Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse unter dem Vorsitz von Insa Wilke versteht es einmal mehr zu überraschen. Unter den 15 nominierten Titeln sind auch ein Comic und ein Hörbuch. Die Frühjahrsprogramme fielen bei der Jury weitestgehend durch.
Oh, man hört schon das Stöhnen in den Kulturredaktionen der Republik. Ist das überhaupt noch ein Literaturpreis? Geht es der Jury noch ums Lesen oder um eine breite Bewerbung der Verlagslandschaft? Und was ist eigentlich mit den Frühjahrstiteln? Können da wirklich nur drei mit dem letzten Herbstprogramm mithalten? Es sind Fragen wie diese, die sich beim Blick auf die 15 Titel, die am 21. März um den Preis der Leipziger Buchmesse konkurrieren, die:der ein:e oder andere Literaturredakteur:in stellen wird.
Tatsächlich ist die Dominanz der Herbsttitel auffällig. In der Belletristik hat es nur ein Titel aus den Frühjahrsprogrammen unter die Nominierten geschafft, in der Sparte Sachbuch/Essayistik sind es zwei, bei den Übersetzungen wusste offenbar kein Frühjahrstitel zu überzeugen. Auch die stilistische Vielfalt lässt aufhorchen. Von der Lyrik bis zum Text-Bild-Essay, vom Hörbuch bis zum Comic ist alles dabei. Der Suhrkamp Verlag ist mit jeweils einem Titel in jeder Kategorie am stärksten vertreten, gefolgt von Hanser mit zwei Titeln. Sechs nominierte Titel stammen aus unabhängigen Verlagen. Neun nominierten Frauen stehen fünf Männer und ein Herausgeber-Kollektiv gegenüber.
Die Jury scheut erneut nicht die Kontroverse, wenn sie Genregrenzen bewusst zur Seite legt und den Begriff des Literarischen weitet. So ist wie schon im letzten Jahr ein Comic unter den 15 vorausgewählten Titeln. Nach Birgit Weyhe ist Anke Feuchtenberger die zweite Comickünstlerin, die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wird. In der Kategorie Belletristik ist ein Comic ein Novum. Feuchtenbergers bildgewaltige autobiografische Erzählung »Genossin Kuckuck« ist in der Kategorie Belletristik nominiert. »Ein Comic, der dem autofiktionalen Genre eine derartige Ästhetik abgewinnt – das ist ein Novum in der deutschsprachigen Literatur«, begründete die Jury die Nominierung. Wolf Haas, bekannt für seine Brenner-Krimis, ist mit seinem viel gelobten Roman »Eigentum« nominiert. Auch er verfolgt einen autobiografischen Ansatz, schreibt über seine Mutter und das liebe Geld. Neben ihm sind die beiden Debütantinnen Dana Vowinckel und Inga Machel für den Preis nominiert. Vowinckels Roman »Gewässer im Ziplock« war für den aspekte Literaturpreis nominiert. Darin geht sie anhand der Figuren einer zerbrochenen deutsch-jüdischen Familie der Frage nach, ob Jüdinnen und Juden noch in Deutschland leben können? Für mich eines der besten Debüts des letzten Jahres. Inga Machels »Auf den Gleisen« ist vor wenigen Wochen erschienen. Darin erzählt sie die Geschichte einer gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung und die Bewältigung von Trauma und Trauer. Die in Wien lebende Autorin Barbi Markovic schließt den Kreis der nominierten deutschsprachigen Belletristiktitel. In ihren Erzählungen »Minihorror« geht es die großen und kleinen Albträume des Mittelstands, den Horror des perfekten Familienfrühstücks, um Mobbing am Arbeitsplatz und gescheiterten Urlaub, um den Abgrund, der sich im Alltag öffnet.
Bei so viel Rückgriff auf das Herbstprogramm ist durchaus überraschend, dass es Titel wie Thomas von Steinaeckers »Die Priviligierten«, Judith Zanders »im ländchen sommer, im winter zur see« oder Maja Haderlaps »Nachtfrauen« nicht unter die fünf nominierten Titel geschafft haben. Auch nie neuen Romane von Iris Wolff, Jan Koneffke, Bodo Kirchhoff, Ronya Othmann, Deniz Ohde oder Dana Grigorcea konnten nicht überzeugen. Die Jury hat offenbar mehr Wert auf die kleinen Momente des Alltags als auf den großen Roman gesetzt. Gut möglich, dass der Preis der Leipziger Buchmesse unter der Juryvorsitzenden Insa Wilke aus der Konkurrenz mit dem Deutschen Buchpreis um den Roman des Jahres tritt und auf andere, kleinere, alternative belletristische Linien setzt.
In der Kategorie Übersetzung fand die Jury keine überzeugenden Texte aus den Frühjahrsprogrammen. Stattdessen griff sie auf den Herbst zurück und nominierte fünf Titel, die von Beat-Poesie bis Kriegsbericht reichen. Bora Chungs »Der Fluch des Hasen« war für den National Book Award nominiert und stand auf der Longlist des Booker Prize. Die viel besprochene Übersetzung aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee konkurriert jetzt neben Lisa Palmes Übersetzung von Joanna Bators Roman »Bitternis« um den Leipziger Übersetzerpreis. Mit der Übersetzung von Goran Vojnovics Roman »18 Kilometer bis Ljublana« ist auch der letztjährige Ehrengast der Frankfurter Buchmesse Slowenien in Leipzig prominent vertreten. Klaus Detlef Olof hat die Übersetzung dieses rasant-spielerischen Romans beigesteuert. Neben ihm ist der Lyriker und Übersetzer Ron Winkler für seine Übersetzung ausgewählter Gedichte von Lawrence Ferlinghetti nominiert. In »Angefangen mit San Francisco« lässt er die Worte über die Seiten springen und fließen, um den Rhythmus des Beat-Poeten ins Deutsche zu holen. Ebenfalls überraschend nominiert sind die Berichte aus dem Ukraine-Krieg, die Jennie Seitz aus dem Russischen von Katerina Gordeeva übersetzt hat. »Nimm meinen Schmerz« versammelt 24 Geschichten, die die Trägerin des Internationalen Anna-Politkowskaja-Journalistenpreises auf Basis von Interviews verfasst hat. »Die Übersetzung entwickelt eine beeindruckende literarische Ausdruckskraft, um Angst und Schmerz zu dokumentieren«, urteilte die Jury.
In der Kategorie Sachbuch stehen aktuelle politische Debatten im Vordergrund, aber auch historische Fragen. Überraschend ist zweifelsohne der Mut der Jury, mit dem Hörbuch »Jahrhundertstimmen 1945-2000 – Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen. Jahrhundertstimmen II« einen Titel zu nominieren, der lesend gar nicht zugänglich ist. Herausgegeben von Christiane Collorio, Ines Geipel, Ulrich Herbert, Michael Krüger und Hans Sarkowicz versammelt das 40-stündige und für den Deutschen Hörbuchpreis nominierte Hörbuch Gespräche, Reden und Mitschnitte von Figuren des öffentlichen Lebens wie Konrad Adenauer, Hans-Werner Richter, Nelly Sachs, Anna Seghers, Willy Brandt, Christa Wolf und vielen anderen. Für die Jury mehr als eine beeindruckende editorische Leistung. Die Aufnahmen fügen dem »historischen Bewusstsein eine neue Dimension hinzu: die auditive« und tragen so »zur notwendigen Bestandsaufnahme dessen bei, was war«, begründet sie die Nominierung. Spannend hingegen die Nominierung von Tom Holerts Text-Bild-Essay »„ca. 1972” Gewalt – Umwelt – Identität – Methode« und von Christina Morinas »Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren« hinsichtlich einer kritischen Analyse der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland von den 1970er Jahren bis hin zur Wende. Jens Beckert widmet sich in »Verkaufte Zukunft« der Frage, warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht und Christina Clemm zeigt in ihrem ebenso bedrückenden wie wichtigen Buch »Gegen Frauenhass«, wie allgegenwärtig misogyne Gewalt ist.
Insgesamt wurden 486 Buchtitel eingereicht, bis zum 21. März können die 15 nominierten Buchtitel nun gelesen und kommentiert werden. Am Eröffnungstag der Leipziger Buchmesse findet um 16 Uhr die 20. Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Glashalle statt.
[…] Preis der Leipziger Buchmesse: Von Comic bis Hörbuch […]
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