Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis 2022. Damit zeichnet das Nobelpreis-Komitee eine der Favoritinnen auf den Preis aus. In wenigen Tagen erscheint Ernaux‘ neuestes Erinnerungswerk »Das andere Mädchen«, in dem sie einen Brief an die vor ihrer Geburt verstorbene Schwester schreibt.
Der Nobelpreis für Literatur 2022 geht an die Grande Dame der autobiografischen Literatur Annie Ernaux. Sie erhält ihn »für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, die Entfremdungen und die kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt«, teilte die Schwedische Akademie am 6. Oktober mit. Eine Entscheidung, die nicht nur beim Autor auf breite Zustimmung stößt.
Die 1940 geborenen Französin ist erst die 17. Frau, die den mit neun Millionen Schwedischen Kronen dotierten Literaturnobelpreis (ca. 830.000 Euro) in seiner über einhundertjährigen Geschichte erhält. An ein:e französische:n Autor:in wurde der Preis zum insgesamt 16 Mal vergeben. Der letzte französische Preisträger war 2014 Patrick Modiano.
Die französische Romancière wurde seit Jahren als eine der heißesten Anwärterinnen auf den Preis gehandelt, galt in diesem Jahr neben dem indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, dem ukrainischen Autor Andrej Kurkow und ihrem Landsmann Michel Houellebecq als Top-Favoritin. Mit der Entscheidung hat sich die Schwedische Akademie für die Literatur und gegen ein politisches Signal entschieden. Rushdie wäre als Solidarisierung gegenüber den im Iran in Lebensgefahr protestierenden Menschen wahrgenommen, der Ukrainer Kurkow oder ein:e oppositionelle:r russische:r Autor:in als Kommentar auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine verstanden worden.
Was nicht heißt, dass die Literatur der 82-jährigen Französin unpolitisch wäre. Ernaux hat seit den 1980er Jahren eine Form der schonungslosen und konzentrierten Erinnerungsliteratur geschaffen, die immer auch die politisch-soziologischen Dimensionen ihres Erlebens wie Klassismus, Geschlecht und Sexualität, aber auch gesellschaftspolitische Verhältnisse und Stimmungen mitdenkt und mitschreibt. Die Radikalität, mit der sie die eigene Erinnerung befragt, anreichert und hinterleuchtet, ist wegweisend – nicht nur für die französische Literatur. Andere Autor:innen Frankreichs wie Didier Eribon oder Édouard Louis haben sich von diese Art der »Literatur von unten« inspirieren lassen. Diese hat längst auch in Deutschland Fuß gefasst – etwa in den Werken von Autor:innen wie Christian Baron, Deniz Ohde, Dilek Güngör, Fatma Aydemir oder Marlen Hobrack.
In der kommenden Woche erscheint ein neues Buch von Ernaux in deutscher Übersetzung von Sonja Finck. »Das andere Mädchen« ist bereits 2011 in Frankreich erschienen. Darin reflektiert die 72-Jährige ihre Existenz als Nachgeborene einer größeren Schwester, die vor ihrer Geburt an Diphtherie gestorben ist. Davon erfuhr Ernaux zufällig bei einem Gespräch ihrer Mutter mit einer Nachbarin. Über diese Schwester wird sie von ihren Eltern nie wieder ein Wort hören und ihrerseits auch niemals nach der Verstorbenen fragen. Dieses unausgesprochene Schweigegelübde verleiht dem »anderen Mädchen« Gestalt und prägt die Autorin für ihr Leben.
Ihre deutsche Übersetzerin Sonja Finck sagte in einem Interview: »Bei Ernaux ist alles vom Tod her gedacht. Alle Bilder, die sie in sich trägt, werden verschwinden.« Ernaux’ Prosa ist dicht. Sie besteht aus knappen Absätzen, kurzen Sätzen, die so gehaltvoll nachklingen wie ein ganzes Oratorium. Ihr zentrales Werk, die kollektive Autobiografie »Die Jahre« verzichtet auf die Erste Person Singular und erzählt auf gerade einmal etwas mehr als zweihundert Seiten ein ganzes Leben, indem die Hauptfigur, die nicht einmal ICH sagt sagt, Fotografien, Ereignisse und Redewendungen, die sie umgeben haben, miteinander in den Dialog setzt. Das mediale Raunen, das daraus entsteht, wird zum gesellschaftlichen Rauschen, aus dem sich eine Biografie erhebt.
Das neue Buch, eines der vielen schmalen, aber hoch konzentrierten Werke aus der Feder der Französin, hat die Form eines Briefes, den sie an ihre Schwester schreibt. Ein Brief » von überwältigender Klarheit und zarter Traurigkeit, über Trennendes und Gemeinsames, über Kindheit und Geschichte und über Schicksalsschläge, die eine Familie auf immer verändern«, wie es in der Ankündigung des Buches heißt.
Das Leben und die Literatur der Französin bewegt spätestens seit dem letzten Jahr auch Cineast:innen. Audrey Diwans Verfilmung von Ernaux‘ autobiografischem Roman »Das Ereignis« gewann im vergangenen Jahr in Venedig den Hauptpreis und startete im Frühjahr in den deutschen Kinos. Seit Ende September ist der Film auch für das Heimkino erhältlich. Im Mai lief zudem beim Internationalen Filmfestival in Cannes zudem eine Dokumentation über Ernaux. »Les Années Super 8« hat die französische Autorin gemeinsam mit ihrem Sohn aus privaten Aufnahmen zusammengeschnitten. Die Dokumentation ist aktuell in der Arte Mediathek zu sehen.
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