Mit dem überwältigenden Hillbilly-Roman »Demon Copperhead« hat Barbara Kingsolver den begehrten Pulitzerpreis gewonnen. Nun erscheint der Pageturner in deutscher Übersetzung.
»Für mich ist Armut nicht einfach nur ein Mangel an etwas; denn es gibt Menschen, die weniger besitzen als ich und dennoch reicher sind; Armut ist ein Elend«, schreibt William T. Vollmann in seinen Reportagen »Arme Leute«. Armut sei eine Erfahrung, kein ökonomisch bezifferbarer Zustand und bleibe daher auf gewisse Weise unmessbar. Zweifelsohne teilt Barbara Kingsolver diese Beobachtung. Anders lässt sich ihre Aktualisierung von Charles Dickens Bildungs- und Entwicklungsroman »David Copperfield« kaum lesen. In bestürzenden Bildern veranschaulicht sie die Armuts- und Elendserfahrung ihres tragischen Helden, der noch jede Begleiterscheinung des Mangels am eigenen Leib erfährt. Vernachlässigung und Hunger, Gewalt und Missbrauch, Schmerz, Unsichtbarkeit, Gleichgültigkeit und Abhängigkeit bilden die Pflastersteine, auf denen er durchs Leben geht.
Damon Fields, der wegen seiner roten Haare als Kind den Spitznamen Demon Copperhead erhält, wächst in Lee County auf, einem Landstrich, der zu den ärmsten in ganz Amerika zählt. Hier lebt das weiße Gesindel, die Rednecks und Hillbillies, denen der US-amerikanische Autor J. D. Vance in seiner »Hillbilly-Elegie« ein Denkmal gesetzt hat, in einem Chaos aus Müll und Verfall. Trailerparks ersetzen die verlassenen Ortschaften, statt in massiven Häusern leben die Menschen in Bretterverschlägen, vor denen sich die Reste einer kaputten Gesellschaft stapeln. »Eine verrottende alte Matratze, schubladenlose Kommoden, Propangaspatronen, ein Sägebock, ein auf der Seite liegender Kühlschrank, darauf vier miteinander verbundene Plastikstühle. Krücken. Künstliche Palme. Bobby Car.«
So sieht sie aus, die Welt, in der Demon aufwächst. Auf seine labile Mutter ist wenig Verlass, auf ihren gewalttätigen Freund Stoner noch viel weniger, seinen Vater hat der Zehnjährige nie kennengelernt. Im Trailer nebenan lebt sein bester Freund Matty Peggot, der von seinen Großeltern aufgezogen wird, weil seine Mutter im Knast sitzt. »Wir haben hier Stoff genug, um mehr als bloß ein einziges junges Leben an die Wand zu fahren«, räumt Demon gleich zu Beginn ein. Oder anders gesagt: Der Kummer ist eine Hexe, die auf üblen Winden einreitet. Entsprechend stürmt es in diesem Roman gewaltig.
Das Leben im Mittleren Westen der USA ist schon seit Jahrzehnten kein Zuckerschlecken mehr. Der Niedergang der alten Industrien hat die Menschen in eine Trostlosigkeit gestürzt, die wenig Hoffnung lässt. Die äußeren Elendslandschaften sind längst in die Menschen gekrochen und richten dort Verheerendes an. Demons Mutter versucht die innere Unruhe immer wieder mit Alkohol und Drogen zu betäuben. Als das Jugendamt dahinter kommt, nehmen sie ihr den Jungen weg.
Demon wird in die Obhut eines Bauern gegeben, der der Fürsorge die besonders schweren Fälle abnimmt. Dahinter verbirgt sich allerdings der perfide Plan, die aufgegebenen Seelen einer Gesellschaft für die eigenen Zwecke auszubeuten. Auf seiner heruntergewirtschafteten Farm lässt Mr. Creaky Demon und einige andere Kinder für sich arbeiten. Der stärkste unter ihnen, ein gewisser Fast-Forward, nimmt die Kids unter seine Fittiche. Bei seinen »Farm-Partys« lässt er sie für ein paar Stunden das Elend um sie herum mithilfe einiger Pillen vergessen.
Die Creaky-Farm ist nur eine von vielen Höllenstationen, die Kingsolvers Held auf seiner Reise durch den Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft hinter sich bringt. Er wird noch einmal zu seiner Mutter zurückkehren, die sich kurz darauf mit einer Überdosis das Licht auspustet, von dort in eine Familie mit vier Kindern gegeben, die »am Rand des Machbaren« lebte. Die McCobbs konnten sich nur dank der Unterstützung für Demon vom Jugendamt über Wasser halten. Für den inzwischen Elfjährigen bleibt kaum etwas übrig, er vegetiert ein Jahr im Hunderaum des Hauses auf einer Luftmatratze vor sich hin. In schmutzigen und kaputten Sachen geht er zur Schule, wo er seinen Hunger mit den »Leck-mich-am-Arsch-Erdnussbuttersandwiches« für Sozialfälle stillt. Am Nachmittag sortiert er im Auftrag des Familienvaters auf einer Müllkippe in der Nähe für vier Dollar die Stunde Abfälle, spült Plastikflaschen aus und lässt die Säure aus alten Batterien. Das Geld wandert direkt ins Haushaltsbudget der McCobbs.
Es ist beeindruckend, wie Barbara Kingsolver im ersten Teil ihres über 800 Seiten zählenden Pageturners die Armut und Vernachlässigung von (Waisen-)Kindern, die Dickens in seinem Klassiker ausführlich beschreibt, in die Gegenwart holt. Die sozialen Missstände, in denen diese Kinder aufwachsen, sind allein schon schockierend genug. Die innere Verwahrlosung der am Existenzminimum lebenden Menschen aber ist das Einfallstor für den Missbrauch der überlasteten staatlichen Institutionen und Kingsolver deckt das schonungslos auf. »Es gibt in Lee County viel mehr Waisenkinder als Leute, die sie haben wollen«, gesteht Demons Jugendhelferin an einer Stelle. Man kann das als schallende Ohrfeige an eine Gesellschaft lesen, die meint, dass wenn sich jeder nur um sich selbst kümmert, um alle gekümmert genug sei. Kingsolver zeigt, dass die Teilnahmslosigkeit der Menschen ein Schattenreich gebiert, in dem Kinder Willkür und Erniedrigung ausgeliefert sind.
Diese Schilderungen erinnern an das Martyrium von Jude St. Francis, der tragischen Hauptfigur in Hanya Yanagiharas schmerzvollem Bestseller »Ein wenig Leben«. Die Erfahrungen, auf die Damon Fields als erwachsener Ich-Erzähler zurückblickt, schockieren und erschüttern in all ihren schrecklichen Details. Der Dreck, der ihn umgibt, die Verkommenheit der Menschen, denen er begegnet, und die vermeintliche Ausweglosigkeit seines Schicksals rufen beim Lesen eine enorme innere Empörung hervor. Umso dankbarer ist man für den Sarkasmus, mit dem der Ich-Erzähler auf das Erlebte zurückblickt. Er gibt dem von Dirk van Gunsteren schwungvoll übersetzten Roman eine unerschütterliche Leichtigkeit, die hilft, die Abgründe dieser Erzählung einigermaßen unbeschadet zu überstehen. So verliert man als Leser:in nie die Zuversicht, dass sich diese Geschichte nicht doch zum guten wendet.
Dazu tragen auch einige Figuren bei, die sich im Laufe des Romans zu den Konstanten in diesem haltlosen Leben entwickeln. Da sind zum einen die Peggots, dieser über die Appalachen verteilte Clan, die ihr Herz auf der Zunge und am rechten Fleck tragen. In dieser ebenso liebevollen wie eigenwilligen Verbindung verneigt sich Kingsolver vor dem Gemeinschaftssinn der Menschen, in deren Mitte sie seit Jahren lebt. Zum anderen ist es Angus, die Tochter von Coach Winfried, der Angus bei sich aufnimmt. Zu ihr wird Demon ein inniges und vertrauensvolles Verhältnis aufbauen, dass auch so manche Teenagerkrise übersteht. Später wird es dann eine ehemalige Lehrerin sein, die den Heranwachsenden mit Rat und Tat unterstützt.
Vorher aber öffnet sich für den Teenager ein Tor der Hoffnung, denn Coach Winfried findet für den robusten Jungen nicht nur einen Platz an einer guten Schule, sondern entdeckt auch dessen Talent auf dem Spielfeld. Das führt dazu, dass er den Jungen nicht nur für ein paar Wochen bei sich aufnimmt, sondern in Aussicht stellt, dass er bleiben darf, sollte er es bis ins Team der Generals schaffen. Für Demon bietet sich die Chance, sich seine Existenz zu sichern, und er packt sie beim Schopf. Er wird zu einem der angesehensten Spieler auf dem Feld und zum Mädchenschwarm seiner Schule.
Kingsolver hätte mit »Demon Copperhead« im vergangenen Jahr aber nicht (neben Hernan Diaz) den renommierten Pulitzerpreis und den Womens Prize for Fiction gewonnen, wenn sie den Roman hier nun hoffnungsvoll auslaufen lassen würde. Demons Intermezzo als vielversprechender Footballspieler ist nur der Auftakt eines Dramas, in dem sich der Niedergang des Mittleren Westens in anderer Form in seinen Körper schreibt. Bei einem Spiel verletzt er sich schwer, ab diesem Moment taucht er in die Welt des Schmerzes und seiner Betäubung ein. Denn statt einer Knie-Operation, die ihn möglicherweise aus dem Team und damit auch aus dem Haus von Coach Winfried gekegelt hätte, greift Demon mit der Hilfe eines windigen Arztes zu Painkillern, die »nach Erlösung« schmecken.
An Oxycodin war schon seine Mutter zugrunde gegangen, nun scheint es an Demon, ihrem Schicksal zu folgen. Denn ohne OP wird der Schmerz zu seinem täglichen Begleiter, den er nur mit der »heiligen Dreifaltigkeit« aus Oxy, Soma und Xanax in seine Schranken weisen kann. Der Roman schreibt sich hier in die frühen 2000er Jahre ein, als die weltweite Opioidepidemie in den USA ihren Anfang nahm.
Kingsolvers beißende Gesellschaftskritik zeigt am Beispiel von Demon und seinem Umfeld auf, wie ein nicht-funktionierendes Gesundheitssystem und skrupellose Ärzte eine ganze Gesellschaft in die Abhängigkeit führten. Die Rolle von Purdue Pharma und dem Sackler-Konzern schimmert dabei immer wieder am Rand auf (wer das vertiefen will, lese Patrick Radden Keefes Sachbuch »Imperium der Schmerzen« oder sehe sich Laura Poitras preisgekrönte Dokumentation »All the Beauty and the Bloodshed« an), im Kern aber wahrt Kingsolver über ihren Helden den individuellen Zugang zu Sucht und Abhängigkeit.
Kingsolver stellt ihren Helden nicht einfach als Opfer der Verhältnisse dar, sondern als komplexe Figur, der ein innerer Halt fehlt. Denn so wie die Auslieferung eines Kindes an ein Pflegesystem von Passivität geprägt ist, ist das Befriedigen einer Sucht – die »Jagd nach dem Drachen«, wie es im Roman heißt – vom eigenen Handeln getrieben. Bekam Demon die Schmerztabletten anfangs noch von einem Arzt verschrieben, wird er sich mit seiner Freundin Dori bald bei den Medikamenten ihres im Sterben liegenden Vaters bedienen. Irgendwann ist er sogar bei einem amateurhaften Raubzug dabei, den Ausgang kann man sich denken. Die helfenden Hände, die sich ihm bieten, schlägt er so lange aus, bis er sich in dem Elend wiederfindet, aus dem er kam. Hier setzt die Coda dieses Romans ein, die Dickens Geschichte von einem Niemand, der zu einem Jemand wird, in einer hoffnungsvollen Wende die Gegenwart hebt.
»Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet, und dazwischen trotzdem so viel verliert«, erkennt Demon, als einer seiner Freunde stirbt. Barbara Kingsolvers packender und immer wieder bedrückender Roman handelt von den vielen Verlusten, die man im Leben erleiden kann. Sie gibt den Menschen ganz unten in einer Gesellschaft, die meist übersehen und oft missverstanden werden, ihre Würde und Menschlichkeit zurück.