Mit Ulli Lusts »Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte« war erstmals überhaupt ein Comic für den seit fünf Jahren bestehenden Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Die Jury hat den mit 25.000 Euro dotierten Preis an Lusts essayistischen Comic vergeben, weil er »die starke Frau als Mensch« präsentiere. Ulli Lust schriebt damit ihre einmalige Erfolgsgeschichte fort, zum ersten Mal wurde mit ihrem Album ein Comic mit einem der großen deutschen Literaturpreise ausgezeichnet.
Der lange Zeit vorherrschende Blick auf den Menschen als Mann sei grundlegend revisionsbedürftig, heißt es in der Begründung der Jury zum Deutschen Sachbuchpreis 2025. »In ihrem so kenntnisreichen wie fantasievollen Sachbuch zu den Anfängen der Menschheit zwischen Evolution und Kultur zeigt Ulli Lust, dass die Rolle von Frauen in der Menschheitsgeschichte weitgehend unsichtbar blieb.« Die Jury lobte zudem den vielschichtigen Zugang, mit dem Lust festgefahrene Vorstellungen aufbreche.

Im Finale um den Deutschen Sachbuchpreis setzte sich Lust unter anderem gegen Ines Geipels kritischer Erkundung ostdeutscher Opfernarrative, gegen Bernhard Kegels Plädoyer für grünen Klimaschutz, aktuelle Perspektiven auf den digitalen Kolonialismus und den Maschinenglauben, gegen eine Analyse der kinderfeindlichen politischen Verhältnisse durch und tritt damit die Nachfolge von Christina Morinas 2024 ausgezeichneter Studie »Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren« an.
Mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnete Bücher





Mit der Auszeichnung ihres aktuellen Albums mit dem Deutschen Sachbuchpreis gelingt es ihr als erster deutschsprachigen Comickünstlerin, dass einer der großen Literaturpreise an ein Werk der Neunten Kunst geht. In Deutschland blieb es bislang nur bei Nominierungen, beim Preis der Leipziger Buchmesse war Birgit Weyhe 2023 mit »Rude Girl« für den Sachbuchpreis nominiert, ihre Kollegin Anke Feuchtenberger war 2024 mit »Genossin Kuckuck« im Rennen um den Belletristik-Preis. Dass ein wichtiger Literaturpreis an einen Comic geht, ist eine Seltenheit, Art Spiegelman gelang dies 1992 mit seinem Holocaust-Comic »Maus«.
Die in Österreich geborene Künstlerin erzählt in ihrem essayistischen Comic die Geschichte von Frauen in der Vorzeit und ihrer Figuration, weitet aber auch immer wieder den Blick mit persönlichen Anekdoten und Einblicken. Es gibt Exkurse zur prähistorischen Geschichte, zu Primatengesellschaften und egalitären Kulturen, um gängige Narrative zu hinterfragen oder zu konterkarieren. Lust zeigt den Paradigmenwechsel in der Deutung der Frauenstatuetten und arbeitet die Bedeutung der weiblichen Fähigkeit zur Empathie als menschliche Superkraft heraus. Das ist alles ist höchst spannend, in seiner Zusammenstellung aber auch etwas sprunghaft. Deshalb liest man diese Geschichte über die kulturhistorische Deutung von Frauenfigurinen, Primatenforschung und persönlichen Perspektiven besser nicht in der Erwartung einer geschlossenen Erzählung, sondern als essayistisch freie Erkundung der »Frau als Mensch«. Der Jury hat das gut gefallen: »Eine Geschichte, die über viele Jahrtausende voll von weiblichen Repräsentation ist, muss weiblich gelesen werden«, betonte sie schon bei der Nominierung des Comics.
Bei der Begründung der Auszeichnung schwang auch die Begeisterung für das Medium mit. Durch das originelle Ineinandergreifen von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Archäologie, Anthropologie und Kunstgeschichte und die virtuose Verbindung von Bild und Wort werde dabei auch die Vorstellung, was ein Sachbuch sei, »auf das Schönste erweitert«. Eine Anerkennung der gesamten Neunten Kunst, deren Szene in den kommenden Tagen beim Münchener Comicfestival zusammenkommt.

Lust selbst sagte in ihrer Dankesrede, dass sie zwar in den Tagen vor der Verleihung tatsächlich eine Dankesrede dabei habe, um vorbereitet zu sein. Neben den klassischen Dankesworten betonte sie noch einmal die Fehlschlüsse der Forschung, die die Frauenstatuetten als Ausdruck der Rollen Mutter oder Hure gedeutet hätten. Geschichte sei immer auch Storytelling und als Frau wundere sie sich immer wieder, wie über Frauen gedacht wurde. Die Logik des Rechts des Stärkeren habe bei der Entwicklung des Menschen eine viel geringere Rolle gespielt als bislang angenommen. »Die modernen Menschen wären nie entstanden ohne die Verbindung von Kognition und Empathie«, zitierte sie die amerikanische Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy. Ohne Empathie hätte der moderne Mensch als Art nicht überlebt, weil er auf Hilfe über den engsten Familienkreis hinaus zählen konnte. Eine gute Nachricht mit Blick auf die aktuellen Debatten rund um KI und die Tech-Oligarchen, so Lust augenzwinkernd.
Zentrale Werke von Ulli Lust



Die österreichische Künstlerin Ulli Lust ist mit mehreren Max-und-Moritz-Preisen nicht nur eine der erfolgreischsten deutschsprachigen Comickünstler:innen, sondern aufgrund ihrer klaren feministischen Positionen auch über die Comicszene hinaus geschätzt. Für das ebenfalls autobiografische Album »Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein« erhielt sie 2018 den Rudolph-Dirks-Award. Das Lust aber nicht nur selbstbezogenes kann, sondern eine vielseitige Künstlerin ist, bewies sie nicht zuletzt mit der kongenialen Adaption von Marcel Beyers NS-Roman »Flughunde«.
Ihr Erfolg strahlt längst ins Ausland, auch in den USA und Frankreich kann sie große Erfolge aufweisen. Beim Comicfestival in Angoulême, dem größten und einflussreichsten Comictreffen Europas, gewann Lust 2011 mit der französischen Ausgabe ihres punkigen Comicdebüts »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« einen der renommierten Comicpreise, den »Prix révélation«. Außerdem erhielt sie für das Album den feministischen Comicpreis »Prix Artémisia«. Als 2016 eine Debatte um weibliche Kandidatinnen für den Großen Preis von Angoulême tobte, stand Ulli Lust mit auf der Liste der französischen Zeitung Libération. Zwei Jahre später stand sie mit Ihrem Comic »Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein« auf der Shortlist für den Hauptpreis in Angoulême. Lust ist eine der wenigen deutschsprachigen Comiczeichnerinnen, die mehrmals für einen der begehrten Eisner-Awards (die als Oscar unter den Comicpreisen zählen) nominiert waren. 2013 hat sie mit ihrem autobiografischen Debütalbum einen Ignatz-Award und den LA Times Book Award gewonnen.
In ihrem aktuellen Comic taucht sie tief in die Menschheits- und Kunstgeschichte ein und kehrt damit gewissermaßen zu ihren Ursprüngen im Comicjournalismus zurück. Jahrelang hat sie für den Band recherchiert, um den aktuellen Forschungsstand über die frühmenschliche Entwicklung aus feministischer Perspektive zu beleuchten. »Die Frau als Mensch« ist der erste des auf zwei Bände angelegten Comicprojekts. Im Frühjahr 2026 soll der zweite Band mit dem Untertitel »Schamaninnen« erscheinen.