Allgemein, Biografie, Literatur, Roman, Sachbuch

Eine Verbeugung vor den Frauen

»Unser Deutschlandmärchen« von Dinçer Güçyeter erhält den Preis der Leipziger Buchmesse. Die Buchszene jubelt über die Auszeichnung des beliebten Dichterverlegers mit dem wichtigsten Buchpreis des Frühjahrs, favorisiert waren zwei andere Kandidatinnen. Außerdem wird Regina Scheer für ihre Biografie der linken Intellektuellen Hertha Gordon-Walcher und Johanna Schwering für ihre Übersetzung von Aurora Venturinis Roman »Die Cousinen« ausgezeichnet.

»Es hat verdammt lange gedauert«, sagte Messedirektor Oliver Zille zu Beginn der Preisverleihung. Nach drei Jahren Corona-Pause findet die Messe erstmals wieder in Präsenz statt. Auch der Preis der Leipziger Buchmesse wurde erstmals wieder in vollen Messehallen vergeben.

Fünfzehn Bücher stellte die Jury in den letzten Wochen ins Schaufenster, über die viel diskutiert wurde. Es seien nicht die besten Bücher, sondern »Bücher, von denen wir denken, dass sie wichtig sind in unserer Zeit«, erklärte Juryvorsitzende Insa Wilke. In ihren einleitenden Worten nahm sie möglicher Kritik an den Entscheidungen den Wind aus den Segeln. »Wir lesen alle mit unseren Vorurteilen und Prägungen«. Es gehe beim Lesen nicht darum, möglichst viele Erkenntnisse zu gewinnen, sondern sich auf einen Text einzulassen. Wem die Entscheidungen nicht schmecken, der hat sich womöglich nicht genug eingelassen, könnte man daraus ableiten. 

Die Jury lenkt unseren Blick auf das Schicksal von übersehenen Frauen in unterschiedlichen Zeiten und Umständen, was angesichts der vielfältigen Auswahl – von Klimawandel über Liberalismus bis hin zu Rassismusdebatten – bemerkenswert ist. Wie schon im vorigen Jahr bemüht sich das Gremium um Insa Wilke offenbar darum, mit der Preisvergabe eine schlüssige Geschichte zu erzählen. Nach der Übersetzung in 2022 ist diese Geschichte in diesem Jahr dem Feminismus gewidmet.

Preis der Leipziger Buchmesse


Den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhält Dinçer Güçyeter für seinen autofiktionalen Roman »Unser Deutschlandmärchen«. Sein Roman sei »eine Verehrung und Verbeugung vor allen Frauen – in der Fabrik, in den Bordellen, all den hart arbeitenden Frauen«, sagte Güçyeter in seiner Dankesrede. Das Prosadebüt des Dichters, Verlegers und Gabelstaplerfahrers ist ein wort- und bilderstürmender Roman über (s)eine türkische Einwandererfamilie, über den ich mit ihm bereits im Herbst 2022 ausführlich sprechen konnte.

Mit der Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geht die außergewöhnliche Erfolgsgeschichte von Dinçer Güçyeter weiter. 2011 hatte der Gabelstaplerfahrer vom Niederrhein mit einem Euro seinen Elif-Verlag für »unwahrscheinliche Lyrik« gegründet. Zu den dort publizierten »poetischen Positionen, die das Feld vom Rand her aufrollen«, gehören auch Güçyeters eigene Gedichte, etwa der Band »Mein Prinz, ich bin das Ghetto«. Für den erhielt er bereits im vergangenen Jahr die wichtigste Auszeichnung deutschsprachiger Lyrik, den Peter-Huchel-Preis. Morgen erhält der Verleger Güçyeter noch den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung.

Favorisiert für den Preis der Leipziger Buchmesse war der Dichterverleger vom Niederrhein nicht, in der Branche galten Ulrike Draesner und Angela Steidele mit ihren neuen Romanen als erste Anwärterinnen auf den Preis.

Dinçer Güçyeter war nach der Preisverleihung viel gefragt.

Güçyeter sieht sich als Teil einer neuen Generation von Autor:innen und Publizist:innen, die mit Hierarchien und Macht anders umgeht, die Freude teilt und Gemeinsamkeit lebt. Deshalb holte Güçyeter als erster Leipziger Preisträger neben seiner Frau Ayse, die ihn immer wieder ermunterte, zu schreiben, auch seine Schriftsteller-Kolleg:innen auf die Bühne, die neben ihm nominiert waren. So wurde aus seinem Preis »unser Preis«. Eine tolle Geste, die zu dem sympathischen und in er Literaturszene überaus beliebten Dichterverleger passt.

»Traditionell wie innovativ queer erzählt, reißt einen diese Einwanderergeschichte mit ihrer Emotionalität und großen politischen Bedeutung von Anfang an mit. Der Roman blickt auf deutsche und europäische Verhältnisse, lässt die Worte zum Himmel fliegen, spart aber gleichzeitig die Demütigungen am Boden nicht aus«, so die Begründung der Jury.


Der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung geht an die 1981 geborene Lateinamerikanistin Johanna Schwering, die den eigenwilligen Coming-of-Age-Roman »Die Cousinen« der argentinischen Autorin Aurora Venturini entschlossen gegen die sprachliche Korrektheit übersetzt hat. Aurora Venturini hat 60 Jahre lang unter dem Radar geschrieben. Im Alter von 85 Jahren hat die argentinische Schriftstellerin mit diesem Roman im Jahr 2007 ihr preisgekröntes Debüt vorgelegt, das in all seiner eigensinnigen Pracht dank der im besten Sinne entschlossen-befleckten Übersetzung nun auch hier zu entdecken ist.

Der deutsche Text liegt nahezu ohne Punkt und Komma, mit Schreibfehlern und Auslassungen vor dem Auge. Der Grund ist simpel: Rechtschreibung und Grammatik lassen die stotternde Erzählerin ohnehin nur stolpern. Also weg mit den Feinheiten. So macht sich Yuna frei von den gesetzten Grenzen von Welt und Sprache, erobert sich über die Malerei neue Sphären und mithilfe von Wörterbüchern eine ganz eigene Redegewandtheit.

Große Freude bei Johanna Schwering, die in den Augen der Jury die beste Übersetzung vorlegte

Die Jury begründet die Auswahl mit Schwerings die Unverschämtheit des Originals aufgreifender, im besten Sinne eigensinniger Übersetzung: »Schmuddelliese – Worte, die wir längst vergessen glaubten – zaubert Schwering wieder ans Licht oder führt neue ein, die noch nie gehört auf Anhieb einleuchten: Stilletümpel. Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz.«

Aurora Venturinis Roman »Die Cousinen«, kürzlich auf Platz 1 der Weltempfänger-Bestenliste gehoben, ist eine Art moderner feministischer Klassiker, voller kranker, besessener und misshandelter Frauen, die allzu schnell den Stempel des Anormalen erreicht, wie man es zuletzt auch in Christina Morales »Leichte Sprache« lesen konnte. Hier blickt eine scharfsinnige Frau auf ihr Leben und ermächtigt sich ihrer Sprache und Geschichte, um der sie umgebenden Gewalt zu entkommen.


Der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik geht an Regina Scheer für ihre aus den eigenen Erinnerungen an Gespräche und Begegnungen evozierende Biographie der jüdischen Intellektuellen Hertha Gordon-Walcher. Scheer freute sich, dass damit einer der vielen vergessenen Frauen aus der linken Bewegung eine Bühne bekommt. In verschiedenen Mediengesprächen betonte Scheer immer wieder die Bedeutung dieser Frauen in diesen Kreisen, auch wenn und gerade weil sie meist den Männern den Rücken freigehalten haben.

Scheer verwebt meisterlich und transparent Aufzeichnungen und Erinnerungen. Ein »Gedächtnisbuch, das um die Unzulänglichkeiten unserer Erinnerungen weiß«, hieß es bei der Preisvergabe. Ob und wenn ja, wie gut dieses biografische Schreiben aus der Erinnerung und dem nachgereicht produzierten Zettelkasten funktioniert, kann der Autor nicht beurteilen. Der Ansatz selbst ist zumindest ungewöhnlich, belegt aber, dass auch jedes Sachbuch ein geistiges Produkt ist.

Kaum ausgezeichnet, war Regina Scheer als Autogramm-Geberin gefragt

Regina Scheer zeichne das außergewöhnliche wie exemplarische Leben von Hertha Gordon-Walcher nach und erzähle eine Chronik der sozialistischen und feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. »Bittere Brunnen« gehe dabei weit über eine gewöhnliche Biographie hinaus, so die Jury.

»Meisterlich und transparent verwebt die Autorin historische Recherchen mit persönlichen Erinnerungen. Geholfen hat ihr dabei ihr meisterliches Gedächtnis, mit dem sie Stück für Stück eine Sammlung erstellte. Dieses erzählende Sachbuch steht für große Offenheit im Umgang mit Brüchen, Ungereimtheiten und Leerstellen unseres Wissens um Lebensläufe – und ist eine genaue Dokumentation politischer Zusammenhänge, deren Spuren die Gegenwart prägen.«

5 Kommentare

  1. […] »Wenn jemand spricht, wird es hell«, schreibt Ulrike Draesner am Ende ihres neuen Romans »Die Verwandelten«, der neben dem aktuellen Roman »Monde vor der Landung« von Büchner-Preisträger Clemens J. Setz, dem autofiktionalen Roman »Unser Deutschlandmärchen« von Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter, dem neuen Roman der aktuellen Klopstock-Preisträgerin Angela Steidele »Aufklärung. Ein Roman« sowie Joshua Groß’ SciFi-Heimat-Klimawandel-Roman »Prana Extrem« im Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse war. Gewonnen hat schließlich Dinçer Güçyeter, über dessen Auszeichnung sich nicht nur die ganze Branche, sondern auch seine Mitnominierten freute… […]

  2. […] neben mit seiner autobiografisch motivierten Familiensaga »Unser Deutschlandmärchen« beim Preis der Leipziger Buchmesse. Nicht einmal ein Jahr zuvor war er mit dem Peter-Huchel-Preis für seinen Lyrikband »Mein Prinz, […]

Kommentare sind geschlossen.