Film

Intellektuell oder moralisch defekt?

Wie haben Erich Kästner, Gottfried Benn und Hans Fallada eigentlich im Dritten Reich gelebt? Dominik Graf geht in seinem neuen Dokumentarfilm »Jeder schreibt für sich allein« dem Denken, Schreiben und Leben deutscher Schriftsteller:innen in der Nazizeit auf den Grund.

Man wundert sich schon manchmal, welchen Büchern und Filmen Aufmerksamkeit zuteilwird und welchen nicht. Der Schriftsteller und Musiker Anatol Regnier hat 2020 im Verlag C.H.Beck ein Buch über »Schriftsteller im Nationalsozialismus« verfasst, das zwar von allen Feuilletons aufgegriffen wurde, dennoch aber keinen nachhaltigen Eindruck in der deutschen Literaturlandschaft hinterlassen hat. Oder können Sie sich an kritische Reflektionen von Gottfried Benns Agieren an der Spitze der literarischen Sektion der Akademie der Künste erinnern? An deutliche Töne zu einer Auftragsarbeit von Erich Kästner für Propagandaminister Joseph Goebbels oder ein verschwundenes, mutmaßlich antisemitisches Romanskript von Hans Fallada? Wenn nicht, geht es Ihnen wie dem Autor dieses Textes. Dabei steht all das in dem vor drei Jahren erschienenen Buch »Jeder schreibt für sich allein« von Anatol Regnier, Sohn der deutschen Schauspielerin und Sängerin Pamela Wedekind und Enkel des Dramatikers Frank Wedekind.

Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein. Verlag C.H.Beck 2020. 366 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen.

Bei Dominik Graf hat Regniers Buch einen stärkeren Eindruck hinterlassen. In seinem fast dreistündigen Dokumentarfilm geht der Münchener Regisseur gemeinsam mit dem 78-jährigen Autor den Geschichten in seinem Buch nach. Sie wühlen im Literaturarchiv in Marbach, reisen ins Hotelzimmer von Klaus Mann nach Frankreich oder ins Fallada-Haus in die Uckermark, um dem Leben und Schreiben bedeutender Autor:innen im Dritten Reich auf den Grund zu gehen.

Alles beginnt mit Heinrich Mann, der nach der Unterzeichnung eines regimekritischen Aufrufs als oberster Literat in der Akademie der Künste abgesägt und von Gottfried Benn ersetzt wurde. Der war zeitweise Feuer und Flamme für den neuen Geist, der mit dem Hitlerregime Einzug erhalten hat. In seiner Kampfschrift »Der neue Staat und die Intellektuellen« agitierte der Sohn eines evangelischen Pfarrers gegen seine eigene Zunft, gegen die Denker und Schreiber, denen er eine Hybris unterstellte, die ihn vor allem selbst befallen hatte.

»Welch ein intellektueller Defekt, welch ein moralisches Manko, kann man schon an dieser Stelle hinzufügen, nicht den Blick der Gegenseite über die kulturelle Leistung hinaus, nicht in ihrem großen Gefühl für Opferbereitschaft und Verlust des Ich an das Totale, den Staat, die Rasse, das Immanente, – nicht in ihrer Wendung vom ökonomischen Kollektiv zum mythischen Kollektiv, in diesem allen nicht das anthropologisch tiefere zu sehen!«, schrieb er als glühender Anhänger des Nationalsozialismus in seinem Pamphlet. Als ihm Klaus Mann aus dem französischen Exil schreibt, dass er nicht glauben könne, was er von und über Benn lese, antwortet er wirsch, »dass nur die, die es [den Nationalsozialismus in Deutschland, A.d.A.] erleben« auch beurteilen könnten, aber nicht jene, die geflohen seien.

Mit dieser Geschichte beginnt Grafs Film und an ihr lässt sich gut das Vorgehen des Filmemachers veranschaulichen. Denn der Film befragt sowohl historische Zeugen wie Kulturschaffende in der Gegenwart, um eine zusätzliche Ebene der Reflektion einzuziehen, die da offensichtlich bislang fehlte. Denn die Benn-Rezeption ist überwiegend positiv, dem Werk des Schriftstellers ergeben. Der unpolitische Benn, den sich viele in Erinnerung halten, ist aber eine Erfindung, wie Graf und Regnier zeigen. Das räumen auch die Schriftstellerin Gabriele von Arnim oder der im Januar verstorbene Historiker Christoph Stölzl ein, die Benn viele Jahre gern gelesen haben und immer noch fassungslos auf diese »ganz schäbige Geschichte« um die Akademie der Künste blicken. Zwar distanzierte sich Benn später von seiner Nazi-Begeisterung, dennoch ist es befremdlich, den glühenden Hitler-Verehrer der ersten Stunde 1951 den Büchner-Preis entgegennehmen zu sehen.

Anatol Regnier bei seiner Recherche zu »Jeder schreibt für sich allein« | © Markus Schindler. Lupa-Film/Piffl Medien

An den Texten, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstanden und publiziert worden sind, klebe »ein Geruch von Blut und Schande«, soll der im amerikanischen Exil lebende Thomas Mann gesagt haben. Anatol Regnier geht nicht ganz so hart mit den Autor:innen ins Gericht, aus der Retrospektive sei es immer einfacher, ein anderes Verhalten zu fordern. Er aber habe herausfinden wollen, wie es sich für Schreibende angefühlt hat, im für eintausend Jahre angekündigten Reich zu leben, zu denken und zu schreiben. »Heute wissen wir, dass die Nazi-Zeit zwölf Jahre ging«, sagt er im Film. Damals hätten viele gedacht, dass es länger geht und sich irgendwie mit dem Regime arrangiert.

Bedingen ästhetische Positionen nicht auch politische Haltung? Oder weniger abstrakt: Muss ein guter Dichter ein anständiger Mensch sein? Diese Fragen stellt »Jeder schreibt für sich allein« anhand zahlreicher Autor.innen, die nicht ins Exil gegangen, sondern in Deutschland geblieben sind und deren Werke oft noch jahrzehntelang die vordersten Reihen deutscher Bücherregale geschmückt haben. Erich Kästner und seine Kinderbücher waren in Ost und West gleichermaßen unhinterfragt, Hans Fallada war in der DDR alles andere als ein Unbekannter, Ina Seidel, Hans Jost und Will Vesper (langjähriger Lektor des C.H.Beck-Verlags, in dem Anatol Regniers Buch erschien) in der BRD.

Eine der ambivalentesten Figuren ist dabei Erich Kästner, von dem übermittelt ist, dass er in Berlin der Verbrennung seiner eigenen Bücher als heimlicher Zaungast beigewohnt hat und zugleich ein Drehbuch im Auftrag von Joseph Goebbels verfasst haben soll. Der in seinem autobiografischen »Fabian«-Roman, den Graf zuletzt als dreistündiges Kaleidoskop großartig verfilmt hat, den Zerfall der Menschlichkeit dokumentierte und der zugleich in Deutschland blieb, um zwölf Jahre lang schweigend dem Nazi-Terror beizuwohnen. Und der Zeilen wie »Ich bin der Dichter, der Euch anfleht und beschwört, ihr seid das Volk, das nie auf seine Dichter hört« schrieb.

Aber es gab wenig zu hören von den Dichtern, die in Deutschland blieben. Viele beriefen sich auf ein »inneres Exil«, in das sie sich zurückgezogen hätten. Sie zogen sich ins Private zurück, so wie Hans Fallada, der in sein Carwitzer Haus in der Feldberger Seenlandschaft zog und dort abseits der Weltpolitik vor sich hin schwieg. Anatol Regnier entdeckte bei seinen Recherchen einen Auftrag des Propagandaministeriums, das einen Roman über den jüdischen Kaufmann Iwan Baruch Kutisker von Fallada wollte. Kutisker war in der Weimarer Republik in einen Finanzskandal verwickelt, eine ebenso willkürliche wie ideale Vorlage für einen antisemitischen Propagandaroman. Das Manuskript des Romans ist verschwunden, wie schuldig sich Fallada hier gemacht hat, ist unklar. Wenngleich er später deutliche Texte gegen den Nationalsozialismus verfasst hat, sei er »kein besonders mutiger Autor« gewesen, heißt es im Film.

Die Lyrikerin und Autorin Ina Seidel, Trägerin des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland und des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises, hatte keine Berührungsängste gegenüber dem Hitlerregime. Schon im Oktober 1933 unterzeichnete sie das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler. Als der Krieg 1939 längst tobte, hielt sie ganz pragmatisch fest: »Wir wollen an unsere Arbeit gehen.« Ihr Roman »Das Wunschkind« fehlte in kaum einem Nachkriegshaushalt.

Hans Jost, Will Vesper, Jochen Klepper, Waldemar Bonsels, Hans Grimm – Regnier und Graf gehen unzählige Namen durch, blättern in ihren Schriften, weisen die Nähe zum Dritten Reich oder zumindest dessen billigende Hinnahme nach. Das alles wäre in der Masse schwer zu ertragen, würde Graf seine Dokumentation nicht klug zum Fiktionalen hin öffnen, etwa wenn er imaginiert, dass sich all die verstorbenen Autor:innen nachts in einer geschlossenen Buchhandlung begegnen und sich noch einmal über ihre Texte beugen. So bringt er Luft in die enge Geschichte, Leben in die schiefen Texte und stellt die Möglichkeit einer Selbstkorrektur in den Raum.

Kommentierend lässt Graf heutige talking heads zu Wort kommen. Der Kunsthistoriker und Literaturexperte Florian Illies, die Kunsthistorikerin Julia Voss, die Schriftstellerin Gabriela von Arnim, der Filmemacher Günther Rohrbach oder der jüngst verstorbene Historiker Christoph Stölzl kommentieren immer wieder Texte und Leben der Schriftsteller:innen, deren widersprüchliche Existenzen Regnier und Graf in das Zentrum dieses Filmes stellen. Sie ordnen ein und suchen nach einer Logik zwischen Zeiten, die immer wieder erschrecken und zusammenzucken lassen.

Der Film hallt vor allem nach, weil er nachweist, wie unproblematisch diese ganzen Verwicklungen mit dem Nazi-Regime nach dessen Ende ignoriert und toleriert wurden. Es war erst die Generation der 68er, hier in Gestalt von Will Vespers Sohn Bernward und dessen Roman »Die Reise« thematisiert, die dies kritisch betrachtete. Wieviel dabei unter der Decke blieb, macht die Existenz von Buch und Film deutlich.

Am Ende öffnet sich der Film zur Gegenwart, indem er die Extreme im Umgang mit der belasteten Geschichte dieser Autor:innen zeigt. Da sind einerseits die Beschwichtigungen, die versuchen, Dinge unter den Teppich zu kehren, und andererseits die Problematisierungen, die in ihrer Hybris jede Differenzierung vergessen lassen.

Dominik Graf: Jeder schreibt für sich allein. Lupa Film 2023. 167 Minuten.

»Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?«, fragt die Schriftstellerin und Journalistin Gabriele von Arnim zu Beginn von Dominik Grafs aufwühlenden Film, der im Sommer in die Kinos kommen soll. Eine Frage, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Dass die Berlinale sie dennoch nicht stellen wollte und der Film deshalb nur in der vorgelagerten Woche der Kritik 2023 lief, ist dann wieder eine andere Geschichte der Mutlosigkeit.