Klassiker, Literatur

Die Erfahrung der Einsamkeit

© Thomas Hummitzsch

Traumabewältigung, Epochengemälde, Kulturgeschichte – all das ist Dolores Pratos Roman »Unten auf der Piazza ist niemand«. Vor allem aber ist er Kindheitsbeschwörung und Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Vergleiche mit Marcel Proust sind mehr als berechtigt.

Zum Italienschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse konnte man zahlreiche literarische Schätze entdecken, diese Neuübersetzung von Dolores Pratos Roman »Unten der Piazza ist niemand« über eine Kindheit unter schwierigen Vorzeichen ist zweifellos einer der feinsinnigsten Titel aus aus dem Land, wo die Zitronen blühen.

Es ist ein eindrucksvolles Projekt, dem sich da Anna Leube in aller Akribie gewidmet hat . Es sind die Erinnerungen an eine Kindheit im ausgehenden 19. Jahrhundert in Mittelitalien, die die Autorin erst im hohen Alter, nach einem Leben als Lehrerin und linkskatholische Widerständlerin, aufgeschrieben hat. Sie erzählt, wie sie als unehelich geborenes Mädchen bei Verwandten aufwächst, emotionale Kälte und körperliche Härte erfährt, sich ungeliebt und einsam fühlt. Wie man in der italienischen Provinz lebt und isst, spielt und feiert, wie man sich kleidet, sich annähert und sich (von sich selbst) entfremdet. und vor allem denkt sie unablässig über die Leere nach, die sie umgab. »Wo war der Ort, wo ich hätte bleiben sollen? Ich habe ihn nie gefunden«, heißt es schon auf den ersten Seiten.

Dolores Prato: Unten auf der Piazza ist niemand. Aus dem Italienischen von Anna Leube. Hanser Verlag 2024. 976 Seiten. 38,- Euro. Hier bestellen https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/dolores-prato-unten-auf-der-piazza-ist-niemand-9783446281233-t-5374
Dolores Prato: Unten auf der Piazza ist niemand. Aus dem Italienischen von Anna Leube. Hanser Verlag 2024. 976 Seiten. 38,- Euro. Hier bestellen.

»Unten der Piazza ist niemand« ist kein Roman, der mit einer mitreißenden Handlung beeindruckt. Ganz im Gegenteil, es ist eine eher langsame Erzählung, deren Faszination aus dem genauen Blick der kindlichen Ich-Erzählerin entsteht. Dolores Prato musste als Kind viel Zeit allein verbringen, der Titel ist auch eine Anspielung an die innere Einsamkeit, die sie als junges Mädchen empfunden hat. Aus der Not heraus hat sie einen geradezu chirurgischen Blick entwickelt, der die Dinge nicht nur an der Oberfläche abtastet, sondern geradezu durchdringt. Das ist nicht nur mit Blick auf die Verhältnisse zwischen den Menschen in der italienischen Kleinstadt mit der titelgebenden Piazza spannend, sondern auch da, wenn es um minutiöse Beschreibungen von Kochkünsten, Handwerken oder religiösen Praktiken geht.

Anna Leube, die unter anderem Claudio Magris und Italo Svevo eine deutsche Stimme verleiht, spricht in ihrem Kommentar zur Übersetzung davon, dass der Roman der Form halber auch eine Suche nach der verlorenen Zeit ist, denn diese Erinnerungen lassen das vormoderne Italien aufleben, dessen Sprache und Kultur weitgehend verloren gegangen ist. Prato selbst griff beim Verfassen auf ihre Erinnerungen zurück und vertraute sich da vor allem der sinnlichen Ebene an. Die Übersetzung greift dies beeindruckend auf, in dem sie furchtlos der Perspektive der Erzählerin folgt und die Bildlichkeit der Sprache bewahrt. Da gelingt es den spitzen Fragen der Erwachsenen, »das ganze Gewebe meiner Kindheit zu durchlöchern« ein junger Student ist »schmal und schlank wie ein Komma«. Selbst Schüttelreime überträgt Leube geradezu tänzerisch ins Deutsche, als wären es auch hier feststehende Wendungen. »Vierzig Soldi fürs Paradies, und viele Tränen sind dir gewiss«.

Esther Kinsky spricht in ihrem Nachwort von einem »vor den Augen der Lesenden ausgetragenen Prozess der Erstellung einer Welt durch Benennung«. Anne Leube löst dies in ihrer klingenden Übersetzung. Und auch hier bewegt sie sich nah am Original, wie sie in ihrem Kommentar zur Übersetzung deutlich macht.

»Dolores Prato horcht gewissermaßen die Wörter ab und lauscht zugleich auf ihre Melodie, ihr fällt bei Pirandello pirolo ein, italienisch der Zapfen, wie wir im Deutschen an Pirol, den Vogel, denken. Im Familiennamen La Marmora kündigt sich bereits an, dass dieser General ein marmornes Monument verdient. Bei der Doppel- oder oft auch Vielfachbedeutung von Verben steht man häufig vor der Wahl, welche Bedeutung man opfern müsse. So kann man im Italienischen wie auch im Deutschen einen Hut oder eine Tasche tragen, doch schon bei den Beinen oder der Nase verlangt das Deutsche andere Verben.«

Die 1892 geborene Autorin hat ihren Roman erst im hohen Alter verfasst, in den siebziger Jahren erschien das Buch erstmals stark gekürzt in Italien. Erst zwanzig Jahre später lag er erstmals in der ursprünglichen Fassung vor. Die bildet auch die Grundlage dieser Übertragung, die bewundernswert direkt ist; glaubhaft kindlich, ohne kitschig oder niedlich zu sein.

Die Ruhe und Empfindsamkeit, mit der sich dieser Text vor dem inneren Auge entfaltet, hat etwas Meditatives. Die Achtsamkeit der Sprache geht unmerklich auf die Lektüre über und je länger man sich dieser Erzählung hingibt, desto stiller wird die Welt um einen herum. Ein Effekt, der der Rezensent bislang nur von der Proust-Lektüre kannte. In dessen Nähe gehört auch dieses Erinnerungsbuch, dessen Madeleine in einem Kinderspiel liegt, dessen Schüttelreim sich dem Kind nie einprägen sollte.

Der Autorin ist er wieder eingefallen, als sie sich in ihrem Inneren auf die Suche nach einer verlorenen Welt gemacht hat. Dank Anna Leube strahlt diese Welt so kraftvoll wie nie.