Sachbuch

Der Anfang vom Ende der Demokratie

Das »Russische Tagebuch« von Anna Politkovskaja zeigt den gleitenden Niedergang der russischen Verhältnisse auf und belegt, wie ein machtsüchtiger Herrscher im Kreml mit Schauprozessen, Repression und staatlicher Gewalt ein ganzes Land in seine eiserne Faust genommen hat.

Am 7. Oktober jährt sich erstmals Anna Politkovskajas Todestag. Die russische Regierungskritikerin und Journalistin wurde vor ihrem Haus von unbekannten Personen erschossen. Während die westliche Welt eine schnelle und rücksichtslose Aufklärung des an der als „demokratisches Gewissen Russlands“ renommierten Journalistin verübten Mordes forderte, zuckte die russische Regierung mit den Schultern und lässt derweil die Staatsanwaltschaft weiter vor sich hin ermitteln, um zumindest den Anschein zu wahren, dass sie an einer Aufklärung interessiert ist. Die Ermittler lassen inzwischen verlauten, dass derzeit zehn (!) Personen inhaftiert sind und eine Anklage kurz bevorstünde. Ob es sich bei den Inhaftierten um Bauernopfer handelt oder ob einem glaubhaft der Mord an der Journalistin nachgewiesen werden kann, bleibt abzuwarten

Im Ausland reagierten zumindest einige Verlage, die Politkovskajas persönliche Aufzeichnungen zum politischen Geschehen der letzten Jahre in Russland nun veröffentlichten. In Deutschland tat dies der Dumont-Verlag in Köln, der bereits die beiden Bücher »«Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg« und »In Putins Russland« von Anna Politkovskaja publizierte. Die unter dem Titel »Russisches Tagebuch« herausgegebenen Manuskripte umfassen die Zeit vom Dezember 2003 bis zum August 2005.

Drei Themen ziehen sich durch die Aufzeichnungen der kritischen Journalistin: Zum einen ist es das aggressive Vorgehen gegen Bürgerrechtler, Journalisten und die politische Opposition durch das Putin-Regime. Des Weiteren kommt sie immer wieder auf die Ereignisse in Tschetschenien und damit verbunden auf die Sprengstoffanschläge auf russische Wohnhäuser, die Geiselnahme in Moskaus Musicaltheater »Nord-Ost« sowie auf die Geiselnahme in Beslan zurück. Das dritte prägende Thema sind die alltäglichen Ungerechtigkeiten und der politisch-moralische Verfall, welche dem Land ihren Stempel aufdrücken. Dabei sammelt sie die persönlichen Schicksale der Menschen ein, die in Russland keine Stimme, keinen Fürsprecher besitzen. Es sei eine edle und erhebende Aufgabe, über solche Menschen zu schreiben, so Politkovskaja in ihrem Tagebuch.

Bereits die Präsidentschaftswahlen im Dezember 2003 erlebt die Journalistin als Farce. Was sich dort als demokratisch gebiert, ist lediglich Schein, keinesfalls Sein, vermittelt die Autorin deutlich. Pseudo-Institutionen stellen die Kulisse für ein demokratisches Schauspiel, dessen Hauptakteure autoritär grinsen. Russland sei ein »riesiges Potemkin’sches Dorf«. Putin führe sich in diesem Dorf auf wie ein Statthalter, »für den es keine Regeln gibt«, so die Journalistin. Die Folgen dieser Aufführung zeigen sich schließlich in den mehr als absurden politischen Beschlüssen, die das Parlament in der Folge treffen und Politkovskaja dokumentieren wird. Diese betreffen nicht selten die politischen Freiheiten und damit die Opposition.

Die Verfolgung von Regime-Gegnern zieht sich wie ein roter Faden durch das Ereignisprotokoll der Journalistin. Als Gegner erweist sich dabei jede Person, die in irgendeiner Art und Weise und in irgendeinem Zusammenhang ihre Stimme gegen die politische Linie der Regierung erhebt. Darunter fallen Personen, die gegen den Tschetschenienkrieg demonstrieren, ebenso wie die Aktivisten oppositioneller Jugendorganisationen, Bürgerrechtler oder die Witwen von Beslan.

Jede Form von Protest im heutigen Russland ist gleichbedeutend mit einem Angriff auf den Präsidenten. Unerschrocken und kritisch begleitet Politkovskaja die Schikanierung der Aktivitäten der Komitees der Soldatenmütter, die sich für die Wahrnehmung der staatlichen Verantwortung gegenüber seinen Bürgern engagieren. Sie berichtet von dem politischen Schauprozess gegen 39 junge Nationalbolschewisten, die ein Büro im Gebäude der Präsidialverwaltung besetzt hatten und von der vergeblichen Suche der »Mütter von Beslan« nach den Verantwortlichen für die Katastrophe in der nordossetischen Stadt.

Anna Politkovskaja: Russisches Tagebuch. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Alfred Frank. DuMont Verlag 2007, 458 Seiten, 24,90 Euro.

Weiter hält die Journalistin in ihren Notizen den zunehmenden Rassismus in der russischen Gesellschaft fest. Immer wieder finden sich Berichte zu Anschlägen und Überfällen auf fremd oder anders aussehende Menschen, auf Oppositionelle, Bürgerrechtler und Antifaschisten. Als besonders schrecklich bleibt dem Leser der Mord an der neunjährigen Churscheda Sultanowa in St. Petersburg in Erinnerung, die vor den Augen ihres tadschikischen Vaters von Skinheads erstochen wurde. Konsequenzen haben solche Ereignisse kaum, »weil die Rechtsstrukturen selbst mit dem Bazillus des Rassismus infiziert sind«, so Politkovskaja.

Die Berichte aus den Gebieten im Kaukasus zeugen vom dortigen Sieg der Macht und Gewalt über Moral und Anstand. Dabei erspart die Journalistin weder sich selbst noch dem Leser die grauenvollen Details, die das tägliche Leben in den abtrünnigen Gebieten prägen. Ob Tschetschenien, Ossetien, Dagestan oder Inguschetien – die Berichte ähneln sich zugleich auf verblüffende und erschreckende Art. Nur die Namen ändern sich. Nahezu undurchdringlich präsentiert sich dabei das Gewirr bewaffneter Gruppen, die den Alltag der dort lebenden Menschen terrorisieren. Oft sind es die Truppen der Moskautreuen Provinzfürsten, manchmal mafiöse Familienclans oder auch Rebellen, die diese Menschen in einen Zustand der ständigen Angst und Bedrückung versetzen. Jeder Abschied kann in diesen Gebieten der Letzte sein, denn täglich werden Menschen verschleppt oder erschossen, ohne dass man die Gründe dafür je erfahren wird. Nicht selten werden Betroffene Tage nach dem Verschwinden von Familienangehörigen aufgefordert, deren Leichen im nächstgelegenen Leichenschauhaus abzuholen, ohne dass sie nähere Informationen erhalten.

Politkovskaja dokumentiert auch den inneren Verfall der russischen Armee. Beispielhaft legt sie den rücksichts- und respektlosen Umgang der Armee- und Staatsführung mit den eigenen Soldaten offen. Fassungsloses Kopfschütteln rufen die Berichte der Journalistin beim Leser hervor, in denen er erfährt, dass ganze Einheiten im zweiten Tschetschenienkrieg als Kanonenfutter wüster militärischer Operationen mehr als einmal bewusst geopfert wurden. Erschreckend auch die Berichte Politkovskajas zum Umgang mit den Rekruten für die russische Armee, die von Missachtung der Gesundheit der Soldaten bis hin zu Folter und Totschlag reichen.

Besonders erschütternd der Eintrag vom 12. April 2004, der die Grausamkeit innerhalb der russischen Armee dokumentiert. Sie berichtet von einem im staatlichen Fernsehen ausgestrahlten Video, welches die Kapitulation von tschetschenischen Rebellen festhält: »Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag sind an einem Hügel postiert. Unten sieht man den Bahndamm mit dem Güterzug. Die Soldaten zielen auf die Rebellen, die aus den Lastwagen gestoßen werden oder selbst herunterspringen. […] Die Männer und Jugendlichen (eine Einstellung zeigt das Gesicht eines etwa 15- bis 16-jährigen Jungen) sind in sehr schlechtem Gesundheitszustand, einige müssen von ihren Kameraden getragen werden. Fast alle weisen Verstümmelungen auf, haben Gliedmaßen verloren, bluten stark. […] Die Begleitposten schlagen die Männer, aber nicht gezielt, sondern eher gleichgültig, gleichsam aus Gewohnheit. Ärzte sind nicht zu sehen. Die kräftigsten Rebellen müssen die während des Transports Gestorbenen aus den Lastwagen zerren und beiseitetragen. Am Schluss sieht man zwei Berge von Leichen neben den Gleisen.« Eine gesellschaftliche Reaktion auf diesen Beitrag blieb aus.

Politkovskaja scheut sich nicht, auch das russische Volk und die Gegner des Putin-Regimes anzuklagen, auch wenn sie selbst Opfer der Putin’schen Repressionen sind. Die wenigen Versuche, die sie unternähmen, um das Handeln der Regierung und ihrer Provinzfürsten in Frage stellen, seien zu schwach und zu verzagt. Jeder sei sich selbst der Nächste, so der Vorwurf, den sie der russischen Gesellschaft macht. Mehrmals taucht in ihren Notizen die Formulierung »Und das Volk. Schweigt.« auf. Auch die Opposition bleibt von Kritik nicht verschont, da sich die einzelnen Parteien und Verbände auf kein gemeinsames Vorgehen einigen können. Dabei vergisst sie nicht, ihre eigene Zunft zu tadeln: »Denn keinem Journalisten ist es verwehrt, für mehr oder weniger freie Internetpublikationen zu schreiben oder für diese oder jene Zeitung, die sich noch eine relative Meinungsfreiheit bewahrt hat. Doch da wo Freiheit ist, da sind niedrige und unregelmäßig gezahlte Gehälter.« Dass bei einer Demonstration für Meinungsfreiheit und gegen Zensur im Mai 2005 schließlich nur zwei Journalisten anwesend waren, sei nur mehr als bezeichnend.

Anna Politkovskaja dokumentiert in ihrem Tagebuch die Absurditäten und Abscheulichkeiten der russischen Politik. Sie legt die Vetternwirtschaft und Satellitendiplomatie der Moskauer Führung mit den russischen Provinzfürsten offen, die im Auftrag der Regierung die mehr oder weniger abtrünnigen Teilrepubliken in Angst und Schrecken versetzen. Sie deckt die von der Regierung verursachte Perspektivlosigkeit einer Bevölkerung auf, die bemüht ist, zwischen Einschüchterung und Angst zu überleben. Ihre Aufzeichnungen sind ein bewegendes Dokument, welches die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des heutigen Russlands offenbart.

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