Die kanadische Comiczeichnerin Julie Doucet ist so etwas wie die freche weibliche Antwort auf Robert Crumb. Auf Europas größtem Comicevent, dem Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême, wurde Doucet jetzt für ihr »radikal feministisches« Werk, »das keinerlei Rücksicht auf Konventionen nimmt«, mit dem wichtigsten Preis der europäischen Comicwelt ausgezeichnet.
»Wisst ihr, Plotte ist ein sehr schmutziges Wort«, erfährt man gleich zu Beginn von Julie Doucets erfolgreichster Serie, um anschließend Zeuge zu werden, wie die Kultur, die dieses Bild hervorgebracht und Frauen in eine Ecke gestellt hat, auseinandergenommen wird. Doucets Serie ist eine satirische Replik auf die Kultur, in der das weibliche Geschlecht mit Scham und Schmutz assoziiert wird. Erteilt wird sie von einer selbstbewussten Punkerin, die sich, ihren Körper, ihre Psyche, ihr Frau-Sein mit all seinen Eigenschaft selbstbewusst präsentiert.
Mit ihrer Serie »Dirty Plotte«, die zuerst bei bei Drawn & Quarterly und – als einer der ersten Comics des Verlags – in den neunziger Jahren bei Reprodukt erschienen ist, betrat die Kanadierin in vielerlei Hinsicht neues Terrain und dokumentierte mit ihrem Alter Ego ihren Alltag als Frau. Die Reihe ist Traumtagebuch, Beschimpfung und Vision zugleich. In schrillen Episoden greift Doucet hier Erlebnisse auf, die Sexismus ebenso thematisieren wie sexuelle Selbstbestimmung, Diskriminierung herausgreifen und mit Selbstermächtigung antworten, die das Frau-Sein feiern, aber auch schonungslos offenlegen. Dabei macht sie auch vor Regelschmerzen, starken Blutungen und Brustkrebs-Ängsten, vor Penisneid, Rasierunfällen und Alterspanik keinen Halt. Und wenn ihr danach ist, dann führt sie augenzwinkernd schon mal vor, was sie alles tun würde, wenn sie ein Mann wäre.
Nun hat Chris Ware, Autor von »Jimmy Corrigan« und Jurypräsident der diesjährigen Ausgabe des Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême, bekannt gegeben, dass die 56-jährige Kanadierin mit dem Großen Preis von Angoulême ausgezeichnet wird. Mit Julie Doucet sei »eine kompromisslose, radikale und subversive Autorin ausgewählt« worden, die als Pionierin des autobiografischen Comics bezeichnet werden kann, begründete die Jury. »Sie hat ein eminent persönliches und freies Werk aufgebaut, das keinerlei Rücksicht auf Konventionen nimmt; ein radikal feministisches Werk, das Themen und Motive aufgreift, die selten angesprochen werden, vor allem nicht auf so direkte Weise: den Körper, die Menstruation, sexuelle Fantasien, Genderfragen.«
Doucet folgt damit Chris Ware und dem Japaner Rumiko Takahashi, die vor ihr den Preis erhalten und im Folgejahr die Jury geleitet haben. Der Große Preis von Angoulême wird für das Lebenswerk vergeben. Seit 2014 wird er auf Grundlage einer Shortlist mit drei Vorschlägen vergeben, über die über 1.800 Comicschaffende abstimmen. Neben Julie Doucet standen in diesem Jahr die französischen Comiczeichnerinnen Pénélope Bagieu und Catherine Meurisse auf der Liste, die damit erstmals rein weiblich war.
Durchaus bemerkenswert, sah sich das Festival 2016 doch noch mit einem echten Skandal konfrontiert, nachdem nur Männer auf der Longlist für den Großen Preis standen. Auch Doucet lief damals unter dem Hastag #WomenDoBD Sturm und rief in einem Kollektiv von Comickünstlerinnen gegen Sexismus zum Boykott des Festivals auf.
Doucets Strips sind geprägt von einer dezidiert weiblichen Perspektive, die schrill und laut vorgetragen wird. Kein Wunder, dass sie vielen als Vorreiterin des New Feminism gilt. Einer der ersten Strips der »Dirty Plotte«-Reihe aus dem Jahr 1990 zeigt eine quasi anatomische Zeichnung des weiblichen Geschlechts, mit chinesischen Schriftzeichen sind die einzelnen anatomischen Merkmale beschrieben. Daneben steht Doucets Alter Ego, zeigt auf das Bild und sagt »Das hier ist eine Plotte.«
So beginnt der feministische Bericht einer jungen Frau, die über Jahre mit Pinsel und Tusche festhielt, was sie im Alltag bewegt. Dabei erforscht sie »jene Aspekte des Menschseins, insbesondere des Frauseins, die sich unserer Kontrolle entziehen«, schreibt die Autorin Deb Olin Unferth in ihrer Eloge in dem Jubiläumsband des kanadischen Verlags von Drawn & Quarterly. »Sie hält die Momente fest, in denen wir uns selbst fremd werden: wenn wir einen Orgasmus haben, wenn wir träumen, wenn wir bluten.«
Deshalb finden sich in »Dirty Plotte« auch Szenen, in denen diese Figur verletzlich ist und die Kontrolle verliert. Darin verarbeitet Doucet ihre eigene Epilepsie, die sich als Unterströmung und Bedrohung durch die Comics zieht. In einem Interview sagte sie zu ihren epileptischen Anfällen einmal: »Es ist alles sehr mysteriös. Ich höre einfach auf zu existieren, sei es für Tage, Stunden oder zwei Sekunden – soweit ich weiß!«
Bei Drawn & Quarterly hat Doucet früh ihre verlegerische Heimat gefunden, in den Neunzigern erscheinen dort ihre Arbeiten, zahlreiche Katalogtitel hat sie für D&Q gestaltet. Kurz vor dem dreißigsten Geburtstag der »Dirty Plotte«-Reihe erschien dort eine prächtige Gesamtausgabe (hier ein Auszug zum Download), die neben allen Plotte-Strips auch das »New Yorker Tagebuch«, in dem sie Einblicke in ihr schwieriges Leben an der Seite eines freischaffenden Künstlers und Egozentrikers beschreibt. Der 600-seitige Prachtband war sowohl für einen Eisner- als auch bei den Ignatz-Awards nominiert.
Weil die deutschen »Dirty Plotte«-Ausgaben seit Jahren vergriffen sind, ist im vergangenen Jahr eine Sammlung von »Julie Doucets allerschönsten Comicstrips« bei Reprodukt erschienen. In dieser sind erstmals die auf Deutsch übersetzten Comics aus der »Dirty Plotte«-Reihe sowie die Strips aus den Alben »Wahre Haushaltscomics«, »Schnitte« und »Traumgeburten versammelt. Die »Schnitte«-Comics, die auch in zwei Heften vorliegen, sind während ihres zweijährigen Aufenthalts in Berlin entstanden. Doucet beschreibt darin ihre Zeit an der Kunsthochschule Weißensee, berichtet von ihren Sprachlern-Versuchen und erinnert sich an ihr erstes Mal kurz nach der Highschool.
Die Geschichten der Kanadierin sind offen, witzig und intim. In wilden, nein punkigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen lotet sie mit ihrem Alter-Ego-Figurenkabinett die Tiefen der weiblichen Psyche aus. Die Männer zeigt sie mal als zerbrechliche Wesen, mal als wilde Tiere, die nichts als Sex im Kopf haben. Das ist natürlich alles vollkommen überzeichnet, aber gerade in der Überzeichnung erkennt man den wahren Kern. Ihre Comics sind dicht und selbstbewusst, (selbst)entblößend und voller Energie, provokant, witzig und leicht.
Mit ihren gleichermaßen verspielten wie authentischen Berichten aus dem Alltag einer Frau hat Doucet die Neunte Kunst für ein dezidiert feministisches Publikum geöffnet. So wurde die Kanadierin zur Ikone für viele Zeichner:innen, die in den vergangenen Jahren das Bild der Comics vollständig verändert haben. Künstlerinnen wie Anna Haifisch und Liv Strömquist gehören zu ihren begeisterten Anhänger:innen.
Doucets Werk ist übrigens längst Objekt wissenschaftlicher Studien. 2018 veröffentlichte die Essayistin Anne-Elizabeth Moore die Studie »Sweet Little Cunt: The Graphic Work of Julie Doucet«, in der sie die Kanadierin als Wegbereiterin eines neuen Feminismus in Comics bezeichnet. Für ihren tiefgründigen Essay wurde Moore 2019 mit dem Eisner-Award für die beste wissenschaftliche Arbeit ausgezeichnet.
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