten eines Lebens unter Verdacht erzählt. Man liest diesen Comic natürlich im Kontext der aktuellen Ereignisse und ähnlicher Erscheinungen, wie den Berichten aus dem Osten von Igort. […]
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