Dag Johan Haugerud hat mit den Filmen »Liebe«, »Sehnsucht« und »Träume« eine beeindruckende Filmreihe über die Lust auf Berührung geschaffen. Der Abschlussfilm der »Oslo-Trilogie« gewann im Frühjahr den Goldenen Bären bei der Berlinale, jetzt sind alle drei Filme in den Kinos zu sehen.
Es kann kein Zufall sein, dass Johanna fast den gleichen Namen trägt wie Johanne, für die ihre Begegnung ein Wink des Schicksals ist. Behutsam nähert sich die Schülerin der charismatischen Lehrerin und Modedesignerin an, besucht sie in ihrer Wohnung und verbringt Zeit mit ihr. In ihrem Tagebuch schreibt Johanne auf, was ihr in dieser Zeit durch den Kopf und das Herz geht. Sie hält eindrucksvoll fest, wie sie sich immer mehr in ihren Gefühlen und Fantasien verstrickt. Wie sie sie mit den Blicken verschlingt, von tiefen Blicken, nackter Haut und gemeinsamen Wochenenden träumt. Ihre Aufzeichnungen bilden die Grundlage für den Kommentar aus dem Off, mit dem diese Geschichte im Rückblick erzählt wird.

Als die vertrauensvolle Verbindung zerbricht, drückt Johanne ihrer Großmutter ihr Tagebuch in die Hand. Karin ist als Lyrikerin schnell von der literarischen Qualität der Aufzeichnungen fasziniert. Sie setzt Johanne den Floh ins Ohr, aus dem Tagebuch einen Roman zu machen. Johannes Mutter Kristin ist davon zunächst wenig begeistert, doch bald schon verlieren sich Mutter und Großmutter in den intimen Bekenntnissen der 17-Jährigen und tauschen sich über die Faszination der ersten Liebe aus. Dabei schwelgen sie nicht nur in Erinnerungen an die hochfliegenden Träume der ersten Liebe, sondern es stellen sich auch Fragen über das Eigenleben eines Textes ein. Der spielerische Ernst, mit dem Haugerud die unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen der Generationen an die Liebe darstellt, ist gleichermaßen unterhaltsam wie tiefgründig.
Was passiert eigentlich, wenn man Gedanken, Hoffnungen und Gefühle mit anderen teilt? Werden Offenheit und Ehrlichkeit belohnt oder sollte man manche Dinge nicht besser für sich behalten? Fragen wie diese ziehen sich nicht nur durch diesen atmosphärischen Film, der im Februar mit dem Goldenen Bären bei der Berlinale ausgezeichnet wurde, sondern auch durch die beiden anderen, stärker auf Dialog setzenden Teile der »Oslo Stories«, die nun ebenfalls in die Kinos kommen.
Die Oslo Stories



Die norwegische Hauptstadt bildet in der Filmtrilogie von Dag Johan Haugerud die Kulisse für drei eigenständige Geschichten, in denen verschiedene Aspekte von Liebe und Begehren, Sexualität und Gender erkundet werden. Die »Oslo Stories« sind streng genommen eine Kurzgeschichtensammlung, die an verschiedenen Orten der norwegischen Hauptstadt zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Personal spielt. Sie streben nicht nach einer gemeinsamen Logik oder einem erzählerischen Faden, sondern fügen sich den Emotionen der Figuren folgend in dem Nebeneinander der Träume, Sehnsüchte und Ängste der einzelnen Figuren zu einer universellen Geschichte über das Begehren.
Im Gespräch mit dem Filmmagazin RAY räumte Haugerud ein, dass er wenig Interesse daran habe, Geschichten im klassischen Sinne zu erzählen. »Ich achte nicht bewusst auf lineare Handlungsstränge oder dramatische Wendungen. Viel lieber beobachte ich verschiedene Situationen und versuche, sie aufeinander aufzubauen und miteinander in Beziehung zu setzen.«

In »Liebe« lässt sich eine erfolgreiche Ärztin auf schnellen Sex mit unbekannten Männern ein, ihr homosexueller Kollege kümmert sich fürsorglich um einen Patienten, dem er schon einmal näher gekommen ist. Vorher aber tauschen sie sich bei ihren täglichen Fährfahrten von einer der vorgelagerten Inseln nach Oslo über das Spannungsverhältnis von sexuellen Freiheiten und vertrauensvollen Beziehungen aus. Denn der schwule Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) nutzt die Heimfahrten, um über eine App mit anderen Männern anzubandeln. Als er Marianne (Andrea Bræin Hovig) davon erzählt, beginnt auch sie, online nach Abenteuern zu suchen. Haugerud führt den Begriff Cruising, der in queeren Kreisen gern für die Suche nach Sexualpartnern im öffentlichen Raum verwendet wird, auf der Fähre wieder zurück zu seiner ursprünglichen Bedeutung, und erhält zugleich die aktuelle Überschreibung.
Dialoge spielen in Haugeruds Filmen eine elementare Rolle, entsprechend häufig sieht man seine Protagonist:innen miteinander im Gespräch: Johanne und Johanna stecken auf Johannas Sofa die Köpfe zusammen, Karin und Kristin beim Spaziergang im Wald, Tor und Marianne auf der Oslo-Fähre oder im Krankenhaus und in »Sehnsucht« zwei Schornsteinfeger über den Dächern der Stadt. Johanne sucht zudem nach dem abrupten Ende der Romanze einen Therapeuten auf, was nicht nur eine neue Gesprächskonstellation, sondern auch einen weiteren, freieren Zugang zu ihren intimen Gedanken ermöglicht. »Ich versuche. die Leute nicht zu beurteilen oder in irgendeiner Weise einzuschränken«, sagte Haugerud im Gespräch. »Das macht es spannender, mit ihnen zu sprechen und ihre Beziehungen zu verstehen.«

In »Sehnsucht« gerät die heterosexuelle Existenz zweier Schornsteinfeger (Thorbjørn Harr, Jan Gunnar Røise) aus dem Gleichgewicht, als sie anfangen, sich auf den Dachkanten Oslos über ihre intimsten Geheimnisse auszutauschen. Das lässt beide natürlich nicht unberührt, so dass sich die Ereignisse auch auf ihr monogames Familienleben auswirken. Auch hier zeigt sich, dass der Norweger Haugerud nur wenig braucht, um davon zu erzählen, wie fragil das sicher geglaubte Gerüst des menschlichen Begehrens ist. Eine echte Begegnung, ein feucht-fröhlicher Traum und kaum bleibt ein Lebensstein auf dem anderen.
Es ist erstaunlich, mit welch einfachen Mitteln es dem Filmemacher immer wieder gelingt, die Zuschauer in die Perspektive seiner Figuren zu ziehen. »Träume« wird ganz wesentlich aus der Perspektive von Johanne erzählt, deren Tagebuch ihr Kopfkino zu den Bildern aus der Vergangenheit liefert. »Liebe« wiederum greift im Ort der Fähre die innere Rastlosigkeit von Marianne und Tor auf, die Liebe ist hier ein Meer, das es zu bereisen gilt. In »Sehnsucht« schlüpfen wir in die Rolle der beiden Schornsteinfeger, entsprechend häufig wird hier Oslo von oben gezeigt.

Zugleich scheut sich der Norweger nicht vor nackten Tatsachen, Sexualität ist in den Filmen stets mit Lust und Neugier verbunden. Ob in der visuellen Darstellung oder in den Dialogen – Liebe und Begehren sind für Haugerud ebenso wenig aus der menschlichen Begegnung wegzudenken wie die Tatsache, dass Worte der Fantasie Flügel verleihen. So stellt einer der beiden Männer in »Sehnsucht« fast verwundert fest, dass sich Träume ändern, wenn man sie erzählt. »Als würde man etwas hinzudichten, um Löcher zu stopfen und einen Zusammenhang herzustellen.«

Träume nehmen eine andere Gestalt an, wenn man andere hineinlässt – diese Erfahrung machen alle Figuren der »Oslo Stories« auf die ein oder andere Weise. Niemand erzählt das aber so greifbar wie Johanne, die in »Träume« von Ella Øverbye mit viel Gespür für die emotionalen Zwischentöne verkörpert wird. An ihrer Seite glänzen Selome Emnetu in der Rolle der warmherzigen Lehrerin, Ane Dahl Torp als sich sorgende Mutter und Anne Marit Jacobsen als lebenskluge Oma.

Von ihrem Spiel und den geduldigen Bildern geht eine unheimliche Wärme aus. Kamerafrau Cecilie Semec fängt diese überraschende, kluge, witzige und zärtliche Geschichte in tollen Bildern ein. Man ist selbst überrascht, wie gern man Johanne und Johanna dabei zusieht, wie sie in Wolldecken gehüllt Tee trinken, sich über Stricktechniken austauschen oder in den Blicken der jeweils anderen verlieren.