Für den fünften Deutschen Sachbuchpreis sind acht Titel nominiert, die aktuelle gesellschaftspolitische Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Dabei geht es um die im Titel genannten, aber auch um Jahrhundertmenschen, Erinnerungspolitik, Pflanzenkräfte, Technikglauben und die prähistorische Geschichte aus weiblicher Perspektive. Gesucht wird der Nachfolger von Christina Morinas Studie »Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren«.
»Im besten Fall erlauben es Sachbücher, mit einem gewissen Abstand auf die Welt zu blicken und dabei paradoxerweise von einer Unmittelbarkeit zu sein, wie sie nur wenige Genres bieten«, sagte die Sprecherin der Jury für den Deutschen Sachbuchpreis Patricia Rahemipour bei der Bekanntgabe der Nominierten.
Die Nominierten beim Deutschen Sachbuchpreis 2025








Den acht für den Preis vorgeschlagenen Büchern gelänge es, erklärte sie weiter durch ungewöhnliche Perspektiven vertraute Gewissheiten zu hinterfragen. Dabei sind die nominierten Bücher formal wie inhaltlich höchst verschieden. Sie reichen vom Essay über die Erinnerungskultur über Reportagen in die Technikräume unserer Gesellschaft bis hin zu kulturhistorischen Erörterungen und Zukunftsdebatten.
Unter den besten Sachbüchern des Jahres 2025 gibt es eine Premiere. Mit Ulli Lust hat es erstmals eine Comickünstlerin geschafft, als beste Sachbuchautorin nominiert zu werden. Das ist beim Deutschen Sachbuchpreis ein Novum, beim Preis der Leipziger Buchmesse war Birgit Weyhe 2023 mit »Rude Girl« für den Sachbuchpreis nominiert.

Lust legt mit »Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte« einen Comic über Frauenstatuetten und die Bedeutung der Frau in der Menschheitsgeschichte vor. In ihrem essayistischen Comic erzählt sie die Geschichte von Frauen in der Vorzeit und ihrer Figuration, weitet aber auch immer wieder den Blick mit persönlichen Anekdoten und Einblicken. Es gibt Exkurse zur prähistorischen Geschichte, zu Primatengesellschaften und egalitären Kulturen, um gängige Narrative zu hinterfragen oder zu konterkarieren. Lust zeigt den Paradigmenwechsel in der Deutung der Frauenstatuetten und arbeitet die Bedeutung der weiblichen Fähigkeit zur Empathie als menschliche Superkraft heraus. Das ist alles spannend, aber auch etwas sprunghaft.
Ulli Lust, die in so erfolgreichen Comics wie »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« oder »Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein« ihr Coming-of-Ulli-Lust aufgearbeitet und mit »Flughunde« Marcel Beyers gleichnamigen Roman kongenial adaptiert hat, taucht hier tief in die Menschheits- und Kunstgeschichte ein, muss sich aber an Vorgängern wie Jens Harder oder den Harari-Comics messen lassen. Die Jury begründete ihre Nominierung mit dem breitem fachlichen Ansatz, der zu überraschenden Schlüssen führe:
»Eine Geschichte, die über viele Jahrtausende voll von weiblichen Repräsentation ist, muss weiblich gelesen werden.«
Franz-Stefan Gadys Nominierung steht im kompletten Gegensatz zu einem der fünf Sachbücher, dass in diesem Jahr in Leipzig um den Sachbuchpreis konkurrierte. Während Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik in ihrem in Leipzig nominierten Buch »Die Evolution der Gewalt« erkunden, warum der Krieg eher die Ausnahme als die Regel ist, will der in Washington DC lehrende Militärberater aufzeigen, warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen.

In »Die Rückkehr des Krieges« arbeitet er die Konstanten der militärischen Auseinandersetzung heraus und zeigt auf, wie sich die Veränderung der eingesetzten Techniken in der Geschichte des Krieges auf dessen Folgen und Effekte ausgewirkt haben. Hinter seinem Buch steckt nicht irgendeine Kriegsbegeisterung oder Vorliebe Waffen aller Art, sondern die Angst vor einem neuen Krieg. Er selbst sei ein Pazifist, nur helfe der Pazifismus bei einem Angriff nicht.
Ganz egal, was man vom Krieg hält, man dürfe sich der Realität nicht verweigern, argumentiert der Reserveoffizier der Bundeswehr. Während mit Russland ein bis über die Ohren hochgerüsteter Aggressor Europa bedroht, hätten die meisten europäischen Länder ihre militärische Effektivität verloren. Es fehle allerorten an Mensch und Material, die Wehrfähigkeit sei kaum gegeben. Um Krieg zu verhindern, müsse Europa aber militärisch stark sein, weshalb der Militärberater ein Befürworter der Nachrüstung ist. Gady seziere mit schmerzhafter Präzision politische Fehleinschätzungen und analysiere konkrete Szenarien, so die Jurybegründung zur Nominierung.
»Das Buch leistet dringend notwendige Aufklärung und konfrontiert Deutschland mit der ungeliebten Realität einer neuen Weltlage.«
Victor Hugo wäre vermutlich kein Freund der Nachrüstung, aber er würde sich heute gegen die russische Aggression positionieren, ist sich Walburga Hülk sicher. Die Romanistin ist mit ihrer Biografie »Victor Hugo. Jahrhundertmensch« im Rennen um den Deutschen Sachbuchpreis 2025. Es ist nach dem Sachbuch des Jahres 2021, »Hegels Welt« von Jürgen Kaube, erst die zweite Biografie überhaupt, die für den Preis nominiert wird.

Hülk hat sich im Laufe ihrer Karriere immer wieder mit dem Frankreich des 19. Jahrhunderts und dem Übergang der französischen Kultur in die Moderne befasst. Victor Hugo ist eine Art Spiegelfigur für diesen Übergang, erst Royalist äußerte er sich später gegen die Todesstrafe, die Sklaverei und autoritäre Systeme. In ihrer Biografie zeigt die Autorin auf, dass Hugo nach dem Jahrhunderterfolg von »Les Miserables« ein sehr politischer Mensch blieb. Er setzte sich für die mexikanische Befreiungsbewegung, für die Bildung der Armen und die Rechte der Frauen.
Sein Werk ist bahnbrechend, mit 30 Jahren war er schon ein Meister aller literarischer Gattungen. Er illustrierte nicht selten seine Texte, seine Zeichnungen füllen ganze Bände, ganz zu schweigen von seinen Gedichten, mit denen man sich, würde man täglich eines lesen, mehr als sechs Jahre beschäftigen könnte. Hülk gelinge es, den Politiker, Schriftsteller und unglücklichen Familienvater sowie das Frankreich des 19. Jahrhunderts heraufzubeschwören.
»Sie zeigt Hugo als öffentlichen Intellektuellen von aktueller Bedeutung, der die Massenmedien seiner Zeit nutzt, um für ein geeintes Europa und gegen die Unterdrückung Polens durch die russische Armee einzutreten.«
Ines Geipels »Fabelland« ist eines der meist diskutierte und zugleich meist übersehenen Bücher der zurückliegenden Saison. Darin fragt sich die ehemalige Spitzensportlerin mit DDR-Biografie, was sich die Menschen im Osten Deutschlands nach der Wende erzählt haben und was diese Erzählungen mit der Wirklichkeit zu tun haben. Das meiste von dem, was man sich im Osten über die Treuhand, das Gesundheits- und Bildungssystem oder über Vermögens- und Restitutionsfragen erzähle (und was medial vermittelt wäre), sei falsch, so ihre These.

Bei der Wende handele es sich in vielen Fällen im eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte, sie werde so nur nicht erzählt, macht Geipel in ihrem manchmal etwas zu literarischen Buch deutlich. Die mythisierte Opfer-Erzählung in Ostdeutschland bürstet sie aus persönlicher Sicht gegen den Strich. Dabei schöpft sie nicht nur aus der eigenen Biografie, sondern auch aus den Geschichten von Verwandten und (mehr oder weniger prominenten) Bekannten. »Fabelland« ist kein weiteres Wutbuch, sondern eher eine tiefenpsychologische Erkundung der gesamtdeutschen Gefühlslage.
Als kritische Denkanregung im Sinne der Aufklärung funktioniert dieses Buch sehr gut, es bietet in den autobiografischen Bezügen auch immer Raum zur Reflexion. Geipel wendet sich kreisend dem Osten und Westen sowie der Frage nach Zorn und Glück zu. Ihr Essay besteche durch präzise Analyse und sprachliche Subtilität, urteilte die Jury.
Von Empathie und Trauer getragen sei ihr »ein erstaunliches Buch« gelungen, »das die verfahrenen Diskussionen um Ost und West neu beleben kann.«
Keine verfahrenen, sondern so gut wie keine Diskussionen kommen auf, wenn es um das Aufwachsen der jungen Generation in einer alternden Gesellschaft geht. Dies wollen die Bildungssoziologen Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier dringend ändern. Mit ihrer facettenreichen Intervention »Kinder – Minderheit ohne Schutz« haben sie eine fundierte Grundlage für mögliche Debatten verfasst.

Dabei profitieren sie – übrigens ähnlich wie Meller, Michel und van Schaik in ihrer »Evolution der Gewalt« – von dem interdisziplinären Ansatz, den ihre fachlichen Schwerpunkte ermöglichen. Während sich Klaus-Peter Strohmeyer vor allem mit dem System Kind in Familie auskennt, bringt Aladin El-Mafaalani seine Expertise in Sachen Bildungsstrukturen sowie Sebastian Kurtenbach Kenntnisse von regionalen Verteilungsproblematiken (etwa zwischen Stadt und Land oder Ost und West) mit.
In ihrem Buch räumen die drei Autoren mit vielen Fehlannahmen auf. So habe nicht die Pandemie den Bildungserfolg von Kindern nachhaltig verschlechtert, schon davor sind die Ergebnisse in den Keller gerauscht. Es gab auch noch nie so wenige Kinder wie jetzt. Dennoch wachse ihr Armutsrisiko. Ursächlich seien kinderfeindliche Strukturen.
»In unserer alternden Gesellschaft müssen diejenigen, die schon bald Verantwortung tragen, in den Mittelpunkt gestellt werden«, fordern die drei Autoren. Sie machen deutlich, was Kinder brauchen und »zeigen auf, wie die Gesellschaft den nötigen Kulturwandel meistern kann«, lobte die Jury.
Der Kommunikationswissenschaftler Ingo Dachwitz und der Rechtswissenschaftler Sven Hilbig zeigen akribisch auf, wie sich Tech-Konzerne und Großmächte die Welt aufteilen. Dabei schrecken sie auch nicht vor drastischen Bildern und plakativer Wortwahl zurück, wie schon der Titel ihres nominierten Buchs »Digitaler Kolonialismus« deutlich macht.

Ihr Buch ist nur eines von vielen, dass sich der dunklen Seite der Tech-Revolution zuwendet, man denke an Douglas Rushkoffs »Survival of the Richest«, Atossa Araxia Abrahamians »Schmutzige Geschäfte im Niemandsland« oder »Feeding the Machine« von James Muldoon, Mark Graham und Calcum Cant.
Die dunkle Seite der Tech-Revolution



Hilbig und Dachwitz zeigen in ihrem Buch nun auf, wie sich die Tech-Elite als digitale Pioniere inszenieren, während sie sich wie digitale Kolonialisten aufführen. Statt Antreiber des Fortschritts seien die Broligarchen eher Vertreter des Rückschritts, die eine nie dagewesene Ausbeutung von Mensch und Natur vorantreiben und koloniale Machtverhältnisse festigen. Anhand konkreter Beispiele zeigen die beiden Autoren in ihrem Buch auf, was Digitalisierung im Rohstoffbereich bedeutet, sie zeigen die »Geisterarbeit hinter Künstlicher Intelligenz« auf und arbeiten heraus, wie eng die Technisierung der Welt mit Überwachung und Kontrolle verbunden ist.
Natürlich ist die Frage berechtigt, ob zwei weiße Männer aus Mitteleuropa die richtigen Akteure sind, eine solche Kritik vorzulegen. Zumal ihr Ansatz nicht neu ist, schon gar nicht im globalen Süden. Aber sie verschaffen ihm Gehör und zeigen, wie stark der digitale Fortschritt inzwischen auf Kosten von Menschen und Natur geht.
»Damit demontieren sie den Mythos einer immateriellen, neutralen Technologie«, lobte die Jury, »und tragen dazu bei, die Diskussion um die Digitalisierung zurechtzurücken.«
Wie die zweite Seite dieser Medaille liest sich die Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie der Historikerin Martina Heßler, die sich in ihrer Forschung mit Fragen der Kultur- und Technikgeschichte auseinandersetzt. Auch sie kratzt mit ihrem Buch an einem Mythos, nämlich dem, dass Maschinen schneller und effektiver wären als die Menschen, die oft als Störfaktor (à la »das Problem sitzt meist vor dem Bildschirm«) gesehen werden.

Ihr Buch »Sisyphos im Maschinenraum« ist hochaktuell angesichts von Debatten, die in der Künstlichen Intelligenz den Heilsbringer der Moderne vermuten. Aber man muss sich nicht der KI zuwenden, um mit einem schier unheimlichen Ausmaß an Technikglauben konfrontiert zu werden, wie Heßler zeigt. In den USA wurde vor nicht allzu langer Zeit diskutiert, dass man statt dem Volk einfach Computer wählen lassen sollte, weil diese rationalere Entscheidungen treffen würden.
Die Geschichte des Technikchauvinismus gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Seit damals beweist sich der Mensch immer wieder als technisierter Sisyphos, der eigene Fehler durch Technik auszumerzen versucht und dabei immer wieder neue Fehler macht. Denn Technik ist fehleranfällig und der Aufwand wächst beständig, um ihre Komplexität im Griff zu behalten.
Die Hoffnung auf Perfektion durch Technik ist eine Illusion, beweist dieses Buch, in dem die Jury einen wichtigen Appell sieht, »im globalen Rennen um die technologische Vorherrschaft die Frage nach dem Sinn der immer klügeren Maschinen nicht aus dem Blick zu verlieren.«
Bernhard Kegel schließt mit seinem Buch direkt an diese Perspektive an. Denn während viele den Klimawandel mithilfe von Technik und Ingenieurskunst – Stichwort Geoengineering – eindämmen wollen, will der Berliner Chemiker und Biologe »Mit Pflanzen die Welt retten«.

Bernhard Kegel: Mit Pflanzen die Welt retten. Dumont Buchverlag 2024. 288 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.
In seinem populärwissenschaftlichen Buch konzentriert er sich auf biologische Verfahren und Fragen der Vielfalt, die sich die Menschheit zu Nutze machen kann, wenn es darum geht, grüne Strategien gegen den Klimawandel zu entwickeln. Dabei bewegt er eine große Menge an Wissen, um eingängig und verständlich zu erklären, welche Möglichkeiten sich bieten, Kohlenstoff pflanzlich zu binden, um die Erderwärmung zu stoppen. Er zieht Forschungen zu rate, hinterfragt großspurige Pläne und nationale Rekordmeldungen. Das ganze unterfüttert er mit Beispielen aus der Praxis, um konkret aufzuzeigen, wie Algen kommerziell genutzt werden oder die Biomasse von Mooren kapitalisiert werden könnte.
Kegel ist kein unkritischer Verfechter grüner Lösungen, sondern macht auch deutlich, wie mühsam und politisch herausfordernd viele Ansätze sind. Einen davon hat auch Kristine Bilkau in ihrem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman aufgegriffen: den Handel mit Aufforstungslizenzen im globalen Maßstab.
Der Titel »Mit Pflanzen die Welt retten« sei so plakativ, wie das Buch differenziert, lobt die Jury. »Der Autor verspricht nicht die eine Lösung, er zeigt Wege auf und reflektiert diese.«
Die bisherigen Gewinner beim Deutschen Sachbuchpreis




Der mit 25.000 Euro dotierte Preis für das Sachbuch des Jahres wird am 17. Juni in Hamburg vergeben. Der Preis wurde erstmals 2021 verliehen und ging an Jürgen Kaube für seine Biografie »Hegels Welt«. In den darauffolgenden Jahren wurden Stephan Malinowskis historische Studie »Die Hohenzollern und die Nazis«, Ewald Fries autobiografisches Erinnerungsbuch »Ein Hof und elf Geschwister« sowie Christina Morinas deutsch-deutsche Demokratiegeschichte »Tausend Aufbrüche« ausgezeichnet.
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