Essay, Sachbuch

Norwegens Joan Didion

Die norwegische Essayistin Ida Lødemel Tvedt ist noch nicht einmal 35 Jahre alt, aber schon jetzt eine der aufregendsten Stimmen des Landes. Der Auseinandersetzung dieses »Walmädchens« mit den Kulturen der Gegenwart folgt man mit Neugier und Begeisterung.

Ist man ein ernstes Mitglied der Gesellschaft, wenn man eine Schwäche für kulturkritische Haltungen hat? Folgt man den Gedankengängen der norwegischen Essayistin Ida Lødemel Tvedt, dann neigt man dazu, dem zuzustimmen. In ihren Texten, die unter dem Titel »Tiefseetauchen« vorliegen, geht es um nichts geringeres als das denkende Individuum in der Welt; nicht, um sich selbst und die eigene Welthaltung zu inszenieren, sondern um sich aus einer subjektiven Position heraus mit Blick auf das große Ganze denkend die Welt zu erschließen. Oder um es mit den Worten der Norwegerin zu sagen: mit ihren Texten unternimmt sie beständig den Versuch, »die Temperatur des Zeitgeists zu messen«.

»Tiefseetauchen« versammelt zwanzig Texte, wobei diese mehr als einmal eher als Zyklus oder essayistische Themencluster gelesen werden sollten. Ausgehend von der eigenen Kindheit reist sie durch die Zeiten und intellektuellen Denkräume, um zu erklären, wie sie dem Schreiben ins Netz gegangen ist und welche Köpfe sie bei ihrem Coming-of-an-Essayist geprägt haben. Sie setzt sich mit dem amerikanischen Rechtsruck ebenso auseinander wie mit biblischen Schöpfungsmythen, blickt hinter die Kulisse von Schlagwörtern wie Rassismus, Feminismus und Identität, fragt nach der Zukunft der Liebe, der Verkommenheit des Glaubens und der Gnade des Alters und reflektiert ganz nebenbei noch Werk und Wirken zahlreicher Gegenwartsautorinnen.

Dabei nimmt sie durchaus kontroverse Positionen ein, etwa wenn sie über Hanya Yanagiharas »Ein wenig Leben« (»…eine achthundertseitige sinnlose Wehklage über Vergewaltigung, Selbstverletzung, Pädophilie, Tod und Verderben«) schreibt, die Literatur der beiden großen norwegischen Kontrahenten Karl Ove Knausgård (»…er erschafft Zerrbilder von etwas, das man als das Gute erkennt«) und Tomas Espedal mit der Lesart wütender Mütter konfrontiert, Ta-Nehisi Coates Texte an der pazifistischen Ethik Martin Luther Kings und der literarischen Finesse James Baldwins misst oder mit Susan Sontag ins »Inferno der Idioten« abschweift.

Erschienen sind Tvedts Texte im Schweizer Kommode-Verlag, der in sein Profil geschrieben hat, dass er belletristische Werke junger deutschsprachiger Autor*innen und literarische Übersetzungen sowie Sachbücher veröffentlich, »die ein anregendes Spannungsfeld erschaffen und keine vorgefertigten Antworten auf komplexe Fragen liefern.« Die Textsammlung der norwegischen Autorin, die Essayistik unterrichtet und für zahlreiche Medien, u.a. das Schweizer »Magazin« (auf dessen Cover sie im Februar war) schreibt, löst dieses Programm voll und ganz ein.

Es ist ein ebenso intellektuelles wie waghalsiges Vergnügen, durch die Texte der noch nicht einmal 35-jährigen Autorin mit dem bestechenden Blick zu surfen. Denn sie konfrontieren den Lesenden nicht nur mit der Welt und ihrem Blick darauf, sondern auch mit den eigenen Perspektiven auf die Dinge und Fragen, der immer wieder herausgefordert wird. Das macht auch deshalb so viel Spaß, weil man hier nicht einfach nur die Ansichten einer jungen Autorin liest, sondern weil man ihr in ihren Texten beim Denken zuschauen kann. Sie verbindet persönliche Erlebnisse mit sozialen Beobachtungen, beobachtet und beschreibt zugleich die Welt und sich selbst.

Das verbindet sie mit Ikonen wie Susan Sontag oder Joan Didion, mit denen sie auch die Geschichte des Fräuleinwunders teilt. Aber Frauen, die Attraktivität mit Intelligenz verbinden, haben schon immer mehr Feinde als Freunde. Erst recht, wenn sie die konservative Empörung, die sie hervorrufen, sezieren. Und genau das tut auch die Norwegerin. Dabei setzt sie sich auch mit ihrer eigenen Bedeutung und Funktion als Autorin auseinander. Wenn der öffentliche Diskurs nicht zum kollektiven »Gruppenwichsen« von sich eingenommener Kulturdandys verkommen solle, müsse jede:r bereit sein,

»mit und gegen sich selbst zu sprechen und sich der Spannung zwischen sich und den beiden anderen Elementen hinzugeben. Und das funktioniert nur, wenn man die kulturellen Artefakte wirklich zum Denken benutzt, nicht als Mittel zum Zweck, nicht, um zu illustrieren, was man ohnehin schon über die Welt denkt oder was man gerade in einem Seminar über Agamben oder Benjamin oder wen auch immer gelernt hat. Die Kritik fordert in erster Linie Wachsamkeit, nicht nur hinsichtlich des Werkes, sondern auch hinsichtlich der eigenen Reaktionen. Man muss die eigenen Rückenmarksreflexe protokollieren. Sich fragen: Warum reagiere ich so? Warum wurde mir jetzt übel? Warum langweile ich mich, warum bin ich so aufgedreht, dass mir schwindelig wird, warum habe ich das Gefühl, dass dieser Roman oder diese Memoiren mich mit schmutzigen Tricks hinters Licht führen?«

Ida Lødemel Tvedt: Tiefseetaucher
Ida Lødemel Tvedt: Tiefseetaucher. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. Kommode Verlag 2021. 487 Seiten. 26,00 Euro. Hier bestellen

In diesen Tagen ist es zudem lohnenswert, sich mit ihren Gedanken zum 22. Juli und dem Komplex des »nationalen Traumas« rund um die Ereignisse von Utøya auseinanderzusetzen. Dafür hat sie die Gedenkstätte Utøya besucht, sich alle Texte zum 22. Juli bestellt (und wochenlang in Kisten verschlossen gelagert, weil sie sich dem nicht stellen konnte) und die Medienberichte zu dem Ereignissen und den Prozess gegen Anders Behring Breivik gewälzt. Ihr Text »Die Jungenzimmergleichung« ist ein Nachdenken darüber, wie Norwegen damit umgeht. So seien etwa unzählige Bücher, Reden und Aufsätze zum 22. Juli erschienen, nur würden die Norweger das nicht lesen. Dennoch seien sie für die Zukunft wichtig, »denn alle möglichen Leute würden mit der Zeit versuchen, sich den 22. Juli unter den Nagel zu reißen, den Tag für ihr Narrativ über Knebelung und Kultureliten, Extremismus und sozialdemokratische Solidarität ausnutzen – und da bleibt nur die Vielfalt der Erzählungen, die als Korrektiv stehen.«

Wie ein Korrektiv wirken auch diese Texte, in denen sie den Zeitgeist vorführt, wie Hans Christian Andersen seinen Kaiser nackt. Dabei ist es egal, ob es um Erotik und Begehren, Krankheit und Alter, Milch oder Make-Up, Wut und Scham, Pornografie und Liebe, politische Ideologie und persönliche Gefühle geht. Dabei bricht sie den herkömmlichen Blick, indem sie unsere Zeit durch die Linse der Werke ihrer Ikonen – Simone Weil, Hannah Arendt, James Baldwin, Martha Nussbaum, Susan Sontag – betrachtet.

Das titelgebende Bild wird nicht nur motivisch aufgegriffen, sondern in der Übersetzung von Karoline Hippe auch stilistisch. Mit der Ruhe einer Taucherin blickt sie sich denkend und schreibend um, fasziniert von ihrem jeweiligen Sujet, dem sie mal dialogisch dann wieder porträtierend folgt. Dazwischen auch getriebene Passagen, atemlos-monologische Satz- und Argumentketten, in denen der Gedanke nie abreisst. Die Luft geht ihr dabei nie aus, aber mancher Tiefsee-Tauchgang endet abrupter als erwartet.

Das gilt nicht für den ersten Text im Buch, in dem sich Ida Lødemel Tvedt an ihre Kindheit in Bergen und daran erinnert, wie sie sich mit einer Freundin als Walmädchen in Fantasiewelten träumte, die sich in der Tiefe des Meeres – im »Mariannengraben«, wie der Originaltitel lautet – entfalteten.

»Wir wollten baden zwischen all dem, was in dem ertrunkenen Universum noch nicht ergründet worden war, umschlungen von dreizehn Meter langen Tintenfischen, die überall Geschmacksknospen haben und Haut, die in Farbspektakeln kommuniziert. Im Meer war das meiste ein Schlund, aber auch Verrat, Schmuck und Spiel, Allianzen zwischen den Arten, Camouflage und affektiertes Gehabe, Flirt und Abschreckungspropaganda. Wenn die anderen die Hölle waren, war das Meer eine Art Himmel.«

Ida Lødemel Tvedt: Tiefseetaucher

Tauscht man in diesem Auszug das »ertrunkene Universum« gegen den Zeitgeist aus, dann kommt man ihrem Projekt auf die Spur. Denn mit den hier versammelten Texten hat sich die Norwegerin genau die Fantasiewelt gebaut, von der sie als Kind träumte. Und in deren dunklen Tiefen sie, nach dem Sinn des ganzen Welttheaters suchend, ebenso kühn wie entschlossen durch all das lang gewachsene Geflirre der Gegenwart taucht, um sie zu entschlüsseln.

Das Artikelbild ist ein Ausschnitt des Titelbilds von »Das Magazin« No. 5/21, fotografiert von Ivar Kvaal