Literatur, Lyrik, Roman

Eindrucksvolle Auswahl für den Leipziger Übersetzerpreis

Die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse beweist, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht hat. Statt großer Namen und dicker Titel stellt sie in der Kategorie Übersetzung fünf Titel ins Schaufenster, die wohl die wenigsten auf dem Schirm hatten. Statt auf die vermeintliche Bedeutung tragender Werke lenkt die Jury den Blick auf die facettenreiche Kunst des Sprach- und Kulturtransfers. Ein Überblick der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Übersetzungen.

In der Kategorie Übersetzung überrascht die Jury mit einer erfrischend abwechslungsreichen und jungen Auswahl. Mit der 1986 geborene Romanistin Katharina Triebner-Cabald, die den aufregenden Dekolonialisierungsroman »Vertraulichkeiten« des Kameruners Max Lobe in ein mitreißendes Pidgin-eingefärbtes Bassa-Deutsch übertragen hat, und der 1981 geborenen Lateinamerikanistin Johanna Schwering, die den eigenwilligen Coming-of-Age-Roman »Die Cousinen« der argentinischen Autorin Aurora Venturini entschlossen gegen die sprachliche Korrektheit übersetzt hat, bekommen zwei junge Übersetzer:innen die verdiente Aufmerksamkeit. Die Philologin Nicole Nau ist für ihre mitreißende Übertragung des lettischen Klassikers »Das Bett mit dem goldenen Bein« von Zigmunds Skujins nominiert. Außerdem können sich die mehrfach ausgezeichnete Lyrikerin Brigitte Oleschinski sowie die Trägerin des Deutschen Buchpreises von 2021 Antje Rávik Strubel Hoffnungen auf eine Auszeichnung machen.

Kommentar zu den Nominierungen für den Preis der Leiziger Buchmesse

Max Lobe: Vertraulichkeiten. Aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald

Zweifellos ist Max Lobes Roman »Vertraulichkeiten« aus dem erst 2020 gegründeten und 2022 mit dem Sächsischen Verlegerpreis ausgezeichneten Indieverlag akono aus Leipzig die größte Überraschung im Wettrennen um den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung. Der 1986 in Kamerun geborene Schriftsteller Max Lobe lebt seit einigen Jahren in Genf. Sein dritter Roman »Vertraulichkeiten«, 2017 ausgezeichnet mit dem Ahmadou-Kourouma-Preis der Genfer Buchmesse, wurde von Katharina Triebner-Cabald leichtfüßig und spielerisch ins Deutsche übersetzt. Nachdem die 37-Jährige zuvor seinen Zweitling »Drei Weise aus dem Bantuland« ins Deutsche übertragen hat (bei litprom gibt es eine lesenswerte Kurzkritik zu diesem Roman), ist sie mit ihrer erst zweiten literarischen Übertragung gleich für einen der wichtigsten Preise für Übersetzungsleistungen im deutschsprachigen Raum nominiert.

Max Lobe: Vertraulichkeiten. Aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald. Akono Verlag 2022. 268 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

In »Vertraulichkeiten« reist der Ich-Erzähler namens Max Lobe »von mir dort, von den Weißen« an seinen Geburtsort zurück, wo er die alte Mâ Maliga aufsucht. Von ihr will er authentische Erinnerungen an die Unabhängigkeitsbewegung in Kamerun und deren charismatischen Anführer Ruben Um Nyobè bekommen. »Dokta Maliga« ist eine ebenso gesprächige wie gewitzte Frau, deren Zunge umso lockerer wird, je mehr »Matango« (Palmwein) sie ihre Kehle herunterlaufen lässt. Immer etwas beschwipst (»…aber jetzt-jetzt-jetzt trink erstmal!«), aber niemals leichtfertig erzählt sie ihm von der brutalen Kolonialzeit der »Jamans« (Deutschen), die nach dem zweiten Weltkrieg von den »Poulassi« (Franzosen) und den »In’glissi« (Engländern) abgelöst werden, für die nicht wenige in den Krieg zogen. Maligas gut bestückter Onkel kam etwa verrückt aus Vietnam zurück, andere mit der Idee der Freiheit.

Wie und mit welchen Entbehrungen um die Unabhängigkeit gekämpft wurde, davon erzählt dieser fulminante Roman in einer afrikanisierten Kunstsprache, die die Volkssprache Bassa in Rhythmus und Redewendungen aufgreift. »Vertraulichkeiten« ist aber auch das umwerfende Porträt einer Frau, die sich mit einer lebhaften Mischung aus Lebensweisheit, Trotz und Humor durch Zeiten schrecklicher Gewalt gerettet hat. Lobes Erzählung greift die mündliche Tradition der Überlieferung afrikanischer Geschichte(n) auf, die deutsche Übersetzung von Katharina Triebner-Cabald den rollenden Rhythmus, koloniale Sprachfetzen und ein angenehm trunkenes Schwanken, das zu keinem Zeitpunkt die Ernsthaftigkeit dieser dekolonialen Befreiung des Geistes infrage stellt.

Begründung der Jury: »Katharina Triebner-Cabald lässt in ihrer Übersetzung die deutschsprachigen Leser*innen an einem Stück kamerunischer Geschichte und den fatalen spätkolonialen Spuren Deutschlands darin teilhaben. Für die melodiöse und humorvolle Oralität der Stimme von Mâ Maliga und die pointierten Beobachtungen des Ich-Erzählers hat Katharina Triebner-Cabald überzeugende deutsche Entsprechungen gefunden.«


Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen. Aus dem Arabischen von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi

»Wenn Lina Atfah ihre Gedichte auf arabisch rezitiert, ist für Ohren, die kein Arabisch verstehen, trotzdem ein Klangwunder zu hören: ein schwingender Rhythmus und die dichte Verflechtung von wiederkehrenden Lautmustern, deren Vokale und Konsonanten eine unwiderstehliche Melodie erzeugen. Die in diesen Lautmustern atmende Stimme entfaltet Resonanzen, die unter den erfassbaren Wortbildern durchtauchen oder darüber aufsteigen, sie berühren auch im Nichtverstehen«, schreibt Brigitte Oleschinski in ihren Anmerkungen zur Nachdichtung der arabischen Verse von Lina Atfah.

Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen. Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi. Pendragon Verlag 2022. 168 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Die 1989 in Syrien geborene Poetin konnte 2014 aus Syrien ausreisen und lebt seitdem im westfälischen Wanne-Eickel. Ihr Gedichtband »Grabtuch aus Schmetterlingen« ist nach dem mit dem LiBeraturpreis 2020 ausgezeichneten »Buch von der fehlenden Ankunft« die zweite deutsche Publikation, in der wir nur ahnen können, was es heißt, wenn Brigitte Oleschinski dem Gedankenbogen folgt, wenn Form und Inhalt im Arabischen nicht zu trennen sind. Dass man dies nicht merkt, sondern ganz anvertraut der lyrischen Stimme in diesen Gedichten folgt, die von Krieg und Flucht, Heimat- und Bedeutungsverlust, aber auch von Einsamkeit in Corona-Zeiten, dem Anstehen vor dem Berghain oder und den lüsternen Biestern im Bauch erzählt, zeigt, mit welch großer Einfühlsamkeit die Kölner Lyrikerin vorgegangen ist.

»Ich komme zu dir zurück / … / befreit von allem Groll« heißt es im ersten Gedicht »Rückkehr«. Gemeint ist nicht Syrien, sondern wohl schlicht und einfach die Sprache, die Lina Atfah über alle Trauma hinweg gerettet hat. Die Peter-Huchel- und Erich-Fried-Preisträgerin Brigitte Oleschinski gibt ihrer Zunge einen deutschen Klang, so dass wir hier nicht nur einer jungen syrischen Dichterin im Exil begegnen, sondern einer vielversprechenden neuen deutschen Stimme.

Begründung der Jury: »Die aus Syrien nach Deutschland geflüchtete Autorin Lina Atfah hat mit Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi eine Nachdichterin und einen Übersetzer gefunden, die der Kraft, dem Reichtum und der Wärme ihrer Gedichte gerecht werden. Der Lyrikband “Grabtuch aus Schmetterlingen” öffnet das Tor zu ihrer besonderen Art der Wahrnehmung zwischen den Kulturen.«


Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet. Aus dem Schwedischen von Antje Rávik Strubel

Dieser Roman ist eine »grandiose Entdeckung«, schrieb Antje Rávik Strubel bei Zeit-Online. Nun gut, was soll die Übersetzerin auch anderes über das von ihr übertragene Buch sagen. Tatsächlich aber gehört die finnlandschwedische Monika Fagerholm zu den bedeutendsten Autor:innen Skandinaviens. Nachdem sie 1994 schon mit dem Runeberg Preis und 2005 mit dem August-Preis ausgezeichnet wurde, erhielt sie vor drei Jahren für den furiosen Roman »Wer hat Bambi getötet« den wichtigsten skandinavischen Literaturpreis, den Literaturpreis des Nordischen Rates.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet. Aus dem Schwedischen von Antje Rávik Strubel. Residenz Verlag 2022. 256 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Gruppe verwöhnter Jugendlicher und ihr grausames Verbrechen, dem Fagerholm aller Doppelmoral, Lügen und Schweigegelübde zum Trotz schonungslos nachgeht. Mit reportageartigen Rückblicken, filmischen Blenden und unterschiedlichen Perspektiven schafft sie eine erzählerische Anordnung der Ereignisse, die die Vertuschungsstrategien einer Gesellschaft, die ihre eigenen Abgründe mit Schweigen bedeckt, entlarven.

Den schrecklichen Grausamkeiten, die dabei aufgedeckt werden, steht eine spielerische Sprache gegenüber, die mal tanzend, dann wieder stürmisch den Verhältnissen den Kampf ansagt. Der vermeintlichen Idylle, in der diese Geschichte spielt, stellt die deutsche Übertragung von Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel eine mal raue, kantige und kratzige Prosa gegenüber, die wie ein lauter Schrei in die scheinheilige Stille des beredten Schweigens fährt. Die Schönheit der Sprache wird hier aufgelöst in rotzige Sätze und abgehackte Zeilen. So wird die Verletzung der Seele sichtbar, die das brutale Verschweigen der neoliberalen Wirklichkeit bei den Opfern hinterlässt.

Begründung der Jury: »Fagerholms Gesellschafts- und Medienkritik zieht diverse Sprachregister und arbeitet mit rasanten Tempo-Wechseln. Genau das ist die Herausforderung an die Übersetzung, und darüber hinaus: Jeder Episode und jeder Figur ihren eigenen präzisen Ton zu geben und zugleich alles zu einem Gesamtkunstwerk zu fügen, dem eine Grundambivalenz erhalten bleibt. Die Verunsicherung der Lesenden bei gleichzeitiger Souveränität der Erzählhaltung ist die Stärke des Romans und muss auch die Übersetzung leisten.«


Zigmunds Skujins: Das Bett mit dem goldenen Bein. Aus dem Lettischen von Nicole Nau

In dem lettischen Küstenort Zunte ist Ende des 19. Jahrhunderts die Welt noch in Ordnung. August Vejagals bestellt mit seiner Frau den Boden des elterlichen Hofs, während es seinen Bruder Noass aufs Meer und in ferne Länder zieht. Seine Frau lässt der Abenteurer zurück, die sich daraufhin mit seinem stillen Bruder einlässt. Das Schicksal wird diese heimliche Verbindung strafen, aber an Kindern mangelt es in diesem Familienroman wahrlich nicht. Noass häuft als Seefahrer Reichtümer an, um der Familie ein großes Stadthaus zu bauen. Dabei hätte er klüger sein können. Denn was nützt Reichtum, wenn seine Kinder und Kindeskinder dem Lockruf von Welt und Leben folgen. Zurück bleibt ein verlassenes Anwesen mit einem geheimnisvollen Bettpfosten.

Zigmunds Skujins: Das Bett mit dem goldenen Bein. Aus dem Lettischen von Nicole Nau und mit einem Nachwort von Judith Leister. Mare Verlag 2022. 608 Seiten. 48,- Euro. Hier bestellen.

Zigmunds Skujins großes Epos erstreckt sich über mehrere Generationen und besegelt dabei kühn die Höhen und Tiefen der lettischen Geschichte. Dabei erzählt Skujins facettenreich und spielerisch vom wechselvollen Schicksal des lettischen Volkes. Die politische Fremdbestimmung bildet dabei einen Rahmen, in dem das Bild einer weit verzweigten Familie und ihr Schicksal gezeichnet wird. Die Liebe schlägt dabei ähnlich fatale Volten wie die Politik, aber die Vejagals machen trotzig weiter.

Mit viel Hingabe zum Detail hat Skujins, der vor einem Jahr im Alter von 95 Jahren gestorben ist, die Figuren seines erfolgreichsten Romans ausgestattet. In ihren Lebensläufen legt er ihre fatale Menschlichkeit an. In der hervorragenden Übertragung von Nicole Nau, Professorin für Lettische Philologie an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan und Mit-Autorin der Website lettland lesen. Lettische Literatur in deutscher Übersetzung, spiegelt sich sein feiner Sinn für Ironie und Humor, der dieser packenden und bibliophil verpackten Geschichte eine unheimliche Leichtigkeit gibt.

Begründung der Jury: »Nicole Nau hat den im Original 1984 erschienenen Roman in ein lautmalerisch üppiges Deutsch übertragen. Beginnend im 19. Jahrhundert umspannt die lettische Saga fast das ganze 20. Jahrhundert und erzählt ebenso wirklichkeitsnah wie zauberhaft die “Legende einer Familie”. Dank Nicole Nau verfügt der schelmische Erzähler über einen überbordenden Wortschatz; mal derb, mal zart, stets aber ungeheuer fleischlich.«


Aurora Venturini: Die Cousinen. Aus dem Argentinischen von Johanna Schwering

In dem Frauenhaushalt, von dem die junge Yuna in dem Coming-of-Age-Roman »Die Cousinen« erzählt, herrscht eine unterkühlt-aggressive Atmosphäre. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter ist allein für die Ich-Erzählerin und ihre schwer behinderte Schwester verantwortlich. Das Geld ist knapp, die Liebe noch mehr, Solidarität in dieser Welt ein Fremdwort. Dazu kommt, dass auch Yuna und ihre sonderbaren Cousinen Makel haben, sie sie zu Sonderlingen machen. »Wir waren nicht gewöhnlich, um nicht zu sagen, nicht normal.« Neben dem stets griffbereiten Rohrstock der Mutter und der Klapsmühle droht ständig die männliche Lust, die immer bestimmter in Yunas Leben im argentinischen La Plata der 1940er Jahre eindringt.

Aurora Venturini: Die Cousinen. Aus dem Argentinischen von Johanna Schwering. Dtv-Verlag 2022. 192 Seiten. 18,99 Euro. Hier bestellen.

Im Alter von 85 Jahren hat die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini mit diesem Roman im Jahr 2007 ihr preisgekröntes Debüt vorgelegt, das in all seiner eigensinnigen Pracht dank der im besten Sinne entschlossen-befleckten Übersetzung der 1981 geborenen Johanna Schwering nun auch hier zu entdecken ist. Denn der deutsche Text liegt nahezu ohne Punkt und Komma, mit Schreibfehlern und Auslassungen vor dem Auge. Der Grund ist simpel: Rechtschreibung und Grammatik lassen die stotternde Erzählerin ohnehin nur stolpern. Also weg mit den Feinheiten. So macht sich Yuna frei von den gesetzten Grenzen von Welt und Sprache, erobert sich über die Malerei neue Sphären und mithilfe von Wörterbüchern eine ganz eigene Redegewandtheit.

Aurora Venturinis Roman »Die Cousinen«, gerade auf Platz 1 der Weltempfänger-Bestenliste gehoben, ist eine Art moderner feministischer Klassiker, voller kranker, besessener und misshandelter Frauen, die allzu schnell den Stempel des Anormalen erreicht, wie man es zuletzt auch in Christina Morales »Leichte Sprache« lesen konnte. Hier blickt eine scharfsinnige Frau auf ihr Leben und ermächtigt sich ihrer Sprache und Geschichte, um der sie umgebenden Gewalt zu entkommen.

Begründung der Jury: »Die Art-brut-Künstlerin Yuna schreibt sich mit Hilfe eines Wörterbuches aus ihrer, wie sie selbst sagt, “Minderbemitteltheit” heraus und findet dabei zunehmend eine Sprache für die von Dumpfheit, Armut und Missbrauch geprägten Familienverhältnisse. Dieser harte, dabei aber niemals zynische Roman braucht die kongeniale Übersetzung, weil er die Aufklärung in der sprachlichen Entwicklung der Erzählerin bis in die Kommasetzung hinein konkret vorführt.«

3 Kommentare

  1. […] mit ihrem Roman »Laufendes Verfahren« über den NSU-Prozess, und Clemens J. Setz, im Rennen mit seinem bereits für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Querdenker-Roman »Monde vor d…, ist die Nominierung eine Premiere. Sherko Fatah war bereits 2008 mit seinem Roman »Das dunkle […]

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