Nachdem die amerikanische Comiczeichnerin Alison Bechdel in »Fun Home« ihre Verbindung zu ihrem Vater verarbeitet hat, fügt sie mit »Wer ist hier die Mutter?« der einmal aufgenommenen Verarbeitung der Familiengeschichte einen zweiten Teil hinzu. An die erzählerische Leichtigkeit des Vorgängers reicht der neue Comic nicht ganz heran, dafür eröffnet die Erzählung den Zugang zu einer tieferen psychologischen Ebene.
Man hätte es schon bei der Lektüre von Fun Home ahnen können, dass die Comiczeichnerin und Autorin Alison Bechdel mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte noch nicht fertig ist. In dem autobiografischen Comic, der 2006 in den USA und zwei Jahre später in Deutschland erschienen ist, erzählte die US-Amerikanerin von ihrer ambivalenten Beziehung zu ihrem Vater. Dieser war auf eine seltsam zurückgenommene Weise stets mehr mit sich selbst als mit seiner Familie beschäftigt gewesen, hatte sich mit Handwerk und Literatur von einem Leben abgelenkt, dass er sich nicht zu führen erlaubte. Als Bechdel mit 19 von zuhause ausgezogen war und ihren Eltern kurz darauf mitgeteilt hatte, dass sie lesbisch leben und lieben möchte, hat sie sich zwei Eltern gegenüber gesehen, die jeder für sich in eine Schreckstarre gefallen sind. Wenige Monate nach ihrem Outing war ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen. 27 Jahre nach dem Unfall veröffentlichte Bechdel ihren unter die Haut gehenden Comic, in dem sie einem Familiengeheimnis auf die Spur und ihrem Vater so nah kommt, wie zu Lebzeiten nicht. Vor allem die enge Zusammenführung von Autobiografie und Literatur – Fun Home ist ein souveräner Tanz mit literarischen Größen wie James Joyce, Marcel Proust und Oscar Wilde – hatte zum großen internationalen Erfolg des Comics (u.a. ein Eisner-Award) beigetragen.
Schon in Fun Home wurde deutlich, dass nicht nur die Beziehung zwischen Alison Bechdel und ihrem Vater in einer seltsamen Art und Weise gleichzeitig warmherzig und unterkühlt war, sondern auch, dass das Verhältnis zur Mutter unter einem besonderen Stern stand – was nicht allein daran lag, dass die Mutter als erste Informationsquelle und engste Vertraute beim Schreiben des Vaterbuches eine wichtige Rolle spielte. Mit dem Comic-Drama Wer ist hier die Mutter? hat ihr Alison Bechdel nun das zweite Buch der Verarbeitung ihrer Familiengeschichte gewidmet. Vielschichtig ergründet Bechdel in sieben Kapiteln die wichtigste und im wahrsten Sinne des Wortes natürlichste Beziehung, die ein Mensch haben kann. Sie reflektiert bezugnehmend auf Gespräche, Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen und die eigenen therapeutischen Sitzungen das Verhältnis zu ihrer Mutter und seine Bedeutung für ihre Liebesbeziehungen.
Der deutsche Titel Wer ist hier die Mutter? verschiebt den Schwerpunkt der Ausgangsfrage der Autorin etwas aus dem Existenziellen hinaus. Im Original lautet der Titel schlicht Bist Du meine Mutter? Während die englische Version zumindest die Möglichkeit einer vollkommenen Abwesenheit einer hinreichend fürsorglichen Mutter ermöglicht, ist dies in der ansonsten souverän von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler ins deutsche übertragenen Fassung (hier ein Interview zur Übersetzungsarbeit) nicht der Fall.
Existenziell ist dieser Comic gleich im doppelten Sinne. Zum Einen musste sich Bechdel mit dem Zeichnen dieser Mutter-Tochter-Geschichte mit ihrem Verhältnis zu einer lebenden Figur auseinandersetzen, von der sie sich ebenso abhängig wie verlassen fühlt. Zu Beginn des Buches gesteht sie sich und den Lesenden gegenüber, dass sie Angst habe, ihre Mutter könnte das Buch »böse« finden. Als sie diese fragt, ob sie das Buch in aller Ehrlichkeit machen dürfe, antwortet ihr die Mutter: »Schreib über mich, wenn du musst, aber verlange nicht, dass ich es gut finde.« Der Versuch, über das Buch zu ihrer Mutter und zu einem geklärten Verhältnis zu finden, barg das existenzielle Risiko (und wohl auch die psychologische Notwendigkeit), die bestehende Beziehung mindestens aufs Spiel zu setzen. So ist dieser Comic gleichermaßen eine Auseinandersetzung und Konfrontation mit der Mutter wie mit dem Selbst. Zum Anderen hat sie mit der Geschichte die biografische Existenz ihrer Mutter in den Händen: »Das Wasser ihres Lebens rinnt durch meine Finger«, schreibt die Autorin ehrfürchtig.
Alison Bechdel inszeniert sich bei der Erkundung ihres Mutter-Verhältnisses nicht als Heldin, sondern als verletzte und verletzbare Frau, die sich einer lebensnotwendigen Konfrontation stellt. Dies unterscheidet die Bechdel von dem Melancholiker Chris Ware, der in seiner Vatergeschichte Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt in eine solche Auseinandersetzung vielmehr gedrängt wird, als dass er sie sucht. Die gezeichneten Alter Egos der beiden großartigen Comiczeichner empfinden einen tief sitzenden Schmerz. Während Chris Ware diesen aber nur vorführen will, versucht Alison Bechdel, ihn zu überwinden.
Wer ist hier die Mutter? ist wie Fun Home geprägt von einer präzisen und einfühlsamen Intellektualität, die sich in beiden Geschichten sowohl an den Elternbiografien als auch an Alison Bechdel selbst festmachen lässt. Im Mutterbuch zeigt sich diese einerseits am Austausch mit der Mutter – einer begeisterten Laienschauspielerin – über die Schriften von Virginia Woolf, Sylvia Plath und Adrienne Rich, andererseits in der auf die eigene Existenz bezogenen Exegese der psychotherapeutischen Aufzeichnungen und Schriften insbesondere von Alice Miller und Donald Winnicott. Beide hatten sich in ihren Arbeiten intensiv mit der Rolle der Mutter für die emotionale Balance und Bindungsfähigkeit ihrer Patienten auseinandergesetzt – für Bechdel die ideale Grundlage, um die eigenen psychotherapeutischen Erfahrungen und Erkenntnisse zu ihrem Mutterverhältnis zu vertiefen und zu interpretieren. Vor allem auf Donald Winnicott kommt sie immer wieder zurück, weshalb sie an einer Stelle gar davon spricht, dass ihr Mutterbuch eigentlich ein Winnicott-Buch sei. Das erklärt, warum sich die Geschichte in ihren psychotherapie-historischen Ausführungen gelegentlich in biografischen Einzelheiten, therapeutischen Details oder erkenntnistheoretischen Zitaten verliert, die den Leser dann etwas zu weit von ihrer Geschichte wegführen.
Das Risiko, sich in dieser Erzählung zu verlieren, mutet Bechdel den Lesenden zu – schließlich ist die eigene Verlorenheit Ausgangspunkt dieser Geschichte. In ihrer Danksagung spricht sie selbst von einem Schlingerkurs, den sie beim Verfassen des Comics hinter sich gebracht habe. Wie auf einem Schlingerkurs verläuft auch die Geschichte. Das Motiv, sich in der Selbstkonfrontation von der eigenen Besessenheit von der Mutter zu befreien, führt die Lesenden nur leidlich durch das nicht chronologisch erzählte Labyrinth, bestehend aus Bechdels unterschiedlichen Beziehungen und Therapien, Erinnerungen und (erzählter) Gegenwart, Fantasie und Wirklichkeit. Einzige Konstante ist dabei die Eröffnung der Kapitel mit einem Traum – eine Metapher für den kapitelweisen Einstieg in die Psyche der Autorin.
Dieses Labyrinth ist erzählerisch und zeichnerisch wiederum so souverän komponiert und konstruiert, dass davon auszugehen ist, dass der sich einstellende Effekt der Verwirrung kalkulierte Absicht der Autorin ist (TJC-Interview über die Absichten von Alison Bechdel). Von dem inneren Chaos und seinen lebenspraktischen Folgen, in dem sich das komplexe Verhältnis zur Mutter spiegelt, kann man – will man keinen gähnend langweiligen Therapiebericht verfassen – augenscheinlich nur chaotisch erzählen. Das Gefühl der Verlorenheit ist dann sowohl Mittel als auch Zweck, denn es schafft Authentizität und führt die Lesenden so nah wie nur möglich an die Erzählerin und ihre Geschichte heran.
Alison Bechdel nimmt sich in Wer ist hier die Mutter? im wahrsten Sinne des Wortes auseinander, um herauszufinden, wer ICH ist und wie viel von diesem ICH zu ihr selbst gehört. Stand in Fun Home noch die Suche nach Identität im Mittelpunkt (aufgrund der zahlreichen Bezüge der beiden Geschichten ist eine Relektüre des Vaterbuchs für das transmediale Verständnis von Bechdels Motiven überaus lohnenswert), geht es hier um Individualität und Subjektivität. Die Erkenntnis, wie sehr das Erlebte und das Wahrgenommene das eigene Sein prägen, die sich die Autorin selbst in jahrzehntelanger schonungsloser Selbstkonfrontation erarbeitet hat, bannt sie hier auf 290 Seiten fulminanter Bildgeschichte. Als Lesende trifft uns dieser Comic mitten ins Herz. Wir durchleben mit der Erzählerin Anerkennungshunger und Liebesbedürftigkeit, Furcht und Hoffnung, Trauer und Freude, Leid und Erleichterung.
»Eigentlich will ich mich selbst heilen, ich will meine eigene Analytikerin sein«, gesteht sich das Alter Ego der Erzählerin in der Mitte der Erzählung ein. Am Ende dieses Comics wissen wir nicht, ob sie das Gefühl hat, sich selbst geheilt zu haben. Aber wir wissen, dass sie als ihre eigene Analytikerin nicht mehr hätte tun können, als diesen Comic – ein Seelen-Strip-Tease im wahrsten Sinne des Mediums – zu zeichnen.
Homepage von Alison Bechdel: http://dykestowatchoutfor.com
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