Comic, Literatur, Sachbuch

Preis der Leipziger Buchmesse: Geschichte(n) als Spiegel der Gegenwart

Die Jury gibt die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse bekannt. Neben einem alten Bekannten finden sich einige echte Überraschungen unter den Nominierten. Nach den Indie- und Kleinstverlagen kann nun erstmals auch ein Comicverlag auf eine Auszeichnung hoffen.

Das ist mal eine Überraschung. Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse unter der Vorsitzenden Insa Wilke gelingt es erneut, zu überraschen. Eine erfrischende Auswahl an Titeln aus dem Herbst 2022 und dem Frühjahr 2023 legt sie zur Lektüre ans Herz. Dass dabei erstmals auch ein Comic um den wichtigsten Buchpreis des Frühjahrs konkurriert und eine Übersetzung aus einem erst vor drei Jahren gegründeten Klein-Verlag nominiert wird, belegt die Aufgeschlossenheit und Neugier der Juror:innen, die erfolgreiche Publikumsverlage wie Hanser, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch oder Fischerverlage außen vor gelassen haben. Dass etwa die neuen Bücher von Judith Hermann, Birgit Birnbacher, Arno Geiger und Julia Schoch oder das viel gelobte Debüt von Sarah Elena Müller nicht nominiert wurden, ist durchaus überraschend.

Belletristik

In der Kategorie Belletristik ist mit Clemens J. Setz und seinem neuen Roman »Monde vor der Landung« ein alter Bekannter nominiert. Der Büchner-Preisträger Setz erhielt 2011 für seine schaurig-schönen Erzählungen in »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes« den Leipziger Buchpreis. In seinem aktuellen Roman erzählt er die Geschichte des historischen Querdenkers Peter Bender und dessen Hohlwelt-Theorie. Neben ihm ist der aktuelle Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter mit seinem autofiktionalen Roman »Unser Deutschlandmärchen« nominiert. Auch die aktuelle Klopstock-Preisträgerin Angela Steidele findet sich auf der Liste wieder. Sie ist mit dem im vergangenen Herbst erschienenen Titel »Aufklärung. Ein Roman« im Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse. Dass der in das Leipzig von Johann Sebastian Bach und Johann Christoph Gottsched eintaucht, ist sicherlich kein Nachteil. Auch nominiert ist Ulrike Draesner mit ihrem Roman »Die Verwandelten«, in dem sie den Schicksalen einer deutsch-polnischen Familie nachgeht. Der Roman schließt nach »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« und »Schwitters« ihre Trilogie über Krieg, Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert ab. Die Liste der Nominierten wird von Joshua Groß und seinem aktuellen Roman »Prana Extrem« komplettiert, in dem er mit Motiven von Science Fiction und Heimatroman die Welt im (Klima)Wandel erfassen versucht. Eine spannende Auswahl, die nicht nur aktuelle Themen wie Diversität, Geschichte, alternative Weltsichten und Klimawandel aufgreift, sondern auch verschiedene Stile und schriftstellerische Herangehensweisen aufgreift. Im vergangenen Jahr erhielt Tomer Gardi für »Eine Runde Sache« den Preis für den besten Roman.


Sachbuch/Essayistik

In der Kategorie Sachbuch/Essayistik hat die Jury eine sensationelle Entscheidung getroffen, die Traditionalist:innen sicher aufstoßen wird. Mit Birgit Weyhes »Rude Girl« wird erstmals ein Comic für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Die in München geborene und in Hamburg lebende Zeichnerin wurde erst im vergangenen Jahr als Beste deutschsprachige Comiczeichnerin beim Comicsalon in Erlangen ausgezeichnet, der ihr Werk herausgebende avant-verlag erhielt erst vor wenigen Monaten den Berliner Verlagspreis. Was für eine Erfolgsgeschichte. In »Rude Girl« erzählt sie eine Geschichte von Fremdheit und Begegnung erzählt, von kultureller Aneignung und Annäherung. Neben ihr sind Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey für ihre Studie zur Politikverdrossenheit »Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus« sowie die taz-Journalistin Simone Schlindwein, die in ihrem Buch »Der grüne Krieg« der Frage auf den Grund geht, »wie in Afrika die Natur auf Kosten der Menschen geschützt wird – und was der Westen damit zu tun hat«. Darüber hinaus sind zwei Biografien nominiert. Zum einen Jan Philipp Reemtsmas tiefenschürfendes Porträt von Christoph Martin Wieland, dem er »Die Erfindung der modernen deutschen Literatur« zuschreibt, und Regina Scheers die eigenen Erinnerungen evozierende Biographie der jüdischen Intellektuellen Hertha Gordon-Walcher. 2023 wurde die Lyrikerin Uljana Wolf für ihren »Etymologischen Gossip« mit dem Sachbuch-Preis ausgezeichnet.


Übersetzung

In der Kategorie Übersetzung überrascht die Jury mit einer erfrischend abwechslungsreichen und jungen Auswahl. Mit der 1986 geborene Romanistin Katharina Triebner-Cabald, die den aufregenden Dekolonialisierungsroman »Vertraulichkeiten« des Kameruners Max Lobe in ein mitreißendes Pidgin-eingefärbtes Bassa-Deutsch übertragen hat, und der 1981 geborenen Lateinamerikanistin Johanna Schwering, die den eigenwilligen Coming-of-Age-Roman »Die Cousinen« der argentinischen Autorin Aurora Venturini entschlossen gegen die sprachliche Korrektheit übersetzt hat, bekommen zwei recht junge Übersetzer:innen die verdiente Aufmerksamkeit. Die Philologin Nicole Nau ist für ihre mitreißende Übertragung des lettischen Klassikers »Das Bett mit dem goldenen Bein« von Zigmunds Skujins nominiert. Außerdem können sich die mehrfach ausgezeichnete Lyrikerin Brigitte Oleschinski sowie die Trägerin des Deutschen Buchpreises von 2021 Antje Rávik Strubel Hoffnungen auf eine Auszeichnung machen. Oleschinski hat in bemerkenswerter Art und Weise die arabischen Gedichte der syrischen Lyrikerin Lina Atfah übertragen und nachgedichtet, Antje Rávik Strubel verwandelt das beredte Schweigen in Monika Fagerholms multiperspektivischer Aufarbeitung eines Verbrechens in ein dröhnendes Schweigen. Bei der letzten Ausgabe wurde Anne Weber für ihre Übersetzung von Cécile Wajsbrots Roman »Nevermore« aus dem Französischen ausgezeichnet.

Diese Auswahl beweist, dass die Jury ihre Arbeit gemacht hat. Leicht wäre es gewesen, zu den großen und voluminösen Titeln der großen Publikumsverlage zu greifen, denn auch da sind gewichtige Übersetzungen erschienen. Die elegante Übertragung von Mohamed Mbougar Sarrs Roman »Die geheimste Erinnerung der Menschen« von Holger Fock und Sabine Mülller oder Inge Uffelmanns vielstimmige Übersetzung von Wole Soyinkas Roman »Die glücklichsten Menschen der Welt« sind zwei Beispiele. Stattdessen aber haben sich die Literaturexpert:innen der Jury unter dem Vorsitz von Insa Wilke für eine gattungs- und genreübergreifende Auswahl entschieden, die aufregende Texte und ganz unterschiedliche Stile zur Diskussion stellt. Die Dominanz der Indieverlage belegt, dass sie sich dabei weder großen Namen noch von renommierten Häusern haben beeindrucken lassen.

Besonders die Leipziger Kulturwissenschaftlerin und dekoloniale Aktivistin Jona Elisa Krützfeld kann sich freuen. Ihr 2020 gegründeter akono Verlag dürfte der jüngste Verlag sein, der jemals mit einem Buch im Finale für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Erst im vergangenen Jahr wurde akono mit dem Sächsischen Verlagspreis ausgezeichnet, der für den Übersetzerpreis nominierte Roman »Vertraulichkeiten« von Max Lobe ist überhaupt erst das fünfte Buch, das in dem jungen Verlag erschienen ist.

Krützfeld schreibt auf der Website ihres Verlages über den Roman und die afrikanisierte Kunstsprache, »die der Volkssprache Bassa in Rhythmus, Redewendungen und Stilmitteln so nahe wie möglich kommt, ohne dabei künstlich zu wirken«. Dass die Jury auch Werke aus kleinen und relativ unbekannten Indie-Verlagen in den Blick nehme, bestärke sie, den oft mühsamen Weg des Verlegens weiterzugehen.


Diese Auswahl ist vielleicht auch ein Zeichen in die kriselnde Verlagslandschaft, in der diese Showrunner oft die Debatten dominieren. Der Suhrkamp Verlag und sein Imprint Insel ist mit drei Nominierungen der große Gewinner dieser Auswahl, der Penguin Verlag überrascht mit zwei Titeln.

»In diesem Jahr haben uns quer durch die Sparten die unterschiedlichen Ausdrucksformen fasziniert, mit denen einerseits Geschichte zum Spiegel gegenwärtiger Fragen wird und andererseits die unmittelbare Gegenwart befragbar und sichtbar wird in ihren Ambivalenzen und komplexen Konfliktlagen«, kommentierte die Vorsitzende der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse, die Kritikerin Insa Wilke, die Auswahl. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am 27. April im Rahmen des größten Branchentreffens im Frühjahr vergeben.

Sollte die Jury wie schon im vergangenen Jahr mit der Preisvergabe auch eine Geschichte erzählen wollen, dann bietet sich diesmal eine kleine Hommage an die Buchmessestadt Leipzig an. Nachdem die Messe dreimal aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste, wäre das durchaus ein Zeichen. Dann könnte sich Angela Steidele mit ihrem Leipzig-Roman »Aufklärung« und Katharina Triebner-Cabald mit ihrer Übersetzung von Max Lobes »Vertraulichkeiten«, erschienen beim Leipziger Indielabel akono, Hoffnungen machen.

5 Kommentare

  1. […] Ein Roman« sowie Joshua Groß’ SciFi-Heimat-Klimawandel-Roman »Prana Extrem« im Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse war. Gewonnen hat schließlich Dinçer Güçyeter, über dessen Auszeichnung sich nicht nur die […]

  2. […] Autoren wie Kim de L’Horizon, Daniel Schreiber, Peter Wawerzinek, Philipp Winkler, Deniz Utlu und Dinçer Güçyeter beteiligten. In dem von Donat Blum und Valentin Moritz herausgegebenen Band »Oh Boy« sollte eine […]

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