Gesellschaft, Sachbuch

Die Freiheit, zu sein und zu bleiben

Die Berliner Philosophin Eva von Redecker denkt in »Bleibefreiheit« über die Herausforderungen der Gegenwart nach und nimmt dabei erfrischende Perspektiven ein. Ihr Kerngedanke, die Idee der Freiheit von der räumlichen auf die zeitliche Perspektive zu verschieben, wird in Jenny Odells neuem Buch »Zeit finden« erkenntnisreich vertieft.

Bleibefreiheit ist ein seltsamer Begriff. Bleiberecht und Bewegungsfreiheit kennt man, aber die Figur, der sich Eva von Redecker widmet, wirkt erst einmal fremd. Dabei liegt auch ihr zunächst ein räumliches Konzept zugrunde, nämlich die Freiheit, hier bleiben zu wollen oder zu können. Kling wie eine Selbstverständlichkeit, erfordert aber »die Wahrung einer bewohnbaren Welt«. Das wird, so ist sich die Autorin sicher, erst einmal auf Widerstand bei den »Besitzliberale« stoßen, weil das angesichts des rasant verlaufenden Klimawandels dazu führt, dass neue Einschränkungen verordnet werden müssen. »Denn das Bleiben verlässt das räumlich Imaginäre der liberalen Freiheit und bezieht sich auf die Möglichkeiten der Zukunft«, schreibt von Redecker.

Die in Brandenburg lebende Autorin schließt in ihrem neuen Essay gewissermaßen konsequent an ihr Buch »Revolution für das Leben« an. Dort attestierte sie neuen Protestformen wie #BlackLivesMatter und #FridaysForFuture, dass diese schlicht Leben retten wollen. Dies sei auch dringend geboten, argumentierte sie, weil die Grundlage der menschlichen Existenz im liberalen Diskurs aus dem Blick geraten sei. Der laute Ruf nach Freiheit, so die 41-Jährige, sei im Zeitalter des Turbokapitalismus zur »Gallionsfigur der Verwüstung« verkommen.

Eva von Redecker: Bleibefreiheit. S. Fischerverlage 2023. 160 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Freiheit sei aber an Bedingungen geknüpft und der Tod ihr natürliches Ende, führt sie diesen Gedanken nun fort. »Bleibefreiheit heißt, dass es darauf ankommt, weiterzuleben« – individuell und kollektiv. Klimaschutz werde als unbedingt notwendig behandelt, nicht zuletzt auch vom Bundesverfassungsgericht, trete aber als Freiheitsblocker – sei es durch legislative Einschränkungen oder in Form der Proteste der Letzten Generation – auf den Plan.

Schon am gesellschaftlichen Widerstand gegen beide Formen wird deutlich, dass die Idee, das Bleiben zu sichern, wenig Zustimmung erfährt. Wir seien nicht gewöhnt, »das Bleiben-Wollen zum Maß der Freiheit zu machen«, schreibt die Philosophin. So ganz erklären kann sie sich das nicht. »Etwas in uns sperrt sich ganz grundlegend gegen die Perspektive des Bleibens.« Vielleicht sei es der freiheitssuchende Bewegungsdrang, vielleicht aber auch einfach der individuelle oder kollektive Egoismus.

Was auch immer es ist, es hilft nicht, zu lamentieren. »Freiheit hat Bedingungen, sie existiert nicht im luftleeren Raum. Wenn du frei sein willst, ohne dich um diese Bedingungen zu sorgen, bist du unvernünftig«, bringt die Autorin auf den Punkt. Wir müssen also Verantwortung übernehmen, um die Freiheit als solche zu wahren, denn ohne irdische Existenz ist alle theoretische Freiheit nichts wert.

Was können wir also machen? Redecker schlägt dafür ein Umdenken vor. Sie verschiebt die Freiheit vom Raum (im Sinne von Bewegungsfreiheit) in die Zeit (im Sinne von Bleibefreiheit) und denkt auf der Basis von Platon, Karl Marx, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir oder Kae Tepest über eine Form des Daseins nach, in der wir »etwas anfangen mit dem Leben«.

Das Leben setzt hier die nächste Grenze der Freiheit, denn nach der Existenz als solcher gibt es auch keine Freiheit mehr. Die Endlichkeit des Lebens ist die zeitliche Schallmauer des liberalen Daseins. »Der Tod ist das Ende der Freiheit, genau deshalb wollen wir nicht sterben. Bleibefreiheit heißt, dass es darauf ankommt, weiterzuleben.«

Die Existenzialisten etwa gehen davon aus, dass uns das Bewusstsein zur Freiheit zwingt. Wir sind für unser Leben verantwortlich, »wer sich vor dieser Freiheit versteckt, lebt unaufrichtig«. Aber wer will das schon? Gerade in Zeiten der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten will jede:r ein erfülltes Leben führen. Um hier nun nicht der Ressourcen- und Weltverschwendung Tür und Tor zu öffnen, verbindet von Redecker Freiheit mit einer fiktiven Idee, die nach Reinkarnation klingt. »Frei sein heißt zu wissen, dass man wieder zur Welt kommen kann« meint aber nicht die Hoffnung auf göttliche Wiedergeburt, sondern ein Bewusstsein dafür, dass man die Welt so hinterlassen muss, dass ein späteres lebenswertes, erfülltes Leben auf ihr möglich ist.

Eva von Redecker: Revolution für das Leben. S. Fischerverlage 2020. 320 Seiten. 23,- Euro. Hier bestellen.

Die Figur der Bleibefreiheit, die in die Zeit statt in den Raum drängt, sei daher facettenreich und vielgestaltig zu lesen, betont die Autorin. »Zunächst ist Zeit einfach Dauer und – betrachtet aus der Perspektive des individuellen Lebens – eine endliche Spanne. Entsprechend beharrt die Bleibefreiheit auf dem Wert des sterblichen, irdischen Lebens. Politisch drängt diese Facette der Freiheit auf die andauernde Sicherung bestmöglicher Lebensbedingungen für alle; und zwar jetzt und nicht in einer techno- phantastischen Zukunft. Existenziell gesehen, legt die endlichkeitsbewusste Bleibefreiheit nahe, im Angesicht der unerträglichen Unabänderlichkeit des Todes vor allem am Bleiben zu arbeiten,– daran, dass man seine Freund_innen noch eine Weile länger sieht. Philosophisch schließlich ist die Bleibefreiheit ein Appell, nicht vor der Sterblichkeit,– und somit aus der Zeit,– zu fliehen, wie es bei näherem Hinsehen auch eine so säkulare Freiheitskonzeption wie der liberale Besitzindividualismus tut.«

Um diese besondere Form der Freiheit zu leben, braucht es vor allem ein Bewusstsein für die Apokalypse des Klimawandels, die sich längst – und meist abseits unserer Wahrnehmung – vollzieht. Diese krisenhaften Zustände hätten die westlichen Gesellschaften »ausgelagert an ausgebeutete Menschen und kolonisierte Lebensräume«, täglich verdrängten wir, »was im Tod einzelner Arten oder Ökosysteme auf dem Spiel steht.« Damit berauben wir uns der Freiheit, zu existieren, denn »ökosystemischer Kollaps ist irreversibel.« Die Welt braucht für erlittenen Schaden Zeiten der Regeneration, die Menschen auch, macht von Redecker deutlich. Nur so können wir Klarheit über unser Tun und seine Konsequenzen gewinnen, statt wie der Hase vor der Schlange die Apokalypse am Bildschirm zu verfolgen.

Jenny Odell: Zeit finden. Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C.H.Beck Verlag 2023. 440 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Hier greift sie einen Gedanken auf, den die amerikanische Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell in ihrem neuen Buch »Zeit finden« in aller Ausführlichkeit verfolgt. Darin fordert die 37-Jährige dazu auf, die Zeit wieder an ihren Platz zu rücken, sie aus den Geld- und Aufmerksamkeitskreisläufen des Kapitalismus herauszulösen und wieder in die eigenen Hände zu bekommen. Die vermeintlich gegen den Kapitalismus gerichtete Achtsamkeitsideologie bekommt dabei auch ihr Fett weg, schließlich sei diese nur eine alternative Form der Vermarktung von Zeit und Produktion. Diese Logik müsse beiseite gelegt werden, um den Zugang zu einem Verständnis zu ermöglichen, wie Zeit, Welt und ökologische Krise miteinander verwoben sind.

Ironischerweise verlegt Odell die Freiheit des Einzelnen hier von der Zeitschiene weg wieder in den Raum. Statt zeitlich nach vorn – dem Tod entgegen – müsse sich das Leben nach außen hin öffnen, einem sozio-ökologischen System entgegenstreben, in dem ein kollektives Bewusstsein für ein gutes Leben auf einem gesunden Planeten und eine kollektive Handlungsbereitschaft für ein solches gesundes Miteinander von Mensch und Natur besteht. »In die Zukunft blicken« könne dann eher bedeuten, »sich umzuschauen als vorauszuschauen.«

Odell plädiert für eine Lebensweise, die weniger ausbeuterisch ist, die weniger auf Hierarchien setzt und sich weniger um das menschliche Ego dreht. In der Beobachtung der Natur führt sie unterschiedliche Zeitkonzepte und universelle Gesetze vor Augen. In Momenten der Kontemplation, der Ruhe und der Hingabe sieht Odell Möglichkeiten der Regeneration und eines fruchtbareren Umgangs mit der Zeit. Es gehe nicht darum, mehr zu leben – im Sinne eines längeren oder produktiveren Lebens –, sondern darum, »in jedem Moment, den man hat, lebendiger zu sein«, schreibt Odell.

Jenny Odell: Nichts tun. Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C.H.Beck Verlag 2022. 296 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Schon in »Nichts tun« hatte sich die Amerikanerin für ein Leben fernab der Ideologie von Effizienz und Selbstoptimierung ausgesprochen. Ihr neues Plädoyer für ein Dasein »jenseits des durchgetakteten Lebens« setzt diesen Gedanken konsequent fort und verbindet ihn mit der größten Krise unserer Zeit. Dabei zieht sie Parallelen zur kapitalistischen Umwidmung der Zeit als Ressource der Wertschöpfung, die Player sind die gleichen. »So, wie die Industrie des individuellen Zeitmanagements die Idee von Zeit als Geld dem isolierten Bootstrapper weiterverkauft, verkaufen die Energiefirmen die Idee des CO2-Fußabdrucks, um von breiteren und wichtigeren Wegen der Veränderung abzulenken. Diese schließen sowohl technologische als auch politische Mittel ein, zu denen wir bereits Zugang haben.«

Liberale und Neoliberale werden derartige Argumente im Sinne des Leitspruchs »pecunia non olet« als moralisch abtun. Odell (wie auch von Redecker) votiert aber dafür, der Klimakrise eine moralische Dimension zuzugestehen, um ihre Beziehung zu fundamentalen Ungerechtigkeiten deutlich zu machen. »Zum Beispiel sind die scheinbar zweckmäßigen Erwägungen der Energiekonzerne und Investoren mit der Argumentation der Sklaverei-Apologeten im Amerika des 19. Jahrhunderts zu vergleichen, die ihre Sache ebenfalls als apolitisches, wirtschaftliches Problem mit technokratischen Lösungen sahen.« Für Energiekonzerne sei eine Zukunft ohne die Ausbeutung der Erde nicht vorstellbar, weshalb sie eine Weltsicht vertreten, in der die Erde ein Objekt bleibt. Es sei daher an jedem Einzelnen, die Welt vom unbeteiligten Objekt zum leidenden Subjekt der permanenten Ausbeutung zu machen. Auch die Erde aber brauche Zeit der Regeneration, sie zu finden und durchzusetzen ist unser aller Aufgabe.

Sowohl Odell als auch von Redecker wenden sich mit ihren Texten gegen die kapitalistisch-industrielle Logik des Daseins, in dem Zeit eine wertvolle Ressource ist, die es dringend zu nutzen gilt. Beide Texte sind in all ihrer Unterschiedlichkeit als flammende Appelle zu lesen, ein erfülltes, statt ein verschwenderisches Leben zu führen und Klarheit über unser kollektives Tun zu gewinnen. Denn das blindwütige Kollabieren-Lassen des Ökosystems macht aller Freiheit ein Ende.