Comic

Ein grauer Schleier

Die russische Künstlerin Olga Lawrentjewa hat einen eindrucksvollen Comic über die Verbrechen von Josef Stalin am eigenen Volk, die Belagerung von Leningrad und den langen Schatten des stalinistischen Terrors gezeichnet. »Surwilo« ist die Geschichte einer Überlebenden, ein Psychogramm Russlands und eine Liebeserklärung der Zeichnerin an die eigene Großmutter.

Bis Ende 1937 hatte Walja Surwilo eine ganz normale Kindheit. Wenn Sie nicht mit ihren Eltern und ihrer Schwester Ljalja in Leningrad ist, besucht sie ihre Großmutter auf dem Land. Bis eines Novemberabends nicht der Vater, sondern ihre Cousins vor der Tür stehen, um der Mutter mitzuteilen, dass ihr Mann Wikenti Kasimirowitsch von der Geheimpolizei verhaftet worden sei. Dem Vorarbeiter in einer Petersburger Schiffswerft werden Spionage und Sabotage zur Last gelegt, ein Vorwurf, der unter Stalin als Platzhalter diente, um vermeintliche politische Feinde in so genannten Säuberungen zu beseitigen.

»Politische Repressionen, Massenverhaftungen – davon erfuhren wir nichts. Wir glaubten: Unser Fall ist ein Einzelfall. Ein Irrtum«, erinnert sich Walja Jahrzehnte später, als sie ihren Enkeln davon erzählt. Ihre Mutter Polja ließ Walja damals einen Brief an Stalin schreiben, in dem die Familie um Klärung des Sachverhalts bat. Erst einen, dann zwei, irgendwann waren es Dutzende. Eine Antwort haben sie nie erhalten. Erst in den Fünfzigern, als Walja die letzte Überlebende der Familie ist, erfährt sie Einzelheiten vom Verbleib ihres Vaters.

Olga Lawrentjewa: Surwilo. Eine russische Familiengeschichte. Übersetzt aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. avant verlag 2022. 312 Seiten. 28,00 Euro. Hier bestellen

Eines der Kinder, dem Walja Surwilo ihre Lebensgeschichte beim Pilzesammeln im Wald erzählt, ist die Comiczeichnerin Olga Lawrentjewa. Die hat auf Basis der Erzählungen ihrer Großmutter Jahre später den eindrucksvollen Comic »Surwilo. Eine russische Familiengeschichte« gezeichnet, der von Stalins Terror, den Grauen des Zweiten Weltkriegs und dem langen Schatten eines Lebens unter Verdacht erzählt. Man liest diesen Comic natürlich im Kontext der aktuellen Ereignisse und ähnlicher Erscheinungen, wie den Berichten aus dem Osten von Igort.

Der Name der Familie stammt aus Polen. Dort lebte Wincenty Surwilo in einem Dorf namens Surwily, bevor er nach St. Petersburg ging. Dort wurde aus Wincenty ein Wikenti, der Name seiner Herkunft wurde angehangen. Wochen nach seinem Verschwinden im Herbst 1937 wird die Familie, die jetzt nur noch aus Frauen besteht, in die nordöstliche Pampa verbannt. Dort beziehen sie einen zugigen Verhau in einem winzigen Dorf, in dem, wie sich herausstellen wird, ausschließlich als Volksfeinde abgestempelte Familien befinden. Hier müssen sie sich über Wasser halten, was alles andere als leicht ist, denn Volksfeinde haben weder ein Recht auf Bildung noch auf einen normalen Arbeitsplatz. So erleben die Mutter und ihre beiden Töchter eine Zeit der Entbehrungen, erleben die Hungerwellen unter Stalins Herrschaft am eigenen Leib.

Walja setzt sich in der Schule für die Partei ein, in den Komsomol aufgenommen wird sie als Tochter eines Volksfeindes dennoch nicht. Später, als es darum geht, eine Arbeitsstelle zu bekommen, erlebt sie wieder und wieder, dass sich aufgrund der Verhaftung des Vaters bestimmte Türen schließen. »Überall der Fragebogen: Wer sind die Eltern, woher und wo. Sobald sie von Vater erfahren… Danke, Wiedersehen. Jedesmal dasselbe – Wort für Wort«, erinnert sich Walja später. Tricksen will sie nicht. »Ich muss die Wahrheit schreiben«, wird sie ihrer Freundin Tossja sagen.

Als der Krieg ausbricht, hat auch das Hungern keine Grenzen mehr. Stalins Kollektivierungskampagnen führen in der Ukraine zum millionenfachen Hungertod, der Holodomor prägt die Ukrainer:innen in ihrer kollektiven Erfahrung russischen Terrors bis heute. Gehungert wurde aber auch in Russland, im Osten in den Straflagern ebenso wie in den großen Städten. In Leningrad erleben Walja und Ljalja den Krieg und die Belagerung. Das Ende der Versorgung mit Wasser, Strom und Wärme, der andauernde Beschuss und Kriegszustand, von dem Walja berichtet – all das erinnert erschreckend an die Situation in Mariupol, wo die ukrainische Bevölkerung im Kessel des russischen Militärs auf Gedeih und Verderb dem Terror Putins ausgeliefert ist.

»An Bomben gewöhnt man sich schnell. Kälte kann man ertragen, Dreck, Erschöpfung… Aber der Hunger ist das Schlimmste. Die Gedanken wurden ganz schlicht. Immer dasselbe. Immer dasselbe. Brot. Brot. Brot. Brot.«, erinnert sich Walja. Lawrentjewa bringt dieses Kreisen der Gedanken eindrucksvoll zu Papier, als es darum geht, den Verlust der Lebensmittelkarten ihrer Großmutter zu beschreiben. Da sieht man ihre Großmutter als junge Frau verzweifelt inmitten ihrer kreisenden Gedanken. An andere Stelle setzt die 36-jährige russische Zeichnerin den Alltag im Krieg, die Gleichzeitigkeit von Bombenalarm, Kälte und Hunger, auf einer Doppelseite rhythmisch ins Bild und ins Verhältnis.

Nachdem ihre Mutter zu Beginn des Krieges in der Verbannung am Kummer um den verschwundenen Mann gestorben ist, verliert Walja im Laufe des Krieges erst ihre Kollegin Jelena und dann ihre Schwester Ljalja. Mit ihnen geht auch die letzte Illusion verloren. Und auch hier findet die Zeichnerin eine eindrucksvolle grafische Sprache, um diese Desillusioniertheit in dunklen Tuschestrichen aufs Papier zu bringen. Menschen sind da nur schlichte Worte, Worte nicht mehr als abgebrochene Halbsätze, der Rest sind schwarze Schatten in Kreuzstrukturen. Ein symbolisches Massengrab aus Zeichen und Strichen. Eine Seite später verwischt der Krieg zu einem grauen Schleier, der sich spätestens zu diesem Zeitpunkt über alles Leben und Erleben legt.

Der Tod ist im Krieg ein treuer Begleiter, Walja wird als Pflegerin in einem Krankenhaus Zeugin des massenhaften Sterbens. Die Soldaten sterben an Hunger, ihren Verletzungen oder Seuchen, ihre Leichen werden einfach nur in einem Schuppen gestapelt. Die Winterkälte verhindert schlimmeres. Bevor der Frühling kommt, muss Walja die Leichen auf einen LKW laden, damit sie zu einem Massengrab gebracht werden können. Im Anblick der Leichen bricht ihre abgestumpfte Seele, werden ihr ihre eigenen Verluste bewusst: »Mama, Papa, Ljalja! Wo seid ihr?«

Als Leningrad befreit wird, erhalten alle um sie herum den Orden »Für die Verteidigung des Vaterlandes«. Nur sie nicht, sie kann sich denken warum. Den langen Schatten von Stalins Terror kann nicht einmal der Sieg über die deutsche Wehrmacht vertreiben. Erst viel später, als sie in Leningrad als Buchhalterin arbeitet und allen Widerständen zum Trotz ihren Tolja geheiratet hat, wird herauskommen, dass sie den Orden nur wegen eines Behördenfehlers nicht bekommen hat.

Olga Lawrentjewa hat die Geschichte ihrer Großmutter in kräftigen schwarzen Strichen gezeichnet. Es geht ihr dabei nicht um Details, sondern um das Festhalten der erratischen und bröckelnden Erinnerung. »Auch die Erinnerung bewaldet sich«, heißt es später. »Alles gerät durcheinander. Details gehen verloren.« An die Stelle dieser Details treten Imaginationen, die in den Zeichnungen der Russin konkret werden.

Es geht der Russin nicht darum, Geschichte in Bildern nachzuerzählen, dafür ist das, was sie zu erzählen hat, zu bekannt. Stalins Terror kennen wir von Orlando Figes Studie »Die Flüsterer«, aus Warlam Schalamows Gulag-Prosa, das Leben unter Belagerung aus Wassili Grossmans Großroman »Stalingrad«, die Folgen der Kollektivierungen von Timothy Snyder. Lawrentjewa will aber zeigen, wie das Er- und Durchleben dieser Geschichte mit dem Individuum macht. Dabei machen sich die Erinnerungen der Großmutter an Gegenständen, Worten und Gesten fest. Von diesen ausgehend erzählt sie die Geschichte ihrer Vorfahren in großen Bögen. Dabei taucht sie immer wieder in einzelne Momente ab, wo sich Gedanken festhaken am Erlebten und Geschichte exemplarisch ausgebreitet wird.

Die zeichnende Enkelin kommentiert und erklärt hier nichts, ordnet auch nicht historisch ein. Das macht die Großmutter im Gespräch mit ihren Enkeln schon selbst. So überlässt Lawrentjewa dem Erinnerungsstrom ihrer Ahnin die tragende Rolle. In Nebensätzen und Randbemerkungen der Erzählerin erfährt man, was für eine starke Frau sie war. »Ein Stalin-Porträt? Hatten wir keins. Niemals.«

In diesem Satz klingt an, was die Großmutter erst nach Öffnung der Archive unter Gorbatschow herausfinden wird. Dass der Vater Opfer der willkürlichen Säuberungspolitik Stalins wurde. Opfer einer Politik, die den Homo Sovieticus zu einem Knecht staatlicher Ideologie gemacht hat, deren Folgen man heute unter Putin immer noch spürt. Die Obrigkeitshörigkeit der meisten Russen steht in der Tradition der erbarmungslosen harten Hand von Mütterchen Russland, die neben den Russen selbst auch Georgier, Tschetschenen und Ukrainer zu spüren bekommen haben. In dieser gelungenen kritischen Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und seinem langen Erbe hat dieser 2019 im Original erschienene, ausdrucksstarke Comic seine Berechtigung – auch jetzt, angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine.

Die gemeinsame Pilzsuche mit den Enkeln bildet den Rahmen für die Erzählung, es müssen diese Momente der unbeschwerten Gemeinsamkeit gewesen sein, in denen die Lebensgeschichte der Großmutter Zug um Zug an die Oberfläche kam. Was dabei wie Widerstand klingt, ist eher Schicksal. Und dieses Schicksal liegt auch wie eine Bürde auf der Seele der alten Frau. Als die Enkel im Wald für einen Moment hinter Bäumen und Schatten verschwinden, bricht bei ihr Panik aus. Hinterher erklärt sie: »Ich habe in Angst gelebt. Sie war immer da. Im mir und um mich – ich war daran gewöhnt.« Diese Angst, jederzeit einen geliebten Menschen ohne Grund zu verlieren, ist sie nie losgeworden.

Am Ende führt der Comic die Enkel von Walja nach Surwily, ins Heimatdorf ihres Urgroßvaters, in dem von Wincenty Surwilo und seiner Familie nicht mehr als ein Raunen im Wind geblieben ist. Dieser große Erinnerungscomic von Olga Lawrentjewa setzt der tragischen Geschichte ihrer Großmutter ein eindrucksvolles Denkmal. Und er zeigt, dass die ideologischen Fiktionen der russischen Ideologie jede Menschlichkeit vermissen lassen und das Schicksal des Einzelnen bestenfalls in der Hand des Zufalls liegt.