Der französische Comiczeichner Riad Sattouf erhält den Großen Preis von Angoulême. In der Abstimmung unter Comic-Schaffenden setzte er sich beim Jubiläumsfestival gegen seine Landsfrau Catherine Meurisse und die US-amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel durch. In seinem Werk betrachtet er die Welt mit kindlichem Blick und großer Leichtigkeit.
Bei der 50. Ausgabe von Europas wichtigstem Comicfestival im französischen Angoulême erhält ein Franzose den wichtigsten Preis des Festivals. Der Große Preis 2023 geht an Riad Sattouf, Autor der erfolgreichen Kindheitserinnerungen »Der Araber von morgen«, in der er seine Kindheit zwischen Frankreich, Syrien und Libyen verarbeitet. Neben Sattouf waren die US-amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel – von der im Mai das neue Album »Das Geheimnis meiner Superkraft« in der Übersetzung von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler erscheint – sowie die Französin Catherine Meurisse – von der zuletzt die Schauspielerinnen-Komödie »Olympia in Love« erschien – für den Hauptpreis nominiert.
Vor wenigen Wochen ist in Frankreich der sechste und abschließende Band seiner weltweit erfolgreichen Reihe »Der Araber von morgen« erschienen, in dem er große Sprünge macht und die Jahre 1994 bis 2011 aufgreift. In Frankreich hat der Band begeisterte Kritiken erhalten und ist auch eines von 46 Comics, die für das Beste Album des Jahres nominiert sind. Die deutsche Übersetzung von FAZ-Comicexperte Andreas Platthaus ist für den Oktober 2023 angekündigt.
Sattouf ist 1978 in Paris geboren, ist Comic-Autor und Filmemacher. Seine Kindheit verbrachte er zwischen Libyen, Syrien und der Bretagne. Er studierte angewandte Kunst in Nantes und anschließend Animationsfilm in Paris an der Ecole des Gobelins. Wenngleich »Der Araber von Morgen« seine bekannteste Arbeit ist, so hat sich der Franzose mit zahlreichen Arbeiten hervorgetan. Seit Jahren ist er für »Esthers Tagebücher« verantwortlich, einer Reihe jährlicher Aufzeichnungen eines Mädchens aus seinem Umfeld, in der er ihre Erfahrungen aus dem zurückliegenden Jahr pointiert, witzig und sprunghaft reflektiert. In Deutschland erfreut sich die Serie großer Beliebtheit, sie wurde bei der German Comic Con 2017 mit dem Rudolph Dirks Award und im Jahr darauf beim Comicfestival in Erlangen mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet. In Frankreich ist der ehemalige Charlie-Hebdo-Zeichner auch für seine derb-witzige Banlieue-Reihe »Pascal Brutal« bekannt.
In einem Gespräch sagte mir Sattouf einmal, was ihn antreibt: »Ich brauche Humor, ich halte nach ihm Ausschau, versuche ihn zu übertragen, um all die verschiedenen Arten des Lachens hervorzukitzeln, das leise Gickeln, das schallende Gelächter, das angewiderte Lachen, das verlegene Kichern, das rachsüchtige Lachen und so weiter. Ich möchte fast immer auf Humor zurückzugreifen, wenn ich über ernste Dinge spreche, weil das die Gefühle noch einmal verstärkt.«
Riad Sattouf ist in Frankreich auch als Filmemacher bekannt, sein Debüt »Jungs bleiben Jungs« wurde 2010 sogar mit dem französischen Filmpreis César ausgezeichnet. In seinem neuen Comicprojekt »Le jeune Acteur« – herausgegeben in seinem neu gegründeten Verlag Les Impressions de Futur – verarbeitet er seine Erfahrungen und Einblicke als Filmemacher. Der erste Band widmet sich einem der Hauptdarsteller aus seinem Debüt, dem damals vollkommen unbekannten Schauspieler Vincent Lacoste, der heute als einer der aufregendsten Charakterdarsteller seiner Generation gilt.
Sattouf wirkte auch an Joann Sfars Filmprojekten »Petit Vampire« und »Gainsbourg – Vie héroïque« mit. Zuletzt erschien seine in einer fiktiven zentralasiatischen Diktatur spielende Komödie »Jacky im Königreich der Frauen«, in dem Lacoste die Hauptrolle spielt.
Sattouf folgt auf dem Thron in Angoulême der Kanadierin Julie Doucet und dem Amerikaner Chris Ware, die in den Vorjahren den Hauptpreis in Angoulême erhalten haben. In seiner Dankesrede am gestrigen Abend sagte Sattouf, dass er nie davon geträumt habe, einmal den Großen Preis von Angoulême zu erhalten. Das ist durchaus ein Understatement, denn 2010 und 2015 erhielt er für »Pascal Brutal« und »Der Araber von Morgen« bereits den Preis für das Beste Album, dazu kommen mehrere Nominierungen in anderen Jahren. Er ist einer von Frankreichs beliebtesten und erfolgreichsten Comicautor:innen.
Neben viel Zustimmung kam aber auch Kritik unter dem Tweet zur Preisvergabe auf. Hintergrund ist die abgesagte Werkschau von Sattoufs Kollegen Bastian Vives, dem sexuelle Provokation und Grenzüberschreitung in seinen Arbeiten vorgeworfen wurde. Kritiker:innen der Auszeichnung von Sattouf verweisen nun darauf, dass auch dieser in seinen Arbeiten mit Illustrationen arbeitet, die (zum Teil auch sehr junge) Frauenkörper ausstellen.
Fraglich ist, inwiefern die Fantasien seines kindlichen Alter Egos in Sattoufs satirisch überzeichnetem Erinnerungswerk diese Kritik rechtfertigen. An diesem sensiblen Thema stellt sich die Frage nach der Kunstfreiheit und ihren Grenzen. Die professionellen Comiczeichner.innen, die an der Abstimmung für den Großen Preis von Angoulême teilgenommen haben, haben sich für die Kunstfreiheit entschieden. Erledigt wird sich das Thema damit aber nicht haben.