Dass die Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel überhaupt in Vergessenheit geraten konnte, war für viele ein Skandal, die 2021 ihre Erzählungen gelesen haben. »Fern von hier« lautete damals der Titel des voluminösen Sammelbands. Nun kann man mit dem Band »Nah bei Dir« ihre Briefe lesen. Erst mit ihnen begreift man, unter welch beklagenswerten Umständen sie der Wirklichkeit ihre Prosa abgerungen hat.
»Aber wir dürfen uns selber sein, Maja, und trotzdem uns lieben lassen«, schreibt die Schweizer Dichterin Adelheid Duvanel im Sommer 1983 an ihre Freundin Maja Beutler. Im Jahr zuvor hat sie sich von ihrem übergriffigen Ehemann Joe Duvanel scheiden lassen, ihre Zeilen sind ein Signal der seelischen Heilung. Noch zwei Jahre zuvor hat sie sich gegenüber Beutler, die sie erst im selben Jahr in Klagenfurth kennengelernt hat, noch anders geäußert. »Ich glaube nicht, dass man einen Menschen «zu sehr» lieben kann; man kann ihn aber «falsch» lieben, das heisst, ihm eine Scheinliebe entgegenbringen, die ihm gar nicht guttut, die ihn belastet, statt ihm zu helfen, weil sie gar keine wahre Liebe ist.«

Der Band »Nah bei Dir« versammelt die Briefe, die die Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel zwischen dem 20. Oktober 1978 und dem 22. Juni 1996 geschrieben hat. Gut zwei Wochen nach dem letzten erhaltenen Brief stirbt sie unter Einfluss von Medikamenten in einem Wald bei Basel.
Der Briefband umfasst im Wesentlichen zwei Korrespondenzen. Zum einen den Briefwechsel mit ihrem Lektor Klaus Siblewski, zum anderen die Briefe, die Duvanel ab 1981 an ihre Freundin und Schriftstellerkollegin Maja Beutler geschickt hat. Die Briefwechsel entsprechen nicht einer kritischen Edition, es gibt Auslassungen und Lücken, Begradigungen und Eingriffe, die am Ende zwar beschrieben, aber nicht einzeln ausgewiesen werden. So fehlen beispielsweise Beutlers Antwortbriefe, die verschollen sind. Man kann daher nur bedingt von Korrespondenz sprechen, Duvanels Briefe lesen sich da eher wie ein Tagebuch.
Die 1996 verstorbene Schriftstellerin aus Basel ist vor vier Jahren wiederentdeckt worden, damals erschienen die aus Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien zusammengesuchten Erzählungen in dem Sammelband »Fern von hier«. Sie belegen ihre hohe Kunst der kleinen Form, indem sie als Momentaufnahmen die Existenzen von Menschen aus einfachen Verhältnissen umreißen. Vor allem belegen diese Geschichten die Präzision ihrer Sprache. Meist brauchte Duvanel nur wenige Zeilen, um ihre benachteiligten, ausgestoßenen, alleingelassenen und todtraurigen Figuren in ihrer sozialen Umgebung zu verorten. Zugleich spielt sie mit dem Realismus. Unter der Lupe ihres Blickes zoomt die Sprache manchmal so nah heran, dass die kristallklaren Erzählungen ins Surreale zu kippen drohen.
Duvanels Prosa wurde zu Lebzeiten mit der von Isaak Babel und Franz Kafka verglichen. In ihren Briefen leuchtet diese sprachliche Genauigkeit auf, vor allem die Diskrepanz zwischen gelebter und empfundener Wirklichkeit. Sie berichtet ungeschönt von ihrem fragilen Alltag als Schriftstellerin, Ehefrau und Mutter. Die Schriftstellerei brachte ihr nicht genug ein, um über ein prekäres Dasein hinauszukommen, auch weil ihre gleichnamige Tochter, die mit einem Alkoholiker liiert später selbst drogensüchtig wurde und an Aids erkrankte, lebenslang die finanzielle, körperliche und seelische Fürsorge ihrer Mutter in Anspruch nahm. Duvanels Ehemann, der Künstler Joe Duvanel, war dabei keine Hilfe. Vielmehr neigte er selbst zu misogyner Gewalt.

Kurzum, die Briefe sind oft sorgenvoll, zum Ende hin schier desaströs, bis zum Rand gefüllt mit Berichten aus Kliniken und Sanatorien, Geständnissen aus ihrer zerstörerischen Ehe mit Joe Duvanel sowie Kopfzerbrechen über den Zustand ihrer Tochter. Kein Wunder, dass Siblewski meist »mit Freude« über das Lebenszeichen »und Betroffenheit« über den Inhalt auf ihre Briefe antwortet. Um der Autorin irgendwie unter die Arme zu greifen, versuchte der damalige Luchterhand-Lektor, ihr zu Stipendien und anderen finanziellen Mitteln zu verhelfen.
Von der Belastung, die Duvanels Briefe für ihre Freundin Maja Beutler gewesen sein müssen, erfährt man nur im Nachwort, eben weil Beutlers Antworten fehlen. Aber man spürt die Belastung bei der eigenen Lektüre. Sie berichtet in ihren Briefen von den widrigen Lebensumständen, die ihr Schreiben inspiriert und motiviert, aber oft auch erschwert und verhindert haben. Das ist mindestens bedrückend, nicht selten beklemmend. Die Briefe aus den letzten zwei Jahrzehnten ihres Lebens legen eindrucksvoll Zeugnis ab, unter welch schwierigen Verhältnissen Duvanel geschrieben hat. Sie benennen die existenzielle Dimension von Leben und Schreiben und machen deutlich, wie sie ihre Prosa dem Leben abgerungen hat.
Im Herbst wird mit den Feuilletons, Kolumnen und Rezensionen, mit denen sie sich in den 60ern und 70ern ihre Existenz gesichert hat, ein weiterer Teil des Schaffens der Schweizerin gehoben. Der Band »Es gibt Tage« wird ihre Kritiken versammeln, die sie unter dem Pseudonym Martina für die Basler Nachrichten und das Gratisblatt Doppelstab in den 60er und 70er Jahren verfasst hat. Diese Texte über Ingeborg Bachmann, Vladimir Nabokov, Robert Walser oder Franz Kafka vermitteln laut Ankündigung des Verlags Duvanels eigensinnigen Blick auf Literatur.
Dass die Schweizer Schriftstellerin eine Vielleserin war, kann man auch den Briefen an Maja Beutler entnehmen. Anfang 1983 schreibt sie etwa: »Liebe Maja, ich bin so sehr auf Dein Buch gespannt. Ich habe in letzter Zeit Kafka gelesen (einige Erzählungen), dann Julien Green und Barbey d’Aurevilly.« Auch unter schwierigen Situationen begleitet sie die Literatur. Als sie sich 1991 um ihre drogensüchtige Tochter kümmert, berichtet sie in einem Brief an Maja, sie habe »überhaupt keinen schwierigen Text gelesen; ich lese nur Patricia Highsmith oder Georges Simenon, vor allem Maigret.«

Man kann gespannt sein, welche Rückschlüsse sich aus diesen Feuilletons auf ihr literarisches Werk ziehen lassen. Briefband und Erzählungssammlung deuten schon im Titel (»Nah bei Dir« vs. »Fern von hier«) die Gegensätzlichkeit an, die sich in der Form (weniger im Stil) wiederfinden: der minimalistischen Kunst ihrer »Windgeschichten« steht die epische Länge ihrer Briefe gegenüber, die sich oft über viele Seiten erstrecken.
Eine ihrer kürzesten Erzählungen handelt von einer Frau Leisegang. Die erzählt der Ich-Erzählerin, dass ihre Wohnung abgebrannt ist und sie nun im Hotel lebt. Das einzige, was sie noch besitzt, seien »dreiunddreißig Luftpostbriefe, einundvierzig andere Briefe und ein Telegramm aus Paris in einem großen, gelben Couvert, das aufgeplatzt ist und das sie vor den Flammen retten konnte«. Die Briefe stammen von einem Dichter, den sie in ihrer Jugend liebte. Seit er verheiratet ist, schreibe er nicht mehr. Die Briefe sind das Letzte, was sie aus ihrem alten Leben hat. »Es wird niemand kommen, um Frau Leisegang ihren Besitz streitig zu machen«, endet die Erzählung. »Sie kann ihn auch nicht versichern, und niemand wird ihn erben wollen.«
Die Briefe von Adelheid Duvanel wollte zunächst auch niemand erben. Ihre Entdeckung ist – wie schon die gesammelten Erzählungen – ein unverhofftes Geschenk.