Dinçer Güçyeter hat im Juni mit dem Peter-Huchel-Preis die wichtigste Auszeichnung für deutsche Lyrik erhalten. Nun legt er mit »Unser Deutschlandmärchen« einen wort- und bilderstürmenden Roman über (s)eine türkische Einwandererfamilie vor. Ein Gespräch über schriftstellerische Abenteuer, proletarische Schreibschulen und ausgezeichnete Lyrik.
Herr Güçyeter, bislang waren Sie als Lyriker aktiv. Nun erscheint Ihr erster Roman? Wie kam dieses aus vielen Texten montierte Werk zu Ihnen?
In der Hinsicht wurde ich im Leben immer reich beschenkt. Diese Texte begleiten mich seit meiner Kindheit: die Lieder, die Märchen, Geschichten und Anekdoten, die mir die Frauen aus der Familie erzählt und gesungen haben. Das alles hinterlässt natürlich eine tiefe Spur. Die Frage war nur, ob meine Sprache reif genug war, um diese ganzen Elemente gerecht zusammenzuknüpfen. Vor drei Jahren schrieb meine Verlegerin Nikola Richter, ob ich nicht ein Buch für ihren Verlag Mikrotext schreiben möchte. Ab diesem Moment fing das ringen-jonglieren an. Die Schubladen mit allen Notizen wurden leergeräumt und auf den Schreibtisch gebracht, Fotos aus den 70ern und 80ern sowie neue Gespräche mit meiner Mutter. So kam es zu diesem Text.
Ihrem Roman vorangestellt ist der Satz »Vater, Mutter, wohin jetzt mit mir«. Was hat es damit auf sich?
Als meine Eltern 1965 im Zug nach Deutschland saßen, ging die Frage »Wohin jetzt mit uns?« oft durch den Kopf. Als ich meinen Beruf als Werkzeugmechaniker aufgegeben und die Literaturbranche betreten habe, stellte ich mir die gleiche Frage: »Wohin mit mir, traust du dir das wirklich zu?« Vor jeder Epoche stellt man sich doch immer diese Frage. Auf der einen Seite, will man sich diese neue Reise trauen, auf der anderen Seite ist immer Angst und Zweifel versteckt.
Wenn dieser Roman eine Art Aufbruch ist, wohin machen Sie sich damit auf den Weg? Was ist das für ein Abenteuer?
Ich habe versucht, alle Einstellungen im Kopf und im Inneren zu deaktivieren und soweit es geht unter die Haut zu schauen. In Zukunft will ich versuchen, mehr von diesen Masken, Schutzhauben abzulegen. Ob es mir gelingt? Keine Ahnung. Dieser Auftritt als Romanautor ist für mich ein neuer Weg. Bis zum heutigen Tag war es eine Reise mit Überraschungen, Ängsten, Euphorien, eine seltsame Mischung mit Höhen und Tiefen. Was ab jetzt kommt, werden wir gemeinsam sehen. Im Gedicht »Im Jahr 1983, Deutschland«heisst ist die letzte Zeile: »Wir fahren bis der Tank leer ist, brumm, brummm, brumm!«
»Zwischen Himmel und Erde haben sich Millionen Geschichten aufgestapelt. Du versuchst jetzt, einen Bruchteil davon aufzuschreiben, schön«, gibt Dinçer Güçyeters Mutter vielsagend in dessen autofiktionalen Roman zu Protokoll. Das großartige Prosadebüt des im Sommer mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichneten Autor-Verlegers und Gabelstapler-Fahrers ist aus vielen Stimmen zusammengesetzt, die packend erzählen, hymnisch singen und poetisch reimen. Ihre Geschichten unterhalten und bewegen. Sie handeln von schwanzgesteuerten Säufern und starken Frauen, von türkischer Musik und rechter Gewalt, Hilfsjobs und dem Bordell als Schreibschule. Ob das Klassen- oder Migrantenliteratur ist, ist völlig egal. »Der Sattel ist unwichtig. Wichtig ist, wie der Esel ihn trägt«, wusste schon Güçyeters Großmutter.
Sie erzählen dieses »Deutschland-Märchen« aus verschiedenen Perspektiven. Wie haben Sie zu der vielperspektivischen Form gefunden, die Prosa und Lyrik miteinander verbindet.
Das Konzept war ein Mutter-Sohn Duett. Sie erzählt mir ihre Geschichte von der Ägäis bis nach Niederrhein und ich versuche meine Fragen, meine Empfindungen ins Gespräch zu bringen. Zwei Generationen, die mit eigenem Blick auf das Geschehene schauen. Es gibt auf fünf Seiten Gedichte, zwei Kapitel sind wie Szenen aus einem Theaterstück aufgebaut. Es gibt Lieder, Chöre. Man kann es auch wie haute couture sehen, für jedes Bild wurde das passende Kostüm geschneidert. Über die Form habe ich mir deshalb weniger Gedanken gemacht. Ich denke, die jüngere Generation in der Literatur wird genauso mit der Form umgehen, die Grenzen können ruhig übersprungen werden. Wichtig ist doch, ob man mit dem Ausdruck bei Leser:innen etwas bewegt.
Insgesamt wandeln Sie auf dem schmalen Grat zwischen Autobiografie und Roman, begleitet durch dokumentarische Fotografien. Wo kippt die Erinnerung in Autofiktion? Oder ist jede Erinnerung schon eine Fiktion?
Schwere Frage. Ich beantworte diese Frage mit einem Zitat aus dem Roman: »Wir werden das Vergangene mit dem Kommenden verbinden und unser eigenes Märchen schreiben, Mutter. Der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, ist oft schwieriger, als den Salzsack auf den Berggipfel zu tragen. Vielleicht will ich deswegen unsere Geschichte Märchen nennen, nicht um die Wahrheit zu kaschieren, nein, nur um auf deine ewig eiternde Wunde ein wenig Heilerde zu streuen.«
Sie sind in der Kneipe Ihres Vaters großgeworden. Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?
Im Roman wird von zwei Welten erzählt. Die Kneipe meines Vaters und der Werkzeugbau in der Fabrik. Beide Welten waren von Männern dominiert. Auch wenn ich selber nicht zu sehr maskulin veranlagt war, habe ich meine längsten Jahre in diesen Welten verbracht. Insbesondere die Kneipe war mein »Moulin Rouge«, dort gab es viele Hinterzimmer mit Spielern, Schmugglern und Prostitution. Und natürlich die riesengroße Küche, wo ich mit Mutter Freitags die Frikadellen für das Wochenende zubereitet habe. Ab Freitag war die Kneipe immer voll mit 300 Männern. Natürlich habe ich aus dieser Zeit viele Eindrücke in meine Gegenwart getragen, einige davon findet man im Roman.
Die Männer kommen in Ihrem Roman nicht gut weg, sind durstige, schwanzgesteuerte Typen. Die Frauen hingegen sind die, die sich um alles kümmern. Hadern Sie manchmal mit Ihrer Männerrolle?
Immer. Mein Glück war, dass meine Frau mich so akzeptiert hat wie ich bin. Besonders wenn ich an Texten, an meinen Figuren arbeite, bin ich ganz weit weg, was Geschlecht, Identität und Charakter angeht. Eigentlich wie bei allen anderen Kolleg:innen auch. Schreiben ist ja auch eine Schauspielkunst. Du musst ganz frei von allen aufgetragenen Rollen sein, um etwas Neues schöpfen zu können.
Es ist Ihnen also leicht gefallen, Frauenperspektiven zu schreiben?
Neben der von Männern dominierten Welt lebte ich auch sehr eng mit Frauen: Oma, Mutter, Tanten. Wie in dem Film »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« von Pedro Almodovar. Sie waren meine Dark-Queens. Auch ihre Stimmen haben bei mir feste Wurzeln geschlagen. Deshalb fiel mir das überhaupt nicht schwer.
»Kommt Tag, kommt Lösung« ist eine der pragmatischen Perspektiven, die in der Perspektive Ihrer Mutter anklingen. Welche Bedeutung hat Ihre Mutter für Sie und was macht Sie aus?
Diese Perspektive steuert auch ganz gut den Überlebenstrieb. Wissen Sie, mein Vater hat immer wieder versucht, Geschäfte zu machen. Mal hat er Nähmaschinen und Knoblauchwurst aus der Türkei exportieren lassen, mal stand er an der Theke. Aber im Grunde war er der schlechteste Geschäftsmann der Welt. Trotz allem hat es meine Mutter geschafft, seine ganzen Schulden abzuzahlen, mich und meinen Bruder großzuziehen und fremden Menschen – Flüchtlingen und neuen Einwanderern – Räume anzubieten. Sie kam aus der Fabrik, trank ihren Kaffee im Hof und fuhr nach 15 Minuten mit dem VW-Bus zur Feldarbeit. Auf dem Cover sehen sie einen Moment aus diesen 15 Minuten. Sie war und ist heut noch für mich eine Person, die weiß, wie man aufsteht und weiterkämpft.
Der Dinçer im Roman begegnet als Kind erstmals der Lyrik, als er Briefe einer Prostituierten aus dem Knast vorliest, die immer mit einem Gedicht endeten. Später heißt es, dass das Bordell des Onkels zur ersten Schreibakademie wurde. Wie viel haben diese Rotlicht-Anekdoten wirklich mit Ihnen und Ihrem Schreiben zu tun?
Tatsächlich gab es dieses Bordell »Jaguar« in Bracht. Dort habe ich auch die schönsten Momente meiner Kindheit erlebt. Die Frauen dort waren für mich Ersatz für die abwesende Mutter. Mit ihnen war ich oft Pommes essen. Die schönsten Geschenke habe ich von diesen Frauen bekommen, zum Beispiel meinen ersten Füller. Meine Dankbarkeit ist heute noch grenzenlos. Später durfte ich an den Wochenenden in diesem Etablissement sauber machen und so mein Taschengeld verdienen. So hatte ich immer genug Geld für neue Musikkassetten. Es ist ein Milieu, wo es außer Arbeitszeiten eine sehr familiäre Atmosphäre herrscht.
Apropos Musikkassetten: Ursprünglich wollten Sie Songtexte schreiben, jetzt sind es Gedichte geworden. Was unterscheidet denn einen guten Songtext von einem guten Gedicht?
Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil ich noch nie professionell an einem Songtext geschrieben habe. Aber sie haben recht. Der Traum als Jugendlicher war, dass meine Texte vertont und von Sängerinnen wie Sezen Aksu, Nina Hagen oder Ulm Kulthum unter Lichtern gesungen werden. Wer weiss, vielleicht geht auch dieser Traum eines Tages in Erfüllung.
Die türkische Musikkultur spielt in Ihrem Roman eine wichtige Rolle. Gerade läuft der Dokumentarfilm »Liebe, D-Mark und Tod« von Cem Kaya in den Kinos. Wieviel Ihrer eigenen Kindheit und Jugend kam da beim Schauen hoch?
In meinem Roman gibt es eine sehr persönliche Playlist, die meine Bilder begleitet. Im Oktober habe ich die Gala in Düsseldorf besucht und Cem Kaya kennengelernt. Die Szenen aus dem Film sind mir natürlich sehr bekannt. Es gibt aber einen Punkt im Film, der nicht so ganz stimmt. Weil ich es auch dem Regisseur gesagt habe, kann ich es hier offen erwähnen. Die türkischen Musiklabels und Produzenten in Deutschland werden wie Held:innen dargestellt. Sie waren aber eher Zuschuss-Firmen, die viel versprochen aber im Grunde den naiven Glauben der Menschen missbraucht haben. Für die Produktion einer Kassette haben die 40-50 Tausend D-Mark eingenommen, standen aber nie hinter diesen Sänger:innen. Viele haben für Ruhm und Ehre ihr ganzes Vermögen ausgegeben und standen später enttäuscht wieder an der Maschine in der Fabrik. Besonders die Szenen in Clubs und auf Hochzeitsfeiern fand ich im Film sehr originell. Und natürlich das Gespräch mit Erci E von der Hiphop-Gruppe Cartel, die Mitte der Neunziger ein großes Geschenk an die Jugend in Deutschland war. Durch Cartel hatte ein Teil der perspektivlosen Generation wieder die Hoffnung, dass sie im Leben etwas erreichen können. Allein über dieses Thema könnte man ein langes Gespräch führen.
Lassen Sie uns diesmal bei Ihrem Schreiben bleiben. Fällt es Ihnen leichter, ein Gedicht zu schreiben als einen Roman?
Mal ja, mal nein. Ich versuche aber beim Schreiben, egal in welcher Form, die Freude, die Spannung zu spüren. Ich bin dann auf einer Reise mit neuen Begegnungen und Entdeckungen. Der Schreibprozess ist eine Ausgrabung, bei der ich immer mehr in die Tiefe schauen möchte.
Als Künstler agieren Sie zwischen den Rollen des Romanciers, des Lyrikers, des Verlegers, des Schauspielers und Theatermachers. Wie stehen diese verschiedenen Rollen zueinander?
Sie speisen sich für mich aus der gleichen Quelle, folgen dem gleichen Instinkt: Ich will Menschen Geschichten erzählen, egal auf welchem Podium.
Sie arbeiten weiterhin nebenher als Gabelstapler-Fahrer, der Kontakt zu den einfachen Leuten ist Ihnen – sicher auch aus der Kneipen-Erfahrung mit Ihrem Vater – wichtig. Zugleich schreiben und verlegen Sie Gedichte, eine Form der Literatur, der ich jetzt nicht unbedingt zuschreiben würde, sie sei für einfache Leute gemacht. Wie passt das zusammen?
Wenn sie mit einfachen Menschen die Nicht-Bildungsbürger meinen, muss ich Ihnen widersprechen. Oft sind diese Menschen offener gegenüber Emotionen, Metaphern, Sprachbildern. Ich sage es auch ganz offen: Während des Schreibens an diesem Roman habe ich keine Minute an hohe Literatur oder Sprache gedacht. Ganz im Gegenteil, bewusst habe ich Pop eingebaut. Denn ich möchte, dass dieser Text auch eine Metzgerin, einen Dachdecker, den Hodscha in der Moschee aber auch die Nonne im Kloster anspricht. Literatur ist nicht nur Text für mich, mehr eine Kommunikation und dazu gehören mehrere. Deshalb auch »Unser Deutschlandmärchen«.
Sie haben in diesem Jahr den Peter-Huchel-Preis bekommen, den wichtigsten Lyrik-Preis des Landes. Wie verändert so ein Preis Ihre Position und Wahrnehmung als Autor und Verleger im Literaturzirkus?
Es hat natürlich eine ganz neue Verantwortung mit sich gebracht. Um so einen schönen Preis zu managen, braucht man viel Feingefühl. Allein schon aus Respekt vor dem großen Lyriker Peter Huchel. Aber du darfst auch nicht den Boden unter den Füssen verlieren. Der neue Tag kommt mit neuen Pflichten. Das Leben geht weiter. Irgendwo hängen zu bleiben ist auch gegen die Natur des Schreibens. Die Freude und Ehre trage ich in mir, aber die Suche nach neuen Herausforderungen geht weiter. Was der Literaturzirkus darüber denkt ist für mich weniger interessant.
Was macht gute Lyrik in Ihren Augen aus?
Ich bin nicht der Lyrikpapst. Ich habe immer einen großen Respekt vor Kolleg:innen, die ihre Arbeit ernst nehmen.
Dann frage ich das anders: Wie entscheiden Sie als Verleger, welche Lyrik Sie verlegen?
Der ELIF VERLAG ist mehr eine Werkstatt als ein Verlag. Die Zusammenarbeit mit Autor:innen und Übersetzer:innen sehe ich als eine gemeinsame Reise. Allein der Text reicht manchmal nicht aus, auch die Chemie in der Kommunikation muss stimmen. Wenn man gemeinsam Pommes essen und Freude dabei hat, ist schon viel in der Kiste. Viele Lyrikerkolleg:innen leiten mir ihre Entdeckungen weiter. Ich selber bekomme Literaturzeitschriften, wo junge Stimmen vertreten sind, besuche Lesungen, Wettbewerbe. Mir ist es wichtig, die unterschiedlichsten Stimmen bei ELIF zu veröffentlichen. Der/die Dichter:in soll die Texte wie einen maßgeschneiderten Mantel tragen können. Ich glaube, darauf lege ich sehr viel wert. Aber jeder Verleger tickt ein bisschen anders.
Ich habe gehört, dass Sie das Wort »Migrationshintergrund« antiquiert und unpassend finden. Mir geht es ähnlich, zugleich ist so etwas wie eine »Migrantenliteratur« entstanden, die mehr und mehr Anerkennung findet. Braucht diese Literatur überhaupt ein Label und wenn ja, was wäre ein Passenderes?
Ganz einfach: Literatur! Ohne muffige, kitschige, altmodische Bedeutungen anzuhängen. Hier kann ich meine Oma zitieren: der Sattel ist unwichtig. Wichtig ist, wie der Esel ihn trägt.
[…] Peter Bender und dessen Hohlwelt-Theorie. Neben ihm ist der aktuelle Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter mit seinem autofiktionalen Roman »Unser Deutschlandmärchen« nominiert. Auch die aktuelle Klopstock-Preisträgerin Angela Steidele findet sich auf der Liste […]
[…] Für jedes Bild ein passendes Kostüm […]
[…] vergangenen Jahr gewannen Dincer Gücyeter mit seinem Roman »Unser Deutschlandmärchen«, Regina Scheer mit ihrer biografischen Rekonstruktion »Bittere Brunnen« und Johanna Schwering mit […]