Literatur, Lyrik

Das Gewicht der Welt

Krieg, Klimawandel, Katastrophen. Ist diese Welt denn noch in Worte zu fassen? Die neuen Gedichtbände von Lina Atfah, Nico Bleutge und Marius Hulpe zeigen eindrucksvoll, dass die Poesie die Wirklichkeit deutlich besser und nachhaltiger in den Griff bekommt als die täglichen Nachrichten.

Lina Atfah ist 2014 aus Syrien geflohen und lebt seitdem in Wanne-Eickel. In ihrem Gedichtband »Grabtuch aus Schmetterlingen« kehrt sie nun »ohne Groll« zurück zur eigenen lyrischen Sprache, die sie über die Kriegsgräuel in ihrer Heimat fast verloren hätte. Sie verarbeitet die traumatischen Erfahrungen von Krieg und Flucht, Heimat- und Bedeutungsverlust. Es sind zum Teil schreckliche Bilder, die ihre Verse evozieren, wenn Kinder unter »Blutdecken« Gräuel überleben oder »gewaltige Feuer« über das lyrische Ich rollen. Atfah spielt aber auch mit Motiven, lässt arabische Prinzen vor dem Berliner Berghain stranden und reflektiert ihre Existenz als Frau bildgewaltig in der krisengeschüttelten Gegenwart.

Ob Corona oder Strukturwandel im Ruhrpott, die von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi betörend übersetzten und nachgedichteten Texte der syrischen Autorin lösen sich mehr und mehr von den arabischen Motiven, die noch ihren ersten Band »Das Buch von der fehlenden Ankunft« geprägt haben. Atfah, so liest man es aus diesen Texten, ist nach der Flucht – sicher auch durch die Einbindung in das Projekt Weiter.Schreiben – wieder bei sich und ihrer Sprache angekommen.

»Das Leben aber haucht dir sacht / unsterbliche Schönheit ein / zum Flug ins Licht. / Flügel umflattern dich / wie Staub aus Blau und Gold und Rosa, / wie schwebender Glanz und Glitzer, / Zartheit umhüllt dich, umkreist dich, / deine Flügel entfalten sich wieder, klappen auf und zu / und steigen grenzenlos ins Weite. / Deine geschlossenen Lider, Engel, / bedeckt ein Grabtuch / aus Schmetterlingen.«

Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen. Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi. Pandragon Verlag 2022. 168 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.


Ja, was wiegt eigentlich Luft und was Gesang? Und müssen Traumtiere irgendwann (zurück?) in den Zoo? Der Berliner Lyriker Nico Bleutge sprengt in seinen »schlafbaum-variationen« die Grenzen des Erfahrbahren und öffnet einen Sprachraum, der utopisch mit den Kräften spielt. Etwa wenn er von »hundert arten von flug« schreibt, »in die du kriechen kannst« oder »laute zu farben« werden, um neue Räume der Imagination zu erschließen. Was im ersten Moment wie Weltflucht klingt, ist eine Schule der Wahrnehmung, in der Bleutge Erinnerung und Momentaufnahme, Geschichte und Gegenwart, Welt und Geist miteinander zu verschränken sucht.

In dem Zyklus »besuche im klinikum« geht er dem Verlust des Vaters nach und gräbt tief in Kindheitserinnerungen, die Bilder des »jungen mit cowboyhut / der in der dampflok sitzt« evozieren, die wieder den Blick des Sterbenden spiegeln und ihn damit in der Welt halten. Der Blick wird in diesen Zeilen weit, taucht tief in die eigene Geschichte und öffnet sich hin zu den Sternen, die hier wie das Leben »mit einem schnellen / wischen« verschwinden.

»kommt fieber in schwärmen? jeder vogel trägt / einen lichtpunkt im schnabel. zehntausend elstern / zur brücke gefaßt. mit mücken gestrasst, ein speichern / dieser temperatur, zahllos, blühend weiß / in wiegender luft. was wiegt luft? wenn sie leer / ist vom singen (gesang), vom summen / loser folgen, bis der schlaf einfällt.«

Nico Bleutge: schlafbaum-variationen. Verlag C.H.Beck 2023. 117 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.


Marius Hulpe pendelt im Leben zwischen Berlin und Soest, in seinem Gedichtband »Monument für die Vergessenen« bereist er die Welt. Seine lyrische Stimme bewegt sich nach Afghanistan, Australien und Kiribati, um von den Verheerungen zu erzählen, für die vor allem der so genannten Westen verantwortlich ist. In Kabul schaut er einem Mädchen »vom sofa, digital, beim überleben« zu und in Kiribati wissen die Menschen längst, dass sie »die ersten, die verschwinden« sind.

Hulpe hat 2019 seinen Debütroman »Wilde grüne Stadt oder Im Labyrinth des entwurzelten Lebens« vorgelegt, in dem er das Schicksal eines jungen Iraners verfolgt, der als Spion des Schahs in Westfalen landet und dort eine Familie gründet. Schon hier war der polyglotte Blick auf die Welt und die komplexen Zusammenhänge von Herkunft, Politik und Identität des Autors auffällig. Dies bestätigt sich nun in seiner Poetik. Hulpes prosaische Lyrik ist weltgreifend und höchst aktuell, verhandelt Kolonialismus und Klimawandel, Horror und Hybris. Wie ein Seismograf tastet Hulpe die Welt und die eigene Seele nach den Erschütterungen ab, um das eigene lyrische Ich in der Gegenwart zu verorten.

»war ein mädchen im verschwinden noch / nicht von geschichte mitgerissen, eben / biss sie noch ins mikrofon & platzte / fast vor freiheit. jetzt erinnert sie sich / an die stunden, in den seminaren, auf / die jetzt der tod steht. sie hockt / meist in den kellern, dunklen winkeln, um / kein aufsehen zu erregen. ich schaue / ihr vom sofa zu, digital, beim überleben.«

Marius Hulpe: Monument für die Verlassenen. Elif Verlag 2022. 128 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

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