Literatur, Roman

»Papa, ich habe über Dich geschrieben«

Manchmal ist weniger mehr. Ein Gespräch mit Dilek Güngör über ihren zwar schmalen, aber unheimlich dichten Roman »Vater und ich«, die Bedeutung von Herkunft sowie die Sehnsüchte und Hoffnungen einer Tochter.

Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Vater getroffen und wie lief das ab?
Als das Buch gerade rausgekommen war, hatte ich meine Eltern besucht. Der Verlag hatte ihnen eine Handvoll Exemplare geschickt. »Wenn Du in Schwäbisch Gmünd liest, dann muss ich aber nicht mit«, war das Einzige, was mein Vater zu dem Buch gesagt hat. Ich nehme an, dass er keine Sorge hat, dass da etwas drin steht, was ihm unangenehm werden könnte.

In Kolumnen und Büchern haben Sie immer wieder über Ihre Familie geschrieben. Wie autobiografisch ist denn »Vater und ich«?
Das Bedürfnis, mit meinem Vater reden zu wollen, aber nicht zu wissen, wie, ist autobiografisch, der erzählerische Rahmen ist fiktiv. Ich dachte darüber nach, was passieren müsste, damit Vater und Tochter ins Gespräch kommen könnten, und mir war schnell klar, dass dafür beide allein sein müssen. Damit sie keine Ausweichmöglichkeiten haben. Ich hab diese Geschichte schon als Drehbuch, als Theaterstück und sogar als Road-Novel geschrieben, in der beide im Auto in die Türkei fahren. Aber ich hatte keine Lust auf diesen Roadtrip. Also habe ich nur das erzählt, was ich wirklich erzählen wollte. Deshalb fahren beide auch nirgendwo hin, sondern sind einfach ein Wochenende lang allein im Haus der Eltern.

Daraus ist ein dichter Text über Ihre Ich-Erzählerin Ipek und ihren Vater geworden. Eine typische Vater-Tochter-Beziehung?
Wenn ich mich so umsehe, dann sehe ich viele Töchter, die gar nicht mit ihren Vätern reden, und andere, die ein ganz inniges Verhältnis zu ihrem Vater haben. Ich glaube, es gibt keine typische Vater-Tochter-Beziehung. Typisch an meiner Geschichte ist der Umstand, dass Eltern und Kinder irgendwann nicht mehr so nah sind. Meine Eltern sind zum Beispiel über meinen Alltag informiert, aber was wirklich in mir vorgeht, erzähle ich ihnen nicht.

Ihr Roman beginnt mit dem Satz »Du brauchst nicht zu kommen.«
Ein Satz, der alles mögliche heißen kann. Es braucht eine gemeinsame Basis, um den zu verstehen. Und Ipek kennt ihren Vater gut genug, um ihn einordnen zu können. Sie weiß, dass er nicht derjenige ist, der sagt, komm doch mal wieder vorbei. So ist er nicht.

Stimmt, Ipeks Vater ist einer, der den Kofferraum per Knopfdruck öffnet, während er im Auto sitzen bleibt.
(Lacht) Ja, aber sie nimmt ihm das nicht übel. Beide mögen sich, mit all den Eigenheiten, die sie haben. Ja, er parkt so blöd, dass sie erstmal mit dem Koffer hinter dem Auto her laufen muss. Aber so ist er halt. Es ist ein großer Vertrauensbeweis, das man jemanden so annimmt, wie er ist.

Ipeks Kindheit wird als Zeit der Unbefangenheit und der Nähe zum Vater beschrieben. Mit der Pubertät geht diese Nähe verloren. Ich habe mich dabei ertappt, über kulturelle Gründe dafür nachzudenken.
Man denkt ja schnell, das muss an »der Kultur« liegen. Aber wenn ich mir meine Cousins und ihre Töchter anschaue, sehe ich da ein viel innigeres Verhältnis. Zwischen Ipek und ihrem Vater besteht einfach eine ganz individuelle Beziehung. Und Ipek versucht herauszufinden, was diese Beziehung prägt. Ist es wirklich nur die Tatsache, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist, das mit seinem Papa baden kann? Oder ist da noch etwas anderes. Indem sie sich befragt, merkt sie, dass es auch sprachliche Schwierigkeiten gibt, unterschiedliche Lebenswelten und andere Prioritäten. Und so legen sich immer mehr Dinge um den Gedanken, dass es kulturelle Gründe haben könnte.

Dilek Güngör: Vater und ich. Verbrecher Verlag 2021. 104 Seiten. 19,00 Euro. Hier bestellen.

Herkunft spielt wie schon bei »Ich bin Özlem« eine wichtige Rolle. Welche Bedeutung haben neben Geografie auch Klasse oder Bildungswege?
Manchmal eine ganz große, manchmal aber auch gar keine. Ich habe oft das Gefühl, dass Bildung überbewertet wird. Meine Bildung und das, was ich gelernt habe, ist für die Außenwelt, aber nicht für zu Hause. Wenn ich mit meinen Eltern zusammensitze und esse, brauche ich das nicht. Ich habe meine Eltern aber auch immer als unheimlich aufgeschlossene, großzügige Menschen erlebt, die sehr reflektiert sind. Und das, obwohl sie nur vier Jahre auf der Grundschule waren. Auf Bildung allein kommt es eben nicht an.
Ipek wünscht sich einen engeren Draht zu ihrem Vater und würde gern mehr von ihrem Leben mit ihm teilen. Kennen Sie das aus eigener Erfahrung?
Ich finde die Vorstellung schön, ich könnte zu meinen Eltern gehen und sagen, »Ich habe ein Manuskript eingereicht, aber ich habe Angst, dass die das ablehnen.« Aber das kann ich nicht. Meine Mutter würde sofort anfangen, mich zu trösten. Ich will sie mit meinen unangenehmen Gefühlen nicht traurig machen. Also behalte ich das für mich. Aber wenn ich mal was erzähle, dann reagiert meine Mutter immer total offen. Dann denke ich mir, dass ich das viel öfter machen könnte.

Ipek entscheidet sich, ihre Eltern nicht mit ihren Sorgen und Nöten belasten zu wollen? Diese Erfahrung zieht sich wie ein roter Faden durch das, was als Migrationsliteratur bezeichnet wird. Bringt diese Literatur die gesellschaftliche Debatte voran oder sind wir nicht schon weiter?
Wir sind sicher in manchen Bereichen schon weiter. Aber so ist das immer. Shida Bazyar, Mithu Sanyal, ich und viele andere schreiben schon lange solche Geschichten. Für das große Publikum mag es so aussehen, als wären unsere Bücher aktuell, aber das sind sie immer. Es gibt da einfach eine große Ungleichzeitigkeit in den Milieus. In den einen werden diese Themen schon ganz differenziert behandelt und besprochen, in den anderen muss ich Fragen wie »Was sagt denn ihre Familie dazu, dass sie Schriftstellerin sind?« beantworten. Ich finde es gut, das es jetzt so eine große Bandbreite von Büchern gibt, die von unseren Erfahrungen erzählen. Darunter ganz laute Bücher, die Dinge einfordern, und stillere wie meines.

»Können wir wir selbst bleiben, den Abstand lassen und uns trotzdem nah sein«, fragt sich Ipek in ihrem Roman. Geht das, nah sein, ohne eine Sprache füreinander zu haben?
Ja, ich denke schon. Ich habe für den Roman über viele Dinge szenisch nachgedacht. Da sitzen Vater und Tochter beisammen und er schiebt ihr den Teller mit den Süßigkeiten näher. Für eine solche Geste braucht es keine Worte. Man kann zusammensitzen, fernsehen und dabei Chips mampfen. Das ist doch schön. Die Vorstellung, dass es Abend ist, man irgendwann ins Bett geht und das alles ist, was man noch vorhat, kann einem ein unheimlich schönes Gefühl von Zuhause geben. Auch ohne Worte.

Sie schildern dieses stille Zusammensein reduziert und zurückgenommen. Wie schwierig war es, eine Sprache für den Roman zu finden?
Ich bin kein so großer Denker beim Schreiben. Ich schreibe wie ich eben schreibe, und das passt offenbar ganz gut zu dieser Geschichte. Ich könnte mir keine Geschichte ausdenken und vornehmen, eine andere Sprache als die mir vertraute zu erfinden. Das fühlt sich für mich fremd an. Es ist vielleicht ein Glück, dass die Dinge, über die ich schreibe, so eng bei mir sind, dass ich meine Sprache benutzen kann.

Hat Sie die Nominierung für den Deutschen Buchpreis in Ihrem Schreiben bestärkt?
Ja, ehrlich gesagt schon. Man sagt ja immer, man sollte nicht soviel Wert auf die Wahrnehmung im Literaturbetrieb legen und sich auf seine Sachen konzentrieren. Aber das ist leichter gesagt als getan. Je mehr ich den Mut habe, meine eigenen Sachen zu machen, desto besser fühle ich mich damit. Natürlich hatte ich Zweifel, ob man etwas abgeben kann, das nur 100 Seiten hat. Aber dann kommt so eine Nominierung und bestätigt, dass das durchaus geht. Das freut mich sehr.

Haben Sie bedenken, wie Ihre Eltern dieses Buch lesen?
Nein. Vor fast zwanzig Jahren habe ich einige meiner fiktiven Vater-Tochter-Kolumnen aus der Berliner Zeitung binden lassen, damit mein Vater sie mal lesen konnte. Ich dachte, vielleicht wäre es ganz gut, wenn er weiß, was ich schreibe. Gebraucht hat er das nicht. Er war sich sicher, dass ich ihn nie bloßstellen würde. So ist es diesmal wohl auch. Ich hatte meinen Eltern das Manuskript geschickt, aber niemand meldete sich. Kurz vor dem Druck rief ich meinen Vater an. »Papa, ich habe da auch über Dich geschrieben. Willst Du da nicht mal ins Manuskript schauen?«. Er hat nur gesagt, »Die Mama liest es schon.« Dieses Vertrauen ist doch toll. In dem Buch steht aber auch nichts, worüber er sich Sorgen machen müsste. Es gibt nichts, was ich ihm vorwerfe. Im Grunde ist es eine große Liebeserklärung. Und ich glaube, das spürt mein Vater.

Eine kürzere Fassung des Interviews ist im tip Berlin 19/2021 erschienen.

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