Das Urbane wird zur asphaltierten Betonkulisse eines menschentleerten Vergnügungsparks. Mit dem Fortschritt bleibt der Mensch zurück – er kann noch so sehr wie der Hamster im Mühlenrad laufen.
Am Anfang dieses ungewöhnlichen Fotobandes stehen Bilder unberührter Natur. Zu sehen sind mit Wolken verhangene, saftiggrüne Berghänge in Bhutans Urwäldern. Der Band schließt knapp 300 Seiten später mit Aufnahmen, die gegenteiliger kaum sein könnten. Sie zeigen eines der vielen Bauprojekte in der lebensfeindlichen, staubtrockenen Umgebung der Wüste Dubais. Don’t be left behind lautet der Titel dieser Sammlung von 67 Panoramaaufnahmen des deutschen Fotografen Klaus Mettig. Mit dieser Bilderschau – und das ist dieser Bildband aufgrund seiner inneren Struktur und Choreografie, aber dazu später mehr – veranschaulicht Mettig den gesellschaftlichen »Fortschritt« in fünf asiatischen Ballungsräumen im Zeitalter des Turbokapitalismus. Dabei stehen sich die beiden Bilder kontrastiv gegenüber. Sie stellen eine Reise von der unberührten Natur zum Dasein im Entzivilisierten, im von Zivilisiertheit entleerten Raum dar. Sollte das erste Bild Ausgangspunkt einer Entwicklung und das letzte der Schlussakkord sein, dann fragt man sich als Betrachter unweigerlich, ob man nicht lieber zurückgeblieben wäre.
Es ist wahrscheinlich, dass Mettig seine im Original vier Meter großen Aufnahmen derart angeordnet hat, um eben dieses ungute Gefühl mit diesem angeblichen Fortschritt zu provozieren. Der deutsche Fotograf ist bekannt für seine herausfordernde Kunst mit der Fotografie. In den siebziger und achtziger Jahren fügte er seine Aufnahmen zu gigantischen Wandzeitungen zusammen, um das Einzelbild als Mittel zum Zweck zu verwenden und in einem größeren Ganzen zu einem vernachlässigenswerten Detail zu machen.
Dieses große Ganze ist hier das Gesicht des globalisierten Kapitalismus, das sich aus Aufnahmen aus Buthan, Kathmandu, Delhi, Shanghai und Dubai zusammensetzt. Delhi, Shanghai und Dubai sind Städte, die man in der Diskussion um die Segen und Fluch der Globalisierung schon zwangsläufig erwartet. Sie sind Ikonen des urbanen kapitalistischen Systems – im Guten wie im Schlechten. Aber Buthan und Kathmandu? Man weiß ja auf Anhieb kaum, wo genau im Fernen Osten man den Finger auf die Landkarte legen müsste, um diese verborgenen Flecken Erde zu treffen. Und eben deshalb hat Mettig sie in seine kulturgesellschaftliche Studie mit einbezogen. Er macht dem Betrachter seine Naivität im Umgang mit dem kapitalistischen System bewusst, denn wo unsereins noch heile Welt vermutet, ist der Kapitalismus schon längst eingekehrt.
Und wieder war er schneller. Bevor wir überhaupt an sie denken, sind die Vorhüter des westlichen Lebensstils längst über diese Landstriche gezogen und haben ihre Spuren hinterlassen. Traditionelle Kleidung ist durch importierte westliche Mode von der Stange längst ersetzt und Britney Spears schaut uns von 0815-T-Shirts an. Bhutan scheint noch am wenigsten vom Kapitalismus »geküsst« zu sein, noch weniger als Kathmandu, wo das Leben auf dem Land von einer schleichenden Urbanisierung abgelöst wird, wie der Blechhüttenring der Vorstadt beweist.
Die Abgründe der Globalisierung werden allerdings in Delhi und Shanghai sehr viel deutlicher sichtbar. Im Vergleich der fünf urbanen Regionen gehören Bhutan und Kathmandu zu den zurückgebliebenen Regionen. Man möchte ihnen fast gratulieren, wenn man nicht wüsste, dass ihnen dies im internationalen Wettbewerb um Touristen und Industrie nicht zum Nachteil würde. Denn kein Fortschritt bedeutet eben auch, dass der Weg aus der in der westlichen Wahrnehmung als naturverbundener Schlichtheit romantisierten Armut ein langer sein wird.
Auch in Delhi und Shanghai ist diese Armut zu sehen, zum Teil viel deutlicher als in den anderen Regionen. Mettig zeigt sie uns jeweils mit den ersten Panoramen seiner Stadtserien: Slums hier und verfallende Bausubstanzen dort. Aber in Delhi und Shanghai existiert auch ein Dispositiv namens Aufstieg, das anderswo noch fehlt. Mettigs Fotografien lassen den Betrachter erkennen, dass dieser Aufstieg vor allem an städtischer Infrastruktur sichtbar wird. Die Kulissen seiner Aufnahmen, die unzähligen gigantischen Brücken, Straßen, Trassen und Versorgungsleitungen, die unzähligen Neubauten und Geschäftsviertel bilden die Grenzen des Raums, in dem das urbane Leben der Vielen stattfindet. Diese Versorgungswege und -zentren bestimmen das Dasein der hier lebenden Menschen, sie müssen sich ihnen beugen, um nicht gänzlich verschlungen zu werden. In Delhi sind es z.B. die rastenden Kuhhirten unter den Bahn- und Autobahntrassen der Großstadt. Sie sieht man noch, wie sie sich lethargisch in ihr Schicksal fügen. Die in Folien- und Blechsiedlungen lebenden Großfamilien in den urbanen Außenzonen aber sind schon von der Struktur ihres Lebensraums verschlungen. Erst wenn man nah an sie herangeht, wenn man sich zu ihnen begibt, schälen sie sich aus ihrer Umgebung heraus und blicken dem Fotografen neugierig und stolz in seine Kamera. Ein Prozess, der auf den Delhiabzügen stärker in den Vordergrund tritt, als auf denen aus Shanghai. Auf den Fotografien aus Dubai fehlt er vollkommen. Der Mensch ist hier aus der Stadt verschwunden, das Urbane wird zur asphaltierten Betonkulisse eines menschentleerten Vergnügungsparks.
Vergleicht man die fünf Städteserien, wird ein sich immer wiederholendes Muster deutlich. Nach urbanen Landschaftspanoramen nehmen die folgenden Bilder die Menschen im Städtischen in den Blick. Diesen Aufnahmen folgen dann wiederum Fotografien der städtischen Kulisse. Sie zeigen die Herangehensweise des Fotografen, der sich der Stadt zunächst von außen nähert, dann ganz vom pulsierenden Leben der Stadt und ihren Menschen ergriffen wird, um sich schließlich das System Urbanismus und seine Funktionsweise zu erschließen. In diesem System, das lassen Mettigs Bilder erkennen, verschwindet mit dem Fortschritt das Leben. Die Kapitale der Zukunft braucht den Menschen nicht mehr! Mit dem Fortschritt bleibt also auch der Mensch zurück – er kann noch so sehr wie der Hamster im Mühlenrad laufen.
Mettig und der herausgebende Steidl-Verlag haben mit Don’t be left behind zugleich auch ein Kunstwerk geschaffen, zum dem man sich als Leser den Zugang erblättern muss. Denn die Panoramaaufnahmen wurden nicht an das Buchformat angepasst, sondern sie sind in kleinerer Form über mehrere Seiten gedruckt worden. Die Anordnung der Aufnahmen im Band wurde ihrer immanenten Bildaufteilung untergeordnet. Die Bildmitte, das Zentrum und Herzstück einer jeden Aufnahme, ist auf einer Doppelseite abgebildet, die Bildränder sind jeweils auf der vorhergehenden und nachfolgenden Buchseite umgebrochen. Die gesamte Aufnahme erschließt sich dem Betrachter daher nur durch ein doppeltes Umblättern der Seiten.
Zugleich lässt Mettig auf den Doppelseiten, die jeweils einen rechten und linken Bildrand von zwei verschiedenen Panoramaabzügen abbilden, die Illusion eines Übergangs von einem Bild zum anderen entstehen. Er macht sich dabei zunutze, dass der Betrachter in einer Art Reflex nach diesen Übergängen sucht, da ja auf jeder zweiten Doppelseite ein kohärentes Bildzentrum abgebildet ist. So blättert man durch diesen Folianten ein wenig wie durch einen Comic, sucht nach Kohärenz und Kohäsion, um die verschiedenen Informationen zu einer Erzählung zu verbinden. Diese Erzählung ist die des unbändigen Fortschritts, bei dem Stillstand schon gleichbedeutend mit Rückschritt ist und ihn deshalb unmöglich macht.
Mettigs Aufnahmen sind die Stills von Gesellschaften, die sich aufgrund der kapitalistischen Ströme, die durch sie hindurchfließen, permanent in Bewegung befinden. In diesen Ballungsräumen stellen Umbrüche Normalität dar und Konstanz wird zum Ausdruck fehlender Flexibilität. Keine einzige der Aufnahmen ist vollkommen und gerade darin sind sie prototypisch für das sekundenbruchteillange Dokument der Globalisierung. Denn die eine Fotografie ist in der Hektik des Turbokapitalismus nicht mehr zu machen. Der Stillstand, den diese perfekte Aufnahme verlangt, nicht mehr herzustellen. Aber all die Aufnahmen, die im Moment der Aufnahme schon veraltet sind, weil alles Leben weitereilt, sind in ihrer Vergänglichkeit ikonisch für das Leben im zeitvergessenen Kapitalismus, in dem Heute schon das Gestern von Morgen ist.