Interviews & Porträts, Literatur, Roman

»Kafka hat auch Trost zu bieten«

© Wallstein Verlag

Reiner Stach ist Herausgeber der bahnbrechenden dreibändigen Kafka-Biografie sowie weiterer Kafka-Schriften. Kaum jemand ist so tief in den rätselhaften und labyrinthischen Kosmos des Prager Autors vorgedrungen wie Stach. Nun gibt er im Wallstein-Verlag eine neue Leseausgabe von Franz Kafkas Werken heraus.  Im Interview spricht er über seine Motive und die Zeitlosigkeit von Kafkas Literatur.

Lieber Herr Stach, im Kafka-Jahr 2024 startet die von Ihnen herausgegebene kommentierte Leseausgabe von Kafkas Werken mit dem Roman »Der Process«. Abgesehen von dem Jubiläum – warum sollten Menschen gerade jetzt Kafka lesen, was hat der große Autor uns auch heute noch zu sagen?

Kafkas Werk erlebt schon seit geraumer Zeit eine Art von Renaissance. Man erkennt das vor allem daran, dass es auch für andere Medien immer attraktiver wird, für die Bühne, den Film, neuerdings auch für die Graphic Novel. Wenn Klassiker derart lebendig bleiben, dann bedeutet das immer, dass sie einen Nerv der Zeit treffen. Ich glaube, Kafkas Gefühl, in einer Welt zu leben, die immer weniger durchschaubar ist, die nach immer mehr und immer unverständlicheren Regeln organisiert ist – dieses Gefühl der Desorientierung erkennen heutige Leser wieder, einschließlich der absurden Konsequenzen, die das mit sich bringt. Kafka hat aber auch Trost zu bieten: durch seinen sprachlichen und bildlichen Reichtum, seine Überfülle wunderbarer Einfälle.

Franz Kafka: Der Process. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach. Wallstein Verlag 2024. 384 Seiten. 34,- Euro. Hier bestellen.

Was ist das Besondere an gerade dieser Ausgabe?

Eine ausführlich kommentierte Kafka-Edition, aus der auch ein größeres Lesepublikum Gewinn ziehen kann, hat es erstaunlicherweise noch nie gegeben. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass der Name Kafka vorschnell ans Interpretieren denken ließ, während seit ein, zwei Jahrzehnten nun deutlicher die ästhetischen Qualitäten in den Vordergrund rücken und damit auch die Lesegenüsse, die Kafka zu bieten hat. Auf diese Qualitäten vor allem sind meine Kommentare ausgerichtet, auf stilistische Eigenheiten, raffinierte Metaphern, Erzähltechniken und -motive, unterschwellige Signale an den Leser, Verbindungen zwischen den Texten usw. Wiedergegeben sind in den Kommentaren auch alle inhaltlich bedeutsamen Korrekturen Kafkas, so dass die Ausgabe auch einen tiefen Blick in seine Werkstatt ermöglicht.

Die Kafka-Edition von Reiner Stach

Sie sind als Kafka-Biograph bekannt und haben bereits jahrzehntelang zu ihm geforscht. Woher kommt diese Faszination?

RS: Kafka ist der einzige Schriftsteller, bei dem ich von jeher das Gefühl hatte: Mit ihm komme ich nie an ein Ende. Auch wenn man seine Werke mehrfach liest, entdeckt man stets neue Ideen, Verbindungen, Anspielungen, Bilder. Es ist, als bewegte man sich in einer riesigen Wohnung mit einer unbekannten Zahl von Zimmern, ständig tun sich neue Türen auf, wo man sie nicht erwartet. Man kann das einfach genießen, aber es weckt auch schon die Neugier darauf, wie so etwas überhaupt möglich ist, wie es zustande kommt, und diese Neugier ist im Lauf der Jahre bei mir eher größer geworden.

Reiner Stachs dreibändige Kafka-Biografie

Die meisten haben wohl schon einmal vom »Process« oder dem »Schloss« gehört – Gibt es einen vielleicht weniger bekannten Text Kafkas, für den Sie sich mehr Aufmerksamkeit wünschen würden?

Da gibt es etliche, zum Beispiel würde ich mir mehr Leser für Kafkas Tiererzählungen wünschen, etwa »Der Bau« oder »Josefine, die Sängerin«. Denkende und sprechende Tiere sind für Kafka genau so charakteristisch wie die gespenstischen Bürokratien in seinen Romanen.

Im nächsten Frühjahr sendet die ARD eine sechsteilige Serie über das Leben Kafkas, basierend auf Ihrer dreibändigen Biographie. Das Drehbuch schrieb Autor Daniel Kehlmann in Zusammenarbeit mit dem Regisseur David Schalko. Sie waren während der Entwicklung und am Set als Berater tätig – wie erlebten Sie diese Zusammenarbeit?

Am Set war ich nur für einen Tag, aber an der Entwicklung der Drehbücher war ich über mehrere Jahre intensiv beteiligt. Das war – ich kann es nicht anders sagen – ein riesiges intellektuelles Vergnügen. Die Arbeit an der Biographie war ja eine ziemlich einsame Tätigkeit, beim Film aber wirft man sich die Bälle zu, man sucht und findet die gemeinsame Wellenlänge, manchmal dauert es Monate, manchmal nur Minuten, ehe der zündende Einfall plötzlich da ist, den die Szene braucht und der den Kafka konkret macht, den wir zeigen wollen. Wobei mir natürlich bewusst ist, dass ich nur mit einem Teil der Maschinerie zu tun hatte, die eine derart große und anspruchsvolle Produktion erfordert.

Weitere Kafka-Werke von Reiner Stach

Inwiefern erhoffen Sie sich von der TV-Serie, auch ein jüngeres Publikum für Kafka zu begeistern?

Die erste Begegnung mit Kafka – meist in der Schule – ist ja häufig abschreckend. Junge Leute mögen es nicht, wenn sie mit Literatur in einer Weise konfrontiert werden, als ginge es da um Kreuzworträtsel. Sie möchten beeindruckt werden, und sie möchten Zugang zu einer Person finden. Die Serie kann das leisten, denke ich, und es dürfte auch ein Medium sein, das ihnen näher ist als zum Beispiel Dokumentationen.

Worüber würde Franz Kafka wohl heute schreiben?

Mit solchen Spekulationen sollten wir vorsichtig sein – selbst für diejenigen, die ihn persönlich kannten, waren Kafkas Einfälle immer völlig unvorhersehbar. Wir wissen aber, dass er ein Faible hatte für das Unheimliche im Alltäglichen und für das Komische im Schrecklichen. Das würde er heute an vielen, für ihn neuen Orten wiederfinden. Firmen, die geliebt werden wollen, als wären sie Lebewesen. Autonome Fahrzeuge mit nichtautonomen Insassen. Urlauber, die reisen, aber auf keinen Fall etwas Neues sehen wollen. Also, einige Vorschläge kommen mir da schon in den Sinne…

Die Übernahme des Interviews ist mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags erfolgt.