Von ausgewanderten Geistesgrößen bis zu den wichtigsten Poeten des Landes. Fünf(einhalb) Empfehlungen für Literaturfreunde, die gern mal die Augen schließen und ihr Ohr auf fesselnde Tonspuren legen. Zu entdecken sind dabei nicht nur Wortakrobaten, sondern auch Sprechkünstler, die ferne Welten entstehen lassen.
Die Auswahl
Weiter Schreiben – (W)ortwechseln
Seit 2017 schreiben Autor:innen, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind, Briefe, Erzählungen und Gedichte über ihre alte und neue Heimat, über das Weggehen und das Ankommen. Bei »Weiter Schreiben« denken sie gemeinsam mit deutschen Schriftsteller:innen über ihr Leben und Schreiben nach, entwickeln Texte und Stimmungen. Zum fünfjährigen Jubiläum des Projekts erscheint ein fast zehnstündiges Hörbuch, das beweist, das Literatur ein Überlebensmittel ist. Fast zehn Stunden füllen die interkulturellen und intellektuellen Begegnungen der Autor:innen, die aus dem Alltag reißen, die die Gegenwart einfangen und vielsprachig das Wort feiern. Die bewegen und berühren, aufwühlen und erschüttern, die klüger, aber auch nachdenklicher machen. Die über die Akustik den Geist forttragen, den Blick weiten und das Ohr hin zu einer (kriegerischen) Welt öffnen.
Kurz vor der Release-Party konnte ich mit Annika Reich, der künstlerischen Leiterin des Projekts, über die Bedeutung persönlicher Begegnungen, das Ankommen in der deutschen Literaturlandschaft und die verschiedenen Aspekte des Projekts sprechen. Im Gespräch sagte sie: »Wir sind begeistert von der Art und Weise, auf welchem Niveau viele der Autor:innen rezitieren können. Das ist im arabischen Sprachraum eine ganz eigene Kunst und Tradition. Das ist ein Vergnügen, das wir festhalten wollten. Da tönt etwas durch. Das erleben wir auch bei den Lesungen. Teilweise werden zehn Minuten lang Texte auf Arabisch oder Persisch gelesen. Zwei Drittel der Gäste verstehen kein Wort, aber man sieht, wie sie dieses akustische Erlebnis genießen.«
Vertreibung des Geistes
Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Walter Gropius – das sind nur drei der Geistesgrößen, die Deutschland während der Nazizeit den Rücken kehrten und in Amerika ihr Leben retteten. Ende der 50er Jahre beauftragte Radio Bremen die Journalistin Irmgard Bach, die geflohenen Geistesgrößen in ihrer neuen Heimat aufzusuchen und mit ihnen über ihre Erfahrungen im Exil zu sprechen. Aus ihrer Reihe »Auszug des Geistes« ist nun das spektakuläre Hörbuch »Vertreibung des Geistes« geworden, das in seinem Titel schon deutlich macht, dass die exilierten Gelehrten Opfer einer Politik waren und keinesfalls freiwillig gegangen sind. Den Berichten von insgesamt 37 bekannten und weniger bekannten Geistesgrößen, darunter (meist jüdische) Historiker, Theologen, Philosophen, Architekten, Juristen, Naturwissenschaftler, kann man nun im (restaurierten) Originalton lauschen.
»Äußerst unbehaglich, äußerst unbehaglich« – diese Beschreibung von Adorno trifft für die meisten zu, wenn Sie mit dem Abstand von einigen Jahren auf das Land und die Gesellschaft blicken, die sie hinter sich gelassen haben. Die Schwierigkeiten im Exil, etwa durch die Verfolgung von Kommunist:innen in der McCarthy-Ära, sind oft nur den Zwischentönen zu entnehmen – sicher auch, weil die Existenz als solche im Exil nicht derart infrage stand wie in Hitlerdeutschland. Diese 21-stündige doppelte Zeitreise in die Nachkriegszeit im Exil und von dort weiter zurück in die Nazizeit Deutschlands bietet ein packendes und lehrreiches Panorama der vertriebenen deutschen Geisteswissenschaft.
Lyrikstimmen / Prosastimmen
Wenn es stimmt, dass nur wenige Menschen zu einer Lyriklesung gehen, weil eine Stunde Gedichte hören abschreckend ist, wie Ex-Hanser-Verleger Michael Krüger mutmaßt, dann ist dieses Hörbuch eine Zumutung. Vielleicht ist die zehnstündige Sammlung deutschsprachiger Lyrik, die von Ilse Aichinger bis zu Stefan Zweig reicht und weit über 400 Gedichte – tragend, bebend, wippend, tänzelnd, fliegend, feixend gelesen von den Dichter:innen selbst – tatsächlich nur etwas für jene, die Mut in sich tragen, wenn man denn Offenheit und Neugier als Zeichen des Mutes annehmen will.
Wer sich mit den hier versammelten »Lyrikstimmen« der 122 Sprachkünstler:innen entschlossen auf die Reise über ihre literarischen Wiesen und Felder begibt, den wird schon bald ein anderer Mut packen, der groß, vielleicht sogar hoch ist. Denn in Höhen tragen die Verse von Benn, Beyer und Brecht, von Höllerer, Huch und Huchel, von Kaleko, Kirsch und Köhler, Ostermaier, Sachs und Vesper. Männerlastig ist es, ja, das muss sich diese Sammlung ankreiden lassen, aber sie stellt eine Frage neu, die auch schon Krüger in seinem Begleittext aufwirft. »Warum traut man jeder noch so langweiligen Prosa mehr zu als einem Gedicht, das oft in zehn kurzen Zeilen für eine Sekunde den Himmel aufreißt?« Die Mutigen haben dafür keine Antwort parat, Hasenfüße vielleicht schon.
Denen sei, soviel Großmut muss sein, die Sammlung deutscher »Prosastimmen« empfohlen, mit denen man in große prosaische Texte eintauchen und einen Moment lang schwimmen kann. Für beide Projekte, in denen Originalaufnahmen von Autor:innenlesungen weltweit gesucht wurden, gilt, dass sie unzählige Schätze aus öffentlichen und privaten Archiven gehoben haben. Diese Aufnahmen versammeln längst verstummte oder vergessene Stimmen, lassen kanonische und verdrängte Texte wieder aufleben und bilden mehr als eine Grundlage für etwas, das man kulturelles Gedächtnis nennen könnte.
Eine Annäherung
Paul Celan zählt zu den bedeutendsten Stimmen der europäischen Lyrik, seine »Todesfuge« ist ein Solitär der deutschsprachigen Lyrik, in der der 1920 in Czernowitz geborene Schriftsteller den Holocaust verarbeitet hat. Die Germanistin Barbara Wiedemann, eine Celan-Koryphäe, hat gemeinsam mit dem Schauspieler Jens Harzer eine Auswahl an Gedichten zusammengestellt, die unter sieben thematischen Gesichtspunkten verschiedene Aspekte von Celans Lyrik abbildet: Heimat, Liebe, Wahnsinn, Schmerz, Jüdisch-Sein, Schreiben und Aktualität. So ist das Hörbuch »Eine Annäherung« eine faszinierende Reise durch den lyrischen Kosmos Celans, ohne dass es Anspruch auf Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit beansprucht. Es enthält leicht Zugängliches wie schwer Verdauliches, Emotionales wie Experimentelles, Zyklisches wie Anekdotisches und lädt ein, all das zu entdecken.
Der Entdeckungsreise ist mit Jens Harzer ein großartiger Guide zur Seite gestellt, der durch diesen Kosmos führt und dabei selbst Momente der Be- und Verwunderung erlebt. Der Dinge einordnet, Ratlosigkeit anspricht, subjektive Bezüge sichtbar macht oder einräumt, dass er bei Celan auch als professioneller Sprecher an Grenzen stößt. »Okay, einmal geh’ ich noch durch«, »Ich les’ es einmal für uns«, »Jetzt ham’ wir, jetzt ham wir was Schweres vor uns«, »Boah, ist das traurig« oder »Oh Gott, gibt’s da auch `ne Aussprachebox für Mittelhochdeutsch?« – das Seufzen von Jens Harzer während seiner Celan-Lesungen hebt eben jene auf ein anderes Level. Es sind diese Kommentare aus dem Off des Studios, die dieses Hörbuch so aufregend und sensationell einzigartig machen. Harzer erschließt die Gedankenwelten Celans, indem er jeder Silbe nachspürt, die Wortbedeutung zum Klingen bringt, sich die Texte aneignet, ohne sie einzuverleiben. Das ist erhellend, erhebend, berührend, grandios.
Internat
»Internat« ist hierzulande der erfolgreichste Roman des aktuellen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels Serhij Zhadan. Das liegt auch daran, dass diese Geschichte eines Mannes, der seinen Neffen aus einem im umkämpften Donbass liegenden Internat holen will. Es ist eine Reise in ein anarchisches Nirgendwo, in dem keine Regeln und Gesetze mehr gelten, man mit Menschlichkeit nicht weit kommt. Die beiden stoßen auf Flüchtlingstrecks, geraten zwischen die Fronten und die Landschaft wird mehr und mehr zur apokalyptischen Szenerie. In dem Erfolg des Romans, dessen klingende, knatternde und dröhnende Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, liegt zugleich seine Tragik. Denn obwohl dies unweigerlich ein Kriegsroman ist, wurde sein realistischer Anspruch nicht erkannt. Erst im Nachhinein sagten viele, dass man schon dort habe lesen können, was man erst jetzt wahrnimmt.
Mit ähnlicher Verspätung flattert nun diese Vertonung von »Internat« ins Haus, die Frank Arnold, einer der besten Sprecher, die wir haben, vorgenommen hat. So überwältigend und lebendig Zhadans literarischen Bilder sind, so registerreich ist seine fast zwölfstündige Lesung. Mal schreit und brüllt er mit den Figuren, dann ätzt er krächzend oder flüstert hauchend, nur um dann wieder in tragendem Ton in die erzählerischen Passagen zu wechseln. Seine Stimme (ver)führt durch diesen Roman, folgt einem nach und haucht den vielen Charakteren Leben ein.
Der ukrainische Sänger und Schriftsteller Serhij Zhadan, der seit Kriegsausbruch in der zivilen Verteidigung seiner Heimatstadt Charkiw aktiv ist, hat im Herbst neben dem Friedenspreis auch den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhalten, sein aktuelles Twitter-Tagebuch »Himmel über Charkiw« macht deutlich, warum. Im schlimmsten und zugleich literarisch bemerkenswertesten Jahr von Serhij Zhadan kommt dieses Hörbuch wie ein Komet daher, der hell am Himmel leuchtet.
Die genannten Hörbücher sind auch auf den einschlägigen Download-Portalen erhältlich.
[…] hatte das Originalton-Programm mit einer zehnstündigen Sammlung von »Lyrikstimmen«, die nichts weniger als ein Standardwerk der Spoken Poetry im deutschsprachigen Raum ist. Sie […]