Essay, Geschichte, Politik, Sachbuch

Der Lächerlichkeit preisgeben

© Thomas Hummitzsch

Maria Luise Knott erklärt in ihrem klugen Essay » Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt«, warum das konventionelle Denken zur Seite gelegt werden muss, um Eichmann als empörend dummen und beliebigen Hanswurst zu identifizieren. Zwei weitere Titel gehen der Rolle von Hannah Arendt in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach.

Der Literaturkalender ist unter anderem bestimmt von Jubiläen, Jahrestagen und Großereignissen. Verlagsprogramme entstehen nicht selten nach diesem Muster, wenngleich sich durchaus in steter Regelmäßigkeit die eine oder andere Bücherperle in die Buchlisten mogelt. Selten stehen diese herausragenden Bücher in einem inhaltlichen Zusammenhang. Nicht zufällig aber sorgten in den vergangenen Monaten zwei Bücher für Aufsehen, die sich mit der Philosophie Hannah Arendts auseinandersetzen. Es handelt sich um die Dokumentation von Gesprächen und Briefen zwischen der deutsch-amerikanischen Philosophin Hannah Arendt und dem Verleger Joachim Fest mit dem Titel Eichmann war von empörender Dummheit und um den irrwitzig klugen Essay der Übersetzerin Marie Luise Knott, in denen sie die die Arendt’schen Denkwege ergründet.

Die Vorbereitungen für eine gemeinsame Radiosendung für den Südwestdeutschen Rundfunk Ende 1964 führten Hannah Arendt und Joachim Fest zueinander. Ihre publizistische Arbeit vor dem Zusammentreffen lässt jedoch darauf schließen, dass sie bereits vor ihrer Begegnung eine ähnliche Lesart der deutschen Geschichte hatten. Denn kurz vor ihrer Begegnung waren in den USA mit Hannah Arendts Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen und in Deutschland mit Joachim Fests Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft zwei vergleichbare Bücher erschienen.

Hannah Arendt beobachtete für das Magazin New Yorker 1961 den Prozess gegen den deutschen NS-Verbrecher Adolf Eichmann in Israel und verfasste ihren Bericht Eichmann in Jerusalem. Eichmanns immer wieder vorgebrachte Argumentation, er habe nur auf Befehl gehandelt, veranlasste Arendt, sein Verhalten als Unfähigkeit, andere Standpunkte als den des gehorsamen Beamten einzunehmen, zu bezeichnen. Knott schreibt: Eichmann war für sie der »Prototyp eines führungsabhängigen, von Allgemeinplätzen, Normen und Sprüchen getriebenen Menschen«. Seine »Realitätsferne und Gedankenlosigkeit« sah Arendt als ursächlich für das stupide Befehlen des Massenmords an den europäischen Juden an. Diese »Banalisierung des Bösen« allein hätte ausgereicht, um ein mittleres Erdbeben unter den amerikanischen Juden auszulösen. Doch das den Skandal auslösende Moment war eine andere Passage in Arendts Bericht: »Die ganze Wahrheit war, dass es im jüdischen Volk, wäre es wirklich unorganisiert und führungslos gewesen, Chaos und viel Elend gegeben hätte, doch die Gesamtzahl der Opfer kaum zwischen viereinhalb und sechs Millionen Leuten gelegen hätte.«

Hannah Arendt & Joachim Fest: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Piper-Verlag 2011. 208 Seiten. 16,95 Euro. Hier bestellen

Dieser Satz löste die »Arendt-Kontroverse« aus, eine enorme Debatte um »Ehre und Rettung« der Judenräte unter der Naziherrschaft, denen Arendt, so der allgemeine Vorwurf, eine Mitverantwortung zugeschrieben hatte. Über die in New York erscheinende deutsch-jüdische Wochenzeitung Aufbau wurde Arendt massiv angegriffen, ohne sich zunächst verteidigen zu können – obwohl sie viele Jahre Autorin für die Zeitung gewesen war. Der amerikanische Rat der Juden aus Deutschland eröffnete die Debatte mit der Erklärung »Die Reaktion der Juden auf die Verfolgung der Nazizeit«. Darin heißt es: »Hannah Arendt glaubt feststellen zu dürfen, dass jüdische Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes mitgewirkt hätten, und dass diese Mitwirkung von entscheidender Bedeutung für die Durchführung der Pläne der Nationalsozialisten gewesen sei. Sie missdeutet die Haltung von Männern, über deren Integrität und Selbstaufopferung kein Zweifel besteht. […] Über dieses furchtbare Kapitel moralisch zu urteilen, steht denen nicht zu, die nicht dabei gewesen sind.«

Arendts ehemaliger Kollege Joseph Maier sprang ihr daraufhin in einem Beitrag für den Aufbau zur Seite. Dass ihre Formulierung der »Banalität des Bösen« missverständlich gelesen werden könne, räumte auch Maier ein. Die Empörung aber würde Arendts Wagnis auslösen, in ihrem Bericht »nebenbei etwas zu erwähnen, was lieber verdrängt, vergessen und im Auftrag und mit Billigung des Establishments umzuschreiben wäre«. Die Frage der Verantwortung der organisierten Juden in den Lagern und Ghettos.

Golo Mann warf ihr als einer der prominentesten Kritiker vor, eigene Maßstäbe erfunden und Akteure wie die Judenräte oder die deutschen Widerständler angegriffen zu haben. Mit ihrer überklugen Dialektik schaffe sie eine Nacht, in der alle Katzen grau seien, »in der die Guten nicht gut sind und die Schlechten nicht schlecht, die Guten nichts besser machen konnten, die Schlechten kaum etwas schlechter«. Mary McCarthy wiederum verurteilte diese wie auch andere Kritiken. Diese würden Arendts Verstehen von Eichmann mit einem Vergeben seiner Taten verwechseln – ein Aspekt, den auch Marie Luise Knott in ihren Studien der Arendtschen Denkwege näher beleuchtet.

Im direkten Austausch spielte auch die Auseinandersetzung Arendts mit dem jüdischen Historiker Gershom Scholem eine wichtige Rolle, auf die hier hingewiesen sein soll. Die von Marie Luise Knott herausgegebene komplette und mitunter hochkontroverse Korrespondenz der beiden leidenschaftlichen Briefeschreiber, die die Jahre 1939 bis 1964 umfasst, ist im vergangenen Herbst bei Suhrkamp erschienenen.

Marie Luise Knott (Hrsg.) & David Heredia: Hannah Arendt & Gershom Scholem. Der Briefwechsel 1939 – 1964. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2011. 695 Seiten. 39,90 Euro. Hier bestellen

Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse, die auch in den deutschen Medien emotional geführt wurde, plante der junge Journalist Joachim Fest ein Interview mit der deutlich älteren Hannah Arendt. Er wollte der deutschen Philosophin und Verwandten im Geiste die Möglichkeit bieten, sich anlässlich des Erscheinens der deutschsprachigen Ausgabe von Eichmann in Jerusalem gegen die vorgebrachten Vorwürfe zu verteidigen. Arendt lehnte dies jedoch ab, wie aus den nun vorliegenden Briefen hervorgeht. »Ich stimmte dem Gespräch mit Ihnen zu, weil ich nach Lektüre ihres Buches [Das Gesicht des Dritten Reiches] dachte, wir haben gemeinsame Interessen, sehen viele Dinge in einem ähnlichen Licht, es sollte Sachen geben, über die wir uns mit Gewinn unterhalten können. Es sollte eine Unterhaltung sein, von Ihnen geführt, aber nicht ein Interview; eben ein Gespräch.«

Dieses Gespräch, im Buch dokumentiert, ist zweifelsohne ein Höhepunkt der politphilosophischen Debatte. Arendts Argumenten hinsichtlich der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, der allgegenwärtigen Dämonisierung der nationalsozialistischen Führungsfiguren und ihrer These der Banalität des Bösen nachzuspüren, ist ein idealer Ausgangspunkt, um sich intensiver mit den Denkwegen bei Hannah Arendt auseinanderzusetzen.

Nicht zufällig trägt Marie Luise Knotts Essayband den Titel Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, denn das Umwerfen von bekannten Ansätzen und vorgefassten Meinungen machen Arendts Denkschule bis heute aus. Es ging ihr immer wieder um den Perspektivenwechsel, das Neu-Sehen und Neu-Deuten des Wahrgenommenen und das Überprüfen der eigenen Sicht auf die Welt. Immer wieder hatte sich Arendt intellektuell auf den Weg gemacht, sich nicht mit dem vermeintlich Nachvollziehbaren zufrieden gegeben, macht Marie Luise Knott auf vielfältige Art und Weise deutlich. War das Gespräch zwischen Arendt und Fest von besonderer Bedeutung für die damalige Debatte, so ist dieser schmale Band ein Solitär der Arendt-Deutung – eine mit viel Wissen ausgestattete und reflektierende Karte der Arendtschen Schaffenslandschaft. Dass es dafür ausgerechnet eine Übersetzerin braucht, die völlig zu Recht den Ruf einer Arendt-Expertin genießt, ist nur folgerichtig.

Wer Arendts Argumentation verstehen will, muss bereit sein um- und querzudenken. Das ist einfacher gesagt als getan. Der Leser wird hierbei von dem Illustrator Nanne Meyer unterstützt, der für jedes der vier Kapitel kongeniale Illustrationen angefertigt hat, die den notwendigen Verlern-Prozess in Piktogrammen visualisieren und (be-)greifbar machen.

Ausgehend vom Eichmann-Buch zeigt Knott, welch immense Bedeutung Ironie und die Fähigkeit zu lachen in Arendts Denkkosmos haben. »Ironie war ein Mittel, sich die Angst, die das Phänomen auslöste, auf Distanz zu halten«, erklärt Knott. Das damit verbundene Lachen ist daher ein befreiendes und die Beklemmung abschüttelndes, ein »Atemholen des Denkens«. Hannah Arendt, so die Deutung der Übersetzerin, benötigte dieses Lachen, um die hoch emotionalisierte Diskussion um Schuld und Verantwortung Eichmanns wieder auf eine sachliche Ebene zu zwingen. Dieses Herunterbrechen erst erlaubte es ihr, von der »Banalität des Bösen« zu schreiben. Das Lachen bildete die Brücke zwischen dem eigenen Schrecken und der lapidaren Erkenntnis, mit Eichmann allenfalls einem »beliebigen Hanswurst« gegenüberzustehen, dem es an Tiefe, Radikalität und Dämonie fehlte.

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Marie Luise Knott: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt. Matthes & Seitz Berlin 2011. 151 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Neben der Fähigkeit zu lachen spielte Hannah Arendts Existenz als deutsche Jüdin in New York eine immense Rolle für die Fixierung ihres Denkens, wie Marie Luise Knott zeigt. Denn sprachlich scheint sich Arendt in Amerika deutlich länger als Emigrantin, wenn nicht gar Exilantin gefühlt zu haben. Während sie relativ schnell Anschluss findet, fühlt sie sich sprachlich isoliert, um nicht zu sagen, von ihrer Sprache isoliert. Aufgewachsen ist sie in der deutschen, jüdischen und klassisch-griechischen Kultur, die ihr allesamt in der deutschen Sprache vermittelt wurden und aus deren Schriften sie aus dem Stand ganze Passagen zitieren konnte. In den USA verlor sie diese intellektuelle Freiheit ein Stück weit.

»In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich noch immer aus Königsberg«, sagte sie später einmal zu Joachim Fest. Dies sollte sich auf ihr Schaffen auswirken. Denn wann immer sie sich in die amerikanischen Debatten einbringen wollte, stand sie vor der Hürde, auf notwendige Zitate und Verweise verzichten zu müssen oder diese mühevoll nachzuschlagen, da sie die amerikanischen Quelltexte nie gelesen hatte. Und selbst wenn sie die englischsprachigen Quellen fand, war fraglich, ob Metaphern und sprachliche Bilder im Englischen tatsächlich analog verwendet werden konnten. Hannah Arendt, für die die Bedeutung des Gesagten und die Metaphorik des zu Verstehenden eine immens große Rolle spielte, stieß hier immer wieder an ihre Grenzen. An ihren Doktorvater Karl Jaspers schrieb sie noch im Sommer 1963: »Der Teufel sollte die Zweisprachigkeit holen.«

Fehlten ihr anfangs die englischsprachigen Bezüge, gingen ihr später manchmal die deutschen verloren. Knott zeigt, wie Arendt ihre Aufsätze und Bücher teils doppelt schrieb, in englischer und deutscher Fassung – wobei die deutsche Version oft umfassender und stärker intertextuell geprägt war. Im Annex des Buches kann man das anhand ausgewählter Beispiele nachvollziehen. Nichtsdestotrotz transportierte Arendt mit ihrem Schreiben auf dem schmalen Grad der Zweisprachigkeit »das Wissen der europäischen geisteswissenschaftlichen Zwischenkriegsmoderne und deren Scheitern in die USA«. Die europäische Kulturgeschichte war für Hannah Arendt eng mit der Tradition des Debattiersalons verbunden. Nicht zufällig forderte sie auch von Fest eine Unterhaltung anstelle des Interviews.

Arendts Werk ist ein Gespräch mit Freunden, mit Platon und Sokrates ebenso wie mit Martin Heidegger, Rahel Varnhagen, William Shakespeare, Emily Dickinson oder Heinrich Heine. Knott erinnert in diesem Zusammenhang an Ted Weiss’ Gedicht The Living Room, in der er die gemeinschaftliche Gegenwart der europäischen Denker posthum inszenierte. In dieses imaginierte Wohnzimmer voller Freunde lud Hannah Arendt ihre Leser und Zuhörer stets ein, nicht um diese auf ihren Platz und in ihre Perspektive zu zwingen, sondern um ihre Leser an diesen Salongesprächen mit ihren neuen, »verlernten« Sichtweisen teilhaben zu lassen.

»Arendt liebte das Übertreiben, jenes über das Bekannte Hinaustreiben der Sprache, das versucht, das Denken, das gerne gewohnten Bahnen folgt, im Dramatisieren neu aufs Spiel zu setzen.« Diese Worte schreibt Knott am Ende ihrer Untersuchung und kehrt damit inhaltlich zum Ausgangspunkt der Arendt-Kontroverse zurück. Arendts eigentliches Anliegen ihres Berichts vom Eichmann-Prozess teilt Bertolt Brecht in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui: »Die großen politischen Verbrecher müssen durchaus preisgegeben werden, und vorzüglich der Lächerlichkeit.«

8 Kommentare

  1. […] hat. Der beste deutsche Kenner dieser jüdisch-amerikanischen Politologin und Schülerin von Hannah Arendt, Hannes Bajohr, hat erst kürzlich Shklars Konzept der Passiven Ungerechtigkeit auf das Problem des […]

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